Die Bedrohung der kollektiven Sicherheit

Max-Planck-Direktor Rüdiger Wolfrum sieht im Vorgehen der USA einen Bruch des Völkerrechts und einen massiven Verstoß gegen das Selbstverständnis der Vereinten Nationen

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Nicht dass jemand ernsthaft geglaubt hätte, die USA und ihre "Allianz der Willigen" hätten sich durch die Ablehnung einer weiteren Irak-Resolution oder sonstige Widerworte der Sicherheitsrats-Mehrheit tatsächlich von ihrem Kriegskurs Richtung Bagdad abbringen lassen. Doch eben deshalb hat die Weltgemeinschaft jetzt, da sämtliche Befürchtungen Realität geworden sind, auch ein Problem, welches die bisherigen Schwierigkeiten der schwerfälligen Institution weit in den Schatten stellen dürfte. Rüdiger Wolfrum, Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg, hat sich in einer ersten Stellungnahme zu den weitreichenden Konsequenzen der jüngsten Entwicklungen geäußert und eine völkerrechtliche Einschätzung der aktuellen Lage vorgenommen.

Nach Meinung des national und international angesehenen Professors für öffentliches Recht und Völkerrecht ist das im Rahmen der Vereinten Nationen entwickelte System der kollektiven Sicherheit einer "existenzgefährdenden Belastung" ausgesetzt, die mit der immer spürbarer werdenden "Marginalisierung des Sicherheitsrates" zusammenhängt. Für diese angespannte Situation macht Wolfrum nicht nur den Alleingang der USA und ihrer Verbündeten verantwortlich, sondern auch das Verhalten von Staaten, "die, noch bevor der Sachverhalt im Sicherheitsrat im vollen Umfang ausdiskutiert wurde, jeder militärischen Maßnahme gegen den Irak, auch einer Legitimation dieser Maßnahmen durch den Sicherheitsrat, ein kategorisches Nein entgegensetzen."

Handlungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen hängen zunächst unmittelbar mit dem Gewaltverbot der UN-Charta zusammen, das nur dann außer Kraft gesetzt werden kann, wenn eine unmittelbare Bedrohung oder sogar ein Bruch des Weltfriedens durch den Sicherheitsrat festgestellt wird. Nach der Resolution 687 aus dem Jahr 1991, die durch die viel zitierte Resolution 1441 vom vergangenen Jahr bestätigt und erweitert wurde, wäre eine solche Feststellung prinzipiell denkbar, da dem Irak weiterhin der Besitz und/oder die Herstellung von A-, B- und C-Waffen, darüber hinaus die Nicht-Erfüllung humanitärer Verpflichtungen (Informationen über das Schicksal von Kriegsgefangenen, Rückgabe geraubter Kriegsgüter etc.), die Verletzung von Menschenrechten im eigenen Land oder auch die Unterstützung des internationalen Terrorismus vorgeworfen und im Falle unzureichender Kooperation mit "schwerwiegenden Konsequenzen" gedroht wird.

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat laut Wolfrum in der Beurteilung dieser Situation eine "weitreichende Einschätzungsprärogative", die nicht an nationale juristische Standards gebunden und trotzdem für alle beteiligten Länder verbindlich ist: "Auch die Mitgliedsstaaten haben grundsätzlich nicht das Recht, unter Berufung auf eine behauptete Völkerrechtswidrigkeit einer Sicherheitsratsresolution deren Beachtung abzulehnen."

Trotzdem ergibt sich aus der Feststellung einer Friedensgefährdung durch das Regime von Saddam Hussein "nicht zwangsläufig die Autorisierung von militärischer Gewalt gegen den Irak." Das gilt umso mehr als der Sicherheitsrat in anderen Fällen (Rhodesien, Kuwait) bestimmte Länder ausdrücklich autorisiert hat, militärische Gewalt einzusetzen. Diese Legitimation fehlt im aktuellen Fall, und also fehlt der Kriegsallianz - wie schon im Kosovo, der allerdings mit schöner Regelmäßigkeit als Einzelfall deklariert wurde - auch das völkerrechtlich verbindliche Mandat "als Vollstreckungsorgan des Sicherheitsrats zu handeln".

Darüber hinaus widerspricht die von US-Präsident Bush verkündete präventive Selbstverteidigung nicht nur der Philosophie, sondern auch dem Wortlaut der UN-Charta, die ein Recht auf Selbstverteidigung überhaupt nur im Falle eines konkreten oder allenfalls unmittelbar bevorstehenden Angriffs vorsieht:

"Der entscheidende Gesichtspunkt gegen jede Form von vorsorglicher Selbstverteidigung liegt letztlich darin, dass bei Verzicht auf eine objektivierbare Feststellung eines Angriffs, diese auf einer rein subjektiven Einschätzung des Staates beruht, der Selbstverteidigung geltend macht. Damit ist das Gewaltverbot praktisch zur Disposition dieses Staates gestellt."

Auf ebenso tönernen Füßen steht Wolfrums Einschätzung nach die Bewertung der aktuellen Kriegshandlungen als eine Art "humanitärer Intervention", weil auch in diesem Fall gilt, dass ein militärisches Vorgehen nur dann mit geltendem Völkerrecht zu vereinbaren ist, wenn es auf eine Sicherheitsratsresolution gestützt werden kann, "die diesen Einsatz ausdrücklich autorisiert; jede andere militärische Maßnahme stellt eine Verletzung des Völkerrechts dar".

Der Fortbestand der Vereinten Nationen als System kollektiver Sicherheit hängt am Ende davon ab, ob es den Mitgliedern gelingt, zu einem für alle Beteiligten verbindlichen Handeln auf der Basis der UN-Charta zurückzufinden:

"Das Völkerrecht darf letztlich nicht der Frage ausweichen, wie es auf Regime reagiert, von denen eine permanente Friedensgefährdung ausgeht. Wenn das Kontroll- und Reaktionssystem des Sicherheitsrats unterhalb der Schwelle militärischer Maßnahmen ausgeschöpft ist, muss die Möglichkeit einer kollektiv verantworteten militärischen Maßnahme bestehen. Einzelstaatliche militärische Maßnahmen außer in dem im traditionellen Sinne verstandenen Verteidigungsfall sind keine Alternative. Sie bedeuten letztlich die Rückkehr zu Vorstellungen, die für das ausgehende 19. Jahrhundert prägend waren."