Israel - 5 Minuten vor dem Krieg

Der Angriff auf den Irak wird in allernächster Zeit erwartet; die Bevölkerung fürchtet sich eher vor Terroranschlägen als vor Saddams Scud-Raketen und die Führung setzt sogar einige Hoffnung auf den kommenden Krieg.

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Das Pendel schwinge hin und her zwischen echter Panik und hysterischer Ruhe. So beschrieb der Ha'aretz-Kommentator am Wochenende die psychische Verfassung der israelischen Bevölkerung kurz vor dem Ausbruch des Irakkrieges. Obschon die Armeeführung, allen voran ihr Kommandeur, General Mosche Ya'alon, in den letzten Tagen mehrfach darauf verwies, dass kein Grund zur Panik vorliege. Israel sei dieses Mal weitaus besser für einen etwaigen Raketenangriff aus dem Irak gerüstet als vor 12 Jahren; die Angst, wie es Umfragen bestätigen, vor terroristischen Angriffen seitens der Palästinenser sei spürbar größer als vor Saddam's verbliebenen Scuds. Trotz der vielen Stimmungsberichte und Umfrageergebnisse, wonach mehr als ein Drittel der Israelis keine Gasmasken aufsetzen und keine Schutzräume aufsuchen wollen, flackert zwischen den "No Panic"-Statements immer wieder Unsicherheit auf. Und die zeigt sich schon bei der momentan heissesten Frage nach dem Kriegsbeginn.

Zeit-Kalkulationen

Nein, da gebe es nichts besonderes an diesem Schabbat, wiegelte am Freitag ein ranghoher Vertreter des israelischen Verteidigungsministeriums wilde Spekulationen über den Zeitpunkt des amerikanischen Angriffs ab, nachdem Schätzungen aus Armeekreisen bekannt geworden waren, denen zufolge die Amerikaner schon am Tag nach dem Blix-Report losschlagen könnten. Da das Home Front Command keine neuen Instruktionen veröffentlichte, schätzte man die Aussage von Amos Yaron einerseits als glaubhaft ein und ließ andrerseits den Spekulationen weiter freien Lauf. So wurden Stimmen laut, die befürchteten, dass die Amerikaner gar nicht Bescheid geben könnten, wenn der Krieg schon längst begonnen habe.

Die Amerikaner könnten unter Umständen ihre Luftangriffe und Aktionen am Boden, die schon begonnen haben, graduell verstärken. Wir würden dann ein paar Tage später herausfinden, dass der Krieg tatsächlich schon in vollem Gang ist.

Die Zusammenarbeit mit den Amerikanern in dieser Frage ist vital wichtig für Israel. Dass die Bush-Administration nicht Bescheid geben würde, ist unwahrscheinlich, dass aber auch darüber spekuliert wird, zeigt eben, welchen Schatten dieser Krieg schon im Vorfeld wirft, wie unsicher man dieser Monströsität gegenübersteht.

Auf das "klassische" Szenario - ein Raketenangriff aus dem Irak - gibt man sich gut vorbereitet. Man kalkuliert, dass eine Scud-Rakete etwa sechs bis sieben Minuten braucht, um die Distanz von geschätzten 600 -700 Kilometern zwischen dem Abschussort und israelischen Zielen (vor allem Haifa, aber auch das Zentrum wird diesem Szenario zugrunde gelegt) zu durchqueren. Die Amerikaner haben versprochen, heißt es, mittels Satellitenüberwachung gewonnene Erkenntnisse über einen Abschuss sofort weiterzugeben, so dass die israelische Verteidigung binnen 90 Sekunden informiert wäre. Dem Generalstab blieben demnach weitere 90 Sekunden, um darüber zu entscheiden, ob man das Alarmsystem vor der erwarteten Landung der Raketen auslösen würde. Die Sirenen könnten diesem Szenario folgend 3 Minuten vor dem erwarteten Einschlag der Raketen Alarm geben; genau die drei Minuten, die mit den Instruktionen des Home Front Commandos abgestimmt sind, wonach jeder Bürger innerhalb dieser Zeit von seinem Zuhause aus einen Schutzraum aufsuchen kann. Dieses situationsbezogene Alarmsystem, das in enger Verbindung mit Radio- und Fernsehsendern steht, soll darüberhinaus dafür sorgen, dass sich die Einwohner Israels nicht wie im Golfkrieg vor 12 Jahren tagelang verbarrikadieren müssen, sondern nur im Falle eines prospektiven Einschlags und nur in den Gebieten, wo der Einschlag erwartet wird.

Die Patriot-Abwehrraketen, die bereits aus Deutschland eingetroffen sind, die Arrow-Raketen, die in den letzten Wochen mehrere erfolgreiche Tests durchlaufen haben, und das "Hawk"-Abwehrsystem sollen etwa 4 Minuten vor dem Einschlag durch das "Green-Pine"-Radarsystem aktiviert werden. Das Radarsystem liefert dem Home Front-Kommandeur die nötigen Informationen über den vermuteten Einschlagsort, was ihn zu genauen Instruktionen für die dortige Bevölkerung befähigen soll.

Im Falle eines Einschlags ist ein weitgespanntes Netzwerk an Home-Front Beobachtern aktiv, die sofort über die Art der Raketen Bestückung des Gefechtskopfes - gefürchtet werden natürlich chemische oder biologische Angriffe - informieren und entsprechende Anweisungen auslösen. Man schätzt, dass man binnen 30 Minuten genau beurteilen kann, ob es sich um einen konventionellen oder andersgearteten Gefechtskopf handelt.

Die Berichterstattung in den israelischen Medien darüber, wie sich die Armee vorbereitet hat, was die Bürger selbst an Vorsorgemaßnahmen treffen können und sollen, ist groß angelegt. Tatsächlich scheint dies vielen Israelis Sicherheit zu versprechen und sogar eine gewisse Gelassenheit auf sie auszuüben. Die Stimmungsberichte, nachzulesen etwa im Internet-Magazin Israel-Insider geben darüber anschaulich Auskunft:

Ich liebe meinen Sohn, mehr als es Worte ausdrücken können. Aber er hat keine Gasmaske. Warum ? Ganz einfach, weil es nicht nötig sein wird...Meine Familie wird weder Gasmasken noch versiegelte Räume brauchen. Niemand in Israel wird sie brauchen. ..Ganz egal, was wir lesen und sehen, die Möglichkeit, dass Israel tatsächlich eine zentrale Rolle in diesem Konflikt spielen wird, ist gering. Es ist ebenso unwahrscheinlich, dass Saddam Hussein eine gefährliche Bedrohung zur Existenz Israels aufbauen kann.

Micah D. Halpern

Horror-Szenarien

Es gibt aber auch ängstliche Stimmen, allerdings - wie im folgenden Fall - von einem Journalisten, der sein worst-case-Szenario ursprünglich in der New York Post veröffentlicht hat und vermutlich außerhalb Israels lebt. Dennoch dürfte das, was John Podhoretz als horrible Entwicklung des Irak-Konflikts beschreibt, auch in israelischen Debatten immer wieder auftauchen: Podhoretz fürchtet einen Drei-Fronten-Krieg in Israel.

Hier ist das Albtraum-Szenario, das viele israelische Militärplaner und Katastrophen-Spezialisten in der Nacht wach hält: Der Krieg beginnt. Die Hisbollah nutzt den Krieg als Vorwand, um eine Raketensalve auf Israel loszulassen...

Vorausgesetzt wird hier, was in den letzten Wochen für allerlei Mutmaßungen sorgte, nämlich, dass der Irak einige seiner biologischen und chemischen Waffen via Syrien in den Libanon schaffen ließ - direkt in die Hände der militanten Hisbollah. Israel wäre in diesem Szenario dazu gezwungen, den südlichen Teil des Libanon erneut zu besetzen. Mit einem großen Aufgebot an Soldaten. Was zur Folge hätte, dass man große Teile des militärischen Aufgebots aus der Westbank abziehen müsste. Palästinensische Terroristen hätten dann freies Spiel und ein beträchtlicher Anstieg an Attentaten wäre wahrscheinlich: Israel selbst demnach die zweite Front. Die dritte wäre der Gazastreifen, der dieser Eskalationslogik folgend seinerseits Raketen auf das israelische Binnenland abfeuern würde. Die "Experimente" mit solchen Raketen, so Podhoretz, seien schließlich der Anlass gewesen, weshalb die israelische Armee in den letzten Wochen so viel im Gaza-Streifen zu tun gehabt hätte.

Selbst wenn viele Israelis von diesem Albtraum verschont bleiben mögen, so deuten Umfragen und Specials, wie z.B. in der Jerusalem Post, darauf hin, dass die Angst vor einem "Mega-Terroristenanschlag" sehr groß ist. Befürchtet werden insbesondere Selbstmordattentate - auch seitens des Irak (siehe Home Front Israel: Warten auf den Krieg) - und die "schmutzige Bombe".

Der Kriegsgott als 'Deus ex machina'

Es gibt aber auch Kräfte in der Physik der israelischen Politik, die sich von der amerikanischen Operation im Irak nichts weniger als bessere Verhältnisse und Rettung aus einer blockierten, grimmigen Lage erwarten. Darunter, so der Ha'aretz-Komentator Uzi Benzimann, das ganze politische Establishment, allen voran Ministerpräsident Ariel Sharon, die Eliten der öffentlichen Verwaltung, die Spitzen des Militärs und Führungskräfte der Wirtschaft.

Sie warten auf den Krieg in der Hoffnung, dass er die lang ersehnte Wende brächte angesichts der klammen Situation im Lande. Man könnte sagen, das Israel auf Ares wartet, dem alten griechischen Kriegsgott, damit er den Deus ex machina spiele in diesem Drama.

Die Niederlage Saddam Husseins, gemäß den optimistischen Auguren aus Kreisen der Armee und des Geheimdienstes, könnte richtige Schockwellen durch die ganze Region schicken und zu großen Veränderungen in den arabischen Nachbarländern Israels führen. Die ganze Welt und speziell die arabische werde demnach von der Entschlossenheit berührt und bewegt, welche die Amerikaner gegen den Tyrann von Bagdad an den Tag legen...und ihre Lektion lernen. Den arabischen Führern - Baschar Assad und vor allem Yassir Arafat - werde deutlich gezeigt, dass die USA ihre Verwicklung in terroristische Aktivitäten nicht mehr länger dulden würden. Als Resultat könnte sich deren Einstellung und die Art ihres Zugangs zu Israel ändern.

Allergrößte Hoffnung setzt man in diesem Lager darauf, dass Saddams Entmachtung den Wechsel innerhalb der palästinensischen Führung beschleunigen könnte. Die Gleichsetzung Arafats mit Saddam, die in den letzten Wochen und Monaten von der Wahlkampfequipe Scharons betrieben worden ist, könnte Früchte tragen. Es wäre möglich, dass man Arafat aus seiner nach wie vor mächtigen Position entfernen könnte - mit dem Gutdünken Bushs.

Auch die Wirtschaftskräfte hegen Hoffnung; sie erwarten sich nichts weniger, als dass der Krieg Israel aus der katastrophalen wirtschaftlichen Krise führen könnte. Man erwartet sich einen psychologisch günstigen Effekt auf die Konjunktur der westlichen Länder und - konkreter - harte amerikanische Münze sowie Darlehen. Immerhin steht man auf der Liste des amerikanischen Kongresses, welche bestimmte Länder für außergewöhnliche Ausgaben, die durch den Krieg verursacht werden, kompensieren will.

Selbst die Koalitionsverhandlungen, so der Kommentator, würden von der Entwicklung des Krieges beeinflusst. Scharon stimme seine Bewegungen zeitlich damit ab, wie die Entwicklungen an der irakischen Front verlaufen würden. Der berühmte Taktiker werde die Umstände, die ihm der Kriegsverlauf bescheren würde, dazu nutzen, um seine Position in den Verhandlungen entsprechend zu verstärken.