Dosenware

DRM aus Leipzig: "Copy Hall" setzt Bibliotheken unter Druck

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Fragen zu Politik, Wirtschaft und Gesellschaft? Etwa: Wie wirkt der 'Faktor Mensch' auf wirtschaftliche Entscheidungen? Antworten, direkt auf den Tisch, verspricht Copy-Hall. Gegen Gebühr kann man sich hier Literatur, wissenschaftliche Arbeiten und Noten - zum Ausdruck auf dem PC - herunterladen. 24 Cent pro Seite etwa kostet Jens Brökelschens Dissertation "Betriebliche Humankapitalbildung als strategischer Wettbewerbsfaktor", die auf der Webseite als Neuzugang angepriesen wird. Ein Business-Gag?

Das Angebot ist so überflüssig wie die berühmte "Luft in Dosen". Jens Brökelschens Arbeit über Wettbewerbsfaktoren in der Automobilproduktion - so der vollständige Fassung der von Copy-Hall gekürzten Überschrift - ist nämlich eine Online-Dissertation, und als solche auf dem Server der Universität Duisburg verfügbar. Warum versieht Copy-Hall das Werk also mit einer aufwändigen Digital-Rights-Managment-Technik?

Copy Hall rechnet mit dem Faktor Mensch. 25 Prozent der Kunden, erklärt der Geschäftsführer Christian Klinger, kommen aus dem Ausland. Sie, aber auch viele andere, haben Schwierigkeiten, sich im Literaturangebot im deutschsprachigen Internet zu orientieren - und kaufen, was es auch umsonst gibt. Schließlich gibt es immer noch keinen gemeinsamen Standard, geschweige denn eine bundesweite Datenbank, in der man gezielt nach der Textgattung "Online-Dissertationen" suchen könnte (vgl. die Diskussion über Online-Dissertationen in der Liste Internet in Bibliotheken: Archiv - Dezember 2002 - Stichwort: Verlags-Dissertationen).

"Wir werden das Thema Raubkopien von einer anderen Seite angehen"

Weil die Universitäten, wie Christian Klinger meint, hier versagt hätten, möchte Copy Hall eine Datenbank mit wissenschaftlichen Arbeiten aufbauen. Seit Ende letzten Jahres ist die Webseite am Start. Sechs angestellte und vier freie Mitarbeiter beschäftigt die Firma; drei Jahre hat die Geschäftsentwicklung in Anspruch genommen. Die Hauptschwierigkeit bestand darin, eine Software zu entwickeln, mit der man zwar Texte ansehen, aber nicht - ohne Bezahlung - drucken kann. Die nötige Finanzierung kam von der EU, aber auch von Unternehmen vor Ort, unter anderem von einer Ausgliederung der Stadtwerke Leipzig. Heute bringt es www.copy-hall bereits auf vierzigtausend Besucher im Monat. In diesen Tagen sollen Gespräche mit einem weiteren Kapitalgeber zum Abschluss gebracht werden.

Den Bibliotheken und Universitäten sollte Copy Hall eine Warnung sein. Noch nämlich ist es in den meisten Promotionsordnungen festgeschrieben, dass im Falle einer Online-Publikation einer Dissertation der Veröffentlichungspflicht nur dann Genüge getan wird, wenn diese auf dem Server der Universitätsbibliothek abgelegt wird. Das muss nicht so bleiben. "Die Unis haben nicht den Anspruch auf ein ausschließliches Nutzungsrecht", meint Christian Klinger. Mit Gewinnbeteiligungen sollen Verfasser wissenschaftlicher Arbeiten zu Copy Hall gelockt werden. Wir versuchen, "das Thema 'Raubkopien' von einer anderen Seite her anzugehen" - mit diesem Slogan wirbt Copy Hall dafür, die Nutzung bislang frei zugänglicher wissenschaftlicher Schriften dem Urheberrecht zu unterwerfen.

Aber wer wird bei Copy Hall, wo es nicht einmal einen alphabetischen Gesamtkatalog von Autoren gibt, nach Fachliteratur suchen oder dort publizieren? Man glaubt es kaum: Eine Arbeit über Krebsforschung beispielsweise, sagt Christian Klinger, sei nur über Copy Hall online erhältlich und verkaufe sich auch äußerst gut. Aber eine Nachfrage ergab: Beides stimmt nicht. Dieter Wettigs Dissertation Analyse der Einweisungsdiagnose in einer universitaeren Schmerzambulanz unter dem besonderen Aspekt des Anteils therapiebeduerftiger psychischer Stoerungen bei Patienten mit Rueckenschmerzen, Morbus Sudeck, Phantomschmerzen sowie multilokulaeren Schmerzen ist sehr wohl kostenlos über den Universitätsserver zu beziehen. Bei Copy-Hall, so der Autor auf Nachfrage, läge die elektronische Kopie erst wenige Tage - und von Verkäufen wisse er auch noch nichts.

Mit Dissertationen wird so bald kein Geld zu machen sein, und ebenso wenig wie mit den 1.455 Copy Hall-Titeln aus dem Bereich der Klassischen Literatur, die größtenteils ebenso gut und kostenlos via Gutenberg erhältlich sind. Trotzdem gibt zwei andere Geschäftsfelder, die viel versprechend scheinen: Noten und Fachbücher.

Geschäftsfeld: elektronische Parallel-Veröffentlichung

Mit Noten - "Beethoven, Bach - Mozart weniger", so Klinger - macht Copy Hall derzeit einen Großteil seines Umsatzes. Ganz einfach, weil Noten Klassischer Musik einerseits keinem Urheberrecht mehr unterliegen, andererseits aber im Internet kaum zu haben sind. Eigentlich wäre es eine Aufgabe für die Musikhochschulen und Musikbibliotheken, elektronischen Zugang zu Notenmaterial zu schaffen. Stattdessen aber, das berichtet zumindest Christian Klinger, habe die Leipziger Hochschule für Musik ihr Programm zum Scannen von Notensätzen Copy Hall zur Verfügung gestellt. Wenn das stimmt, ist das ein kleiner Skandal. Denn der Leitung der Hochschule für Musik ist "nichts derartiges bekannt".

Eine weitere Hochschule arbeitet auf jeden Fall mit Copy Hall zusammen: die Universität Leipzig und ihr Institut für Immobilienmanagement. Über 538 Titel aus diesem Gebiet, meist überarbeitete Haus- und Diplomarbeiten, liegen elektronisch bei Copy Hall zum Preis von 14 Cent pro Seite bereit. Auch hier fragt man sich, warum nicht die Universität die Aufgabe der Online-Veröffentlichung übernommen hat.

Am meisten Aussichten auf Erfolg hat schließlich das Geschäft mit den Fach- und Lehrbüchern. Deren Auflagen sinken bekanntlich - weil die Anschaffungsetats der Bibliotheken sinken, die Bücher somit immer teurer werden und folglich immer mehr Studenten die Werke in der Bibliothek kopieren, anstatt sie zu kaufen. Copy Hall steigt hier mit einem Angebot ein, das für alle Parteien attraktiv ist: die elektronische Parallel-Veröffentlichung. Überlässt ein Verlag sein Werk Copy Hall, dann können Leser es sich aussuchen, ob sie den Weg in die Bibliothek, die Wartedauer an der Ausleihe und die Zeit im Kopierladen in Kauf nehmen - oder ob sie sich den Titel via Copy Hall zuhause ausdrucken. In diesem Fall erhält der Verlag Tantiemen, die ihm ansonsten entgehen würden.

Außerdem ist Copy Hall auch eine Spielwiese für Selbstverleger. Der Berliner Schriftsteller Holger Heiland hat sich den Spaß erlaubt und Copy Hall ein 188-Seiten-Werk überlassen. Es ist der erste und der einzige Titel im Bereich moderner Literatur, den die Datenbank verzeichnet. Der DRM-Romans heißt "Im Rattenbau" und kostet sieben Cent pro Seite. Zehn Prozent davon gehen an den Autor. Das ist nicht nichts. Aber zum Lesen nicht genug. Mehr als 43 Mal müsste Holger Heiland seinen Roman verkaufen, allein um bei Copy Hall Jens Brökelschens Arbeit über den "Faktor Mensch" zu erstehen. Wer würde da nicht lieber selber schreiben?