Mit Algen gegen Giftgas

Aber nicht der Irak, sondern Israel bedroht die Palästinenser

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"Dieses Medikament reinigt die Organe von allen Giften", erklärt der Inhaber der Apotheke Karitam in Ramallah und hält seiner Kundin ein kleines Fläschchen vor die Nase. "Chlorella" heißt das Wundermittel auf Algenbasis. Es sei gut verträglich und er nehme es "schon seit Jahren". Die Kundin ist nicht recht überzeugt, lässt sich aber noch einen Satz Mund- und Nasenschutzmasken aufschwatzen. Ja, sie kaufe das wegen dem irakischen Giftgas. "Man weiß ja nie, was kommt", sagt sie, die eigentlich nur Halsschmerztabletten haben wollte. "Ich bin ein wenig ängstlich", gibt sie zu. "Aber einen versiegelten Raum habe ich nicht. Mein Mann will nicht, dass ich mich an der israelischen Hysterie beteilige."

Das israelische Militär rät zu Schutzräumen

Während sich Israelis seit Wochen mit Gasmasken, Isolierband und Plastikplanen eindecken und das ganze Land in Alarmzustand versetzt wurde, sind die Palästinenser relativ unbesorgt. Im letzten Golfkrieg vor elf Jahren schoss der Irak 39 Raketen auf Israel. Ramallah liegt direkt in der irakischen Schusslinie nach Tel Aviv. Und damals hatten sich hier noch viele in versiegelte Räume zurückgezogen. "Sadam Hussein hat jetzt aber keine Raketen mehr", davon sind die meisten Menschen im Westjordanland überzeugt. "Und wenn, dann wird er sie gegen die US-Armee einsetzen."

Israel verteilte an die Bewohner der besetzten Gebiete keine Gasmasken. Einmal hieß es, dass dafür die (zerschlagene) palästinensische Autonomiebehörde zuständig sei. Später war die Gefahr, dass Palästinenser die Masken zum Schutz vor israelischem Tränengas tragen könnten. Der Palästinensische Rote Halbmond verbreitete vorbeugend eine Broschüre, die über das richtige Verhalten bei chemischen und biologischen Angriffen informieren.

Palästinenser fürchten keine Raketen aus dem Irak. Die Gefahr gehe vielmehr von der israelischen Regierung aus, die im Schatten des Krieges ihre Pläne umsetzen könnte. "Sie werden über ganz Palästina eine Ausgangssperre verhängen", so Suna Arraf, eine Verwaltungsangestellte. "Wir sind elf Personen zu Hause, haben schon groß eingekauft und können wohl eine Weile überleben." Solange der Strom nicht ausfällt, schränkt sie ein. Denn dann verrotte alles im Kühlschrank. Das sei schon während der Panzerinvasion letzten März passiert.

Die damalige Situation mit wochenlangen Schießereien, Hausdurchsuchungen und Scharfschützengefahr wird von Palästinensern immer wieder als Vergleichssituation herangezogen. "Viele denken, dass es in den Städten nicht schlimmer werden wird, als vor einem Jahr", fährt Arraf fort. "Aber sie werden natürlich mit den Dingen weitermachen, die international schon zu Friedenszeiten niemanden besonders störten."

Sie bezieht sich auf die über 70 erschossenen Palästinenser im Februar, Liquidierungen und die fortgesetzten Hauszerstörungen. "Die Armee wird sich auf die ländlichen Gegenden konzentrieren", glaubt Arraf. "Besonders die Dörfer zwischen der Grünen Linie (der "Grenze" zwischen Israel und Palästina) und der neuen Trennmauer werden zu leiden haben." Dort leben etwa 15000 Menschen, die, so glauben viele, vom Militär vertrieben werden, sobald es die Situation erlaubt. Dazu ist ein Anstieg der Siedlergewalt zu befürchten. Die teilweise schwer bewaffneten Siedler könnten wie schon in der Vergangenheit selber Dörfer überfallen und ein Klima der Angst schaffen, um die Bewohner zu vertreiben.

In Israel wird derzeit offen über sogenannten Transfer diskutiert, die Vertreibung von Bevölkerungsteilen, die in anderen Regionen der Erde ethnische Säuberung genannt wird. Ministerpräsident Ariel Scharon setzt sich seit Jahrzehnten für einen israelischen Staat zwischen Mittelmeer und dem Fluss Jordan ein. Moledet von der Nationalen Union, ein Regierungspartner Scharons, hat die Vertreibung der Palästinenser gar im Parteiprogramm.

Die Menschenrechtsorganisation LAW in Ramallah sieht dagegen den Gazastreifen als Zentrum israelischer Attacken. "Wir befürchten einen Anstieg der außergerichtlichen Erschießungen, Massenverhaftungen und die mögliche Deportation politischer Gefangener", so ein Sprecher. Ein Teil der zu erwartenden Toten in den besetzten Gebieten insgesamt wird aber wieder auf die Ausgangssperre zurückzuführen sein. Medizinische Hilfsorganisationen haben schon Vorräte für die nächsten drei Monate angelegt. Aber damit ist noch nicht gewährleistet, dass die Arznei auch zu den Kranken gelangt. Lebensmittel sind zwar auch ausreichend erhältlich, aber die Kaufkraft der Palästinenser ist im Keller. Bereits vor sieben Monaten litt jedes fünfte Kind unter fünf Jahren unter Mangelernährung, so die Hilfsorganisation USAID.

"Aber das Schlimmste ist das Gefühl, den Ereignissen vollkommen ausgeliefert zu sein", schließt Suna Arraf resigniert. "Gegen die israelischen Panzer und Hubschrauber können wir uns nicht wehren. Wir müssen jetzt einfach abwarten und hoffen, dass wir überleben."