Leere Todeszellen

Spektakuläres Abschiedsgeschenk

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Viel hatte er nicht mehr zu verlieren, zwei Tage vor der Pensionierung. In einer letzten großen Geste hat George H. Ryan, der ehemalige Gouverneur von Illinois, von seinem Privileg Gebrauch gemacht: Er begnadigte vier Todeskandidaten, die restlichen bestehenden 156 Todesurteile hob er auf.

Die meisten dieser Urteile wurden in lebenslange Freiheitsstrafen umgewandelt, ohne Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung. Von der Verfügung betroffen sind auch 12 weitere Häftlinge, die zum Tode verurteilt worden waren und nun auf richterlichen Beschluss auf die Festsetzung eines neuen Strafmaßes warten. Ryans Entscheidung - gegen die kein Rechtsmittel mehr eingelegt werden kann - kam nicht von ungefähr. Er begründete sie mit der hohen Zahl von Fehlurteilen und der unfairen Anwendung der Todesstrafe. Wie zu erwarten hat das spektakuläre Abschiedsgeschenk eine heftige Diskussion entfacht.

Als der Republikaner Ryan vor vier Jahren sein Amt als Gouverneur antrat, war er ein vehementer Verfechter der Todesstrafe. In den 70er-Jahren hatte er als Abgeordneter für ihre Wiedereinführung in Illinois gestimmt. Doch Anfang 2000 ließ er alle Hinrichtungen in Illinois aussetzen, nachdem sich herausgestellt hatte, dass 13 zum Tode verurteilte Häftlinge wegen unrechtmäßiger Urteile wieder freigelassen werden mussten, während im selben Zeitraum das Urteil an 12 Verurteilten vollstreckt wurde - eine Fehlerquote, die Ryan nicht in Kauf nehmen wollte.

Ryans Handeln ist letztlich nur konsequent. Immer häufiger hatten DNA-Analysen die Unschuld zum Tode verurteilter Häftlinge bewiesen, waren Fälle eklatanter Verfahrensfehler bekannt geworden. Die von ihm zur Überprüfung der Anwendung der Todesstrafe in Illinois eingesetzte Commission on Capital Punishment hatte gravierende Mängel festgestellt. Sie empfahl, dass diese am besten abzuschaffen sei oder mindestens umfassend reformiert werden müsse, da das System nicht garantieren könne, dass kein Unschuldiger zum Tode verurteilt werde.

Egal, in welchem Bundesstaat der USA sie durchgeführt werden, die Studien zur Todesstrafe kommen regelmäßig zu dem Schluss, dass sie ungerecht verhängt wird. Am häufigsten trifft das tödliche Urteil Schwarze; rund 45 Prozent der Insassen der US-Todestrakte sind schwarz, obwohl diese nur 13 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Auch die jüngste Untersuchung der University of Maryland kommt zu dem Ergebnis, dass die Wahrscheinlichkeit eines Todesurteils gegen einen mutmaßlichen Mörder erheblich höher ist, wenn das Opfer weiß war. Diese Analysen belegen aber auch, dass Illinois kein Einzelfall ist und, dass auch in anderen Bundesstaaten mit Todesstrafe das System der Strafverfolgung fehlerhaft ist.

Weil das Parlament von Illinois die von ihm angeregte Reform nicht zustande brachte, hat Ryan von seinem Recht als Gouverneur Gebrauch gemacht, mit einer Aufsehen erregenden, aber letztlich unbefriedigenden Maßnahme: Nicht einer Reform des Systems verdanken die zum Tode verurteilten Häftlinge ihr Leben, sondern einem Akt der Gnade.

Wie nicht anders zu erwarten wurde Ryans Vorgehen von den Gegnern der Todesstrafe gefeiert, von den Befürwortern als selbstherrlich kritisiert und obendrein als Ablenkungsmanöver von eigenen Problemen mit dem Gesetz denunziert. Sein Nachfolger, der Demokrat Rod Blagojevich hat bereits bekannt gegeben, dass er Ryans Entscheidung für einen großen Fehler hält und er das Moratorium aufheben werde. Im Bundesstaat Maryland tritt in diesen Tagen Bob Ehrlich die Nachfolge von Gouverneur Paris Glendening an. Auch er ist entschlossen, dessen Moratorium aufzuheben.

Trotzdem ist Ryan kein Außenseiter, sondern von einem breiteren Stimmungsumschwung getragen. Seiner Reforminitiative haben sich neben Maryland, auch mehrere Städte darunter San Francisco, Philadelphia und Detroit angeschlossen. Statistisch lässt sich feststellen, dass die Zahl der Todesurteile und Hinrichtungen seit 1999 wieder rückläufig ist. Die Todesstrafe ist zwar in 38 Staaten die Höchststrafe, doch es machen vor allem Texas, Kalifornien, Florida und North Carolina von ihr Gebrauch. Darüber hinaus hat der Oberste Gerichtshof der USA der Verhängung der Todesstrafe im vergangenen Jahr immerhin zwei Riegel vorgeschoben: Danach dürfen Todesurteile nicht mehr von Richtern, sondern nur noch von Geschworenen verhängt werden. Außerdem wurde die Hinrichtung von geistig Behinderten für verfassungswidrig erklärt.

Der entscheidende Wendepunkt in der Debatte um die Todesstrafe dürfte gleichwohl nicht erreicht sein. Die Amerikaner stehen immer noch hinter der Todesstrafe, je nach Umfrage wird sie von 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung befürwortet. Damit dürfte letztlich nicht mehr zu erwarten sein, als eine "Optimierung" des Rechtssystems.

Seit der Wiedereinführung der Todesstrafe 1976 sind in den USA 820 Menschen hingerichtet worden, die meisten davon in Texas. Von den 71 Exekutionen im vergangenen Jahr fanden 33 im einschlägig bekannten Staatsgefängnis von Huntsville statt, wo allein für den Januar wieder sieben Termine angesetzt sind.