Class Action

Eine Gruppe von Hamburger Sozialhilfeempfängern möchte die Hamburger Sozialbehörden verklagen - in den USA

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Ungewöhnliches bereitet sich in Hamburg vor. Die Initiative Class Action, so benannt nach dem amerikanischen Begriff für "Sammelklage", mobilisiert angeblich für eine solche Klage vor einem US-Bundesgericht in New York.

Ist das ein Hoax? Kann das überhaupt ernst gemeint sein? Wieso ein US-amerikanisches Gericht? Welche Rechtsgrundlage sollte denn eine solche Klage haben? Sicher, in den Zeiten des Internets ist alles möglich, auch dass sich jemand aus Langeweile einen besonders ausgefeilten Trick ausdenkt, um möglichst viel Aufmerksamkeit zu erreichen. Aber was sich zunächst wie ein Scherz anhört, hat einen ernsteren Hintergrund als gedacht. In den bisher leider nur auf Anfrage verschickten Presse-Bulletins (Kontakt: mailto:ClassActionNow@aol.com) wird die Frage nach der Rechtsgrundlage ziemlich präzise beantwortet. Nach Ansicht von Class Action bietet nämlich der Alien Tort Claims Act von 1789 genau dieses: eine Rechtsgrundlage, um die Sozialbehörden der Stadt Hamburg in den USA vor Gericht zu bringen. Darin heißt es kurz und bündig:

Die Bezirksgerichte üben unmittelbare Jurisdiktion zu den Zivilklagen von Ausländern aus, denen ein Schaden durch die Verletzung des internationalen Rechts oder eines Vertrages, den die Vereinigten Staaten unterzeichnet haben, widerfahren ist.

ATCA

Es spricht für das enorme Selbstbewusstsein der jungen USA, dass sie nur dreizehn Jahre nach ihrer Gründung weltweite Gerichtsbarkeit über das Völkerrecht beanspruchten - in verblüffender Spiegelung zur Erklärung der ebenfalls für universal gehaltenen Menschen- und Bürgerrechte, die die revolutionäre französische Nationalversammlung am 26.8.1789 erklärte.

Wer diese Rechtsvorschrift nun für einen angestaubten, höchstens noch akademisch interessanten Text aus dem Zeitalter der bürgerlichen Revolutionen hält, der muss sich vergegenwärtigen, dass die Klagen ehemaliger Zwangsarbeiter aus der Zeit des Nationalsozialismus gegen deutsche Firmen sowie die Klagen kolumbianischer Gewerkschaftler gegen Coca Cola (vgl. "Coke did nothing") ebenfalls den ACTA zur Grundlage hatten bzw. haben, genau wie eine wachsende Anzahl anderer Verfahren, die vom politisch höchst Brisanten bis zum relativ Banalen reichen.

Aber inwiefern verstoßen die Hamburger Sozialbehörden gegen internationales Recht? Auf elementare Weise, so die Initiative Class Action. Manchmal komme die Misshandlung der Leistungsempfänger durch die Sozialämter sogar der Folter nahe. Da ist von Fällen die Rede, in denen die Anträge von psychisch Schwerstkranken auf Unterstützung zum Umzug mit Sprüchen abgebügelt würden wie: "Du, ich habe darauf gewartet, dass Du im Lotto gewinnst". Der Antrag des krebskranken Jörg W. auf einen neuen Kühlschrank (u.a. benötigt zur Kühlung seiner Medikamente) sei auf folgende Weise beantwortet worden: "Stellen Sie sich mal nicht so an, Sie Weichei! Dann legen Sie die Medikamente eben auf den Balkon."

Laut Class Action sind Exzesse wie diese nur die nadelfeinen Spitzen eines gigantischen Eisbergs. Nicht die Ausnahme, sondern die Regel sei es, dass Anträge verschleppt würden (und das teilweise jahrelang), ganz zu schweigen von Widersprüchen gegen ablehnende Bescheide, deren Behandlung einer Abschaffung des rechtlichen Gehörs gleichkomme. Nach Darstellung der Initiative wird in den Sozialämtern Hamburgs routinemäßig mit denen Schlitten gefahren, die sich ohnehin nicht wehren können.

Warum aber die Beschwerden nicht zu einem Hamburger Gericht tragen? Die Verletzung der Menschen- und Bürgerrechten ist auch in Deutschland justiziabel. Formalrechtlich wohl, so Class Action - de facto sei aber Rechtsschutz für Sozialhilfeempfänger hierzulande nahezu inexistent. Die Gerichte in Deutschland, vor allem diejenigen in Hamburg, seien den Anliegen von Klägern gegen Behörden ohnehin nicht wohlgesonnen. Die Verfahren dauerten absurd lange. Das Kostenrisiko für Kläger in Zivilverfahren sei unüberschaubar, über die Prozesskostenhilfe werde erst mit dem Ende des Verfahrens und nicht zu Begin entschieden. Zudem werde sie in der überwiegenden Zahl der Fälle schlussendlich verwehrt. Ein Sozialhilfeempfänger, der sich auf den steinigen Rechtsweg begibt, erlebt also laut den Aktivisten von Class Action dasselbe, was ihm im Behördenalltag widerfährt, auf juristischer Ebene noch einmal. Fazit:

Sozialhilfeempfänger, die verfassungsrechtlich normierte Rechtsschutzgarantien nutzen, sind unerwünscht. (...)

Und, ganz generell:

Den Bedürftigen wird ein Leben in Armut, Unglück und Perspektivlosigkeit durch staatliche Stellen zugedacht. Sozialhilfe ist daher nicht mehr Existenzsicherung per Rechtsanspruch, sondern Instrument staatlicher Verfolgung, bestenfalls ein Mittel, damit sich die Betroffenen im Unglück einrichten und dort verharren.

Ein weiterer entscheidender Mangel des deutschen Rechts ist aber aus der Sicht von Class Action, dass es eine Sammelklage überhaupt nicht kennt. Und deswegen möchte die Initiative vor ein amerikanisches Gericht ziehen, um für eine potentielle Klägergruppe von 140.000 Personen individuelle Entschädigungen von 5000 bis 110.000 US-Dollar zu erstreiten. Außerdem strebt sie die Verurteilung der Beklagten - außer der Freien und Hansestadt Hamburg wären das alle Hamburger Bezirksämter als Träger der Sozialhilfe und einige leitende Verwaltungsangestellte sowie Richter - zur Zahlung von "punitive damages" (Strafschadensersatz) in ungenannter Höhe an, und weisen darauf hin, dass die Geschworenen in amerikanischen Zivilprozessen regelmäßig enorm hohe "punitive damages" verhängten.

Die Behauptung der Class Action-Aktiven, dass die Chancen für eine solche Klage gut stünden, mag Zweckoptimismus sein. Ob das Ganze weiter kommt als bis zu den Papierkörben einiger amerikanischer Justizangestellter, weiß niemand. Aber dass die Realität der Sozialhilfe in der reichen BRD eine elende ist, weiß jeder, der sich auch nur oberflächlich mit dem Thema beschäftigt. Wenn die Hamburger Sammelklage auf diese Tatsache aufmerksam machen könnte, - interessanterweise unter Rückgriff auf eine amerikanische Rechtsvorschrift aus dem Jahr der Französischen Revolution - wäre das schon besser als nichts.