Maulkorb für die Wissenschaft

Die Auswahl der zur Veröffentlichung eingereichten Publikationen soll dem nationalen Sicherheitsbedürfnis untergeordnet werden

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Die Herausgeber von Nature in London sowie Science und anderen renommierten wissenschaftlichen Zeitschriften in den USA haben sich zur Verantwortung von Wissenschaft und nationaler Sicherheit bekannt. In dem Statement on Scientific Publication and Security, das von 32 Herausgebern unterzeichnet wurde werden vier Grundsätze genannt.

  1. Die peer-reviewed Zeitschriften wollen unverändert Manuskripte veröffentlichen, die von hoher Qualität sind, zugleich aber so ausführlich, daß sie von den Lesern reproduziert werden können.
  2. Die Herausgeber sind sich der Verantwortung bewußt, daß die Publikationen mißbraucht werden können. In diesen Fällen wollen sie sich der Verantwortung stellen.
  3. Sicherheitsrelevante Publikationen werden einer Kontrolle unterzogen. Die dafür vorgesehene Prozedur wird den Autoren und Lesern noch mitgeteilt.
  4. Sollte das potentielle Risiko des Manuskripts größer sein als der gesellschaftliche Nutzen, behalten sich die Herausgeber vor, den Beitrag zu modifizieren oder zurückzuweisen. Da wissenschaftliche Informationen durch Seminare, Treffen und Emails ausgetauscht werden, sollen die wissenschaftlichen Gesellschaften flankierend dazu beitragen, den Missbrauch wissenschaftlicher Erkenntnisse zu minimieren.

Welches sind die Konsequenzen dieser überraschenden Erklärung? Der Optimist wird sagen: "Jeder kann Politiker werden. Warum nicht die Wissenschaftler?" Der Pessimist wird entgegnen: "Bisher fällt es schon schwer, die Ablehnung vieler Manuskripte zu verstehen. In Zukunft fehlt jede Transparenz." Depressive werden darüber meditieren, warum Albert Einstein, Otto Hahn, Fritz Strassmann und Lise Meitner ungehindert publizieren durften. Ohne diese Naturwissenschaftler wäre das Atombombenprojekt "Manhattan District" und die Vernichtung von Hiroshima vermieden worden. Ganz abgesehen von der jetzigen Bedrohung durch die unerwünschten Nachzügler der ABC-Waffen, nämlich Irak und Nord Korea.

Wir Europäer sind stolz auf die Zeit der Aufklärung, die uns die französische Revolution und viel Wahrheit brachte, auch wenn sie manchmal bitter ist. So wird es weitergehen. Natürlich kann der Bericht über ein wirksame Therapie der Pocken sicherheitsrelevant sein, weil sie den "Bösen" dazu verleitet, eine resistente Abart zu entwickeln. Der Bericht kann dennoch ungewollt bahnbrechend für die Aids-Forschung sein, weil die Imitation des Vorgehens den bisher fehlenden Durchbruch schafft. Welcher Herausgeber kann die Entwicklung voraussehen und daraus Nutzen und Schaden abschätzen? Würde man heute die künstliche Befruchtung unterbinden, weil sie zum Klonen führt? Selbst der momentane Schritt bedeutet keine Garantie vor Missbrauch. Wie sagt Friedrich Dürrenmatt in den Physikern? "Was einmal gedacht worden ist, wird wieder gedacht werden."

In seinem Editorial verweist Donald Kennedy, der Herausgeber von Science, auf C. P. Snow (1905-80), der 1959 in seinem Buch "Two Cultures" zwischen Wissenschaft und Menschlichkeit philosophierte. Liegt die Wahrheit in der reinen Wissenschaft, oder ist sie situationsbezogen? Dann hat sie den Charakter eines messbaren Wertes, sei es als aktuelle Anforderung, sei es als Ziel für ein besseres Leben. Der Disput ist nicht neu, weiß Donald Kennedy, weil bereits in den 80er Jahren in den USA eine ähnliche Problematik bestand. Tatsächlich konnten damals US Firmen ihre Gaschromatographen und Massenspektrographen selbst in Westdeutschland nur mit ausdrücklicher Zustimmung der US Regierung verkaufen, nachdem der Käufer für würdig befunden wurde. Bei Ultrazentrifugen war zudem eine Erklärung nötig: keine Verschiebung durch den Eisernen Vorhang, sonst drohte Strafe. Allerdings hat die Kontrolle aus der Zeit des Kalten Krieges in der vom französischen UN Botschafter gepriesenen Grand Nation und anderen alten europäischen Ländern viele Vorläufer. Die Wahrheit des Galileo Galilei (1564-1642), so fürchtete die römische Kurie damals, könnte ihren Machtanspruch erschüttern, und wurde damit zum Sicherheitsrisiko. Und mehr noch die Zeit des Investiturstreits, in der die Wissenschaft darbte, weil ihr die priesterliche Weihe fehlte. Dieser Prozess zog sich über Jahrhunderte und lebt jetzt neu auf in den Ländern des Islams.

Ob national oder klerikal: als Richtschnur taugt das selbstsüchtige Interesse nur für den Maulkorb. Das Selbstbewusstsein der die westliche Welt dominierenden wissenschaftlichen Publikationen mag verständlich sein, um mit dem Bekenntnis zur Eigenverantwortung dem drohenden Diktat des US Staates zu entgehen. Allerdings könnten sich die nach Freiheit gierenden Wissenschaftler aus Protest gegen die Bevormundung abwenden und dort veröffentlichen, wo es keine Einschränkungen gibt. Vielleicht in Deutschland?