Vom Militär zu den Urnen geleitet

Ohne politische Perspektive bleibt das Referendum in Tschetschenien nichts weiter als ein durchsichtiger Propagandatrick

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Wer die Wahl hat, hat die Qual, heißt es, doch wer keine Wahl hat, den plagen womöglich noch größere Qualen. Das zumindest haben am vergangenen Sonntag die Bürger Tschetscheniens am eigenen Leib erfahren. Sie hatten das zweifelhafte Vergnügen, in einem Referendum über die weitere Anbindung der Kaukasus-Republik an die Russische Föderation abstimmen zu dürfen.

Unter einem Großaufgebot von Militär wurden die Bürger zu den Urnen geleitet: Nach Angaben des Innenministeriums bewachten 14.000 Soldaten und Polizisten die 414 Wahllokale. 540.000 Stimmberechtigte waren aufgerufen, ihr Kreuzchen hinter drei Fragen zu machen: Akzeptieren Sie die tschetschenische Verfassung? Akzeptieren Sie das Gesetz über den Präsidenten Tschetscheniens? Akzeptieren Sie das Gesetz über das tschetschenische Parlament? Erforderlich zur Gültigkeit des Referendums war eine Wahlbeteiligung von 50 Prozent, und da man in dieser Hinsicht offensichtlich nichts dem Zufall überlassen wollte, waren auch die in Tschetschenien stationierten russischen Soldaten geladen, ihre Stimme abzugeben.

Das vorläufige Wahlergebnis steht in bester Sowjet-Tradition: Wie die Wahlkommission mitteilte, lag die Wahlbeteiligung bei 85 Prozent, 95,5 Prozent der Wähler haben sich dafür ausgesprochen, dass Tschetschenien ein "unabänderlicher Teil der Russischen Föderation" bleibt.

Bei den Fragen über die Präsidenten- und Parlamentswahl soll die Zustimmung ähnlich hoch liegen. Doch darf man aus diesem Ergebnis wirklich herauslesen, dass die Tschetschenen sich auf demokratische Weise für den Frieden entschieden haben, so wie Präsident Wladimir Putin dies interpretiert? Während offizielle Sprecher den ungeheuren Erfolg der Wahl beschwören und vom Andrang an den Urnen sprechen, berichten Journalisten und Beobachter der Menschenrechtsorganisation Memorial, dass die Wahllokale besonders in der Hauptstadt Grosny weitgehend leer blieben und die Zahl der wachhabenden Soldaten die Zahl der Wähler eindeutig übertroffen habe. Oleg Orlow von der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial konnte im Gespräch mit der Moscow Times online nur zwei Erklärungen für das Wahlergebnis finden:

Entweder waren die Wahlurnen illegalerweise mit gefälschten Stimmzetteln gefüllt oder die Tschetschenen haben tatsächlich geglaubt, dass sie einfach keine andere Wahl hatten, als für die tschetschenische Verfassung zu stimmen.

Und während die europäischen Länder noch auf den Bericht der 40 internationalen Wahlbeobachter warten, hat die Delegation der GUS-Staaten bereits freie und unabhängige Wahlen bestätigt.

Bereits im Vorfeld des Referendums hatte der russische Präsident mehrfach angekündigt, dass die - natürlich vom Kreml verfasste - neue Verfassung den Grundstein einer politischen Lösung des Tschetschenien-Konflikts bilden soll. Doch wer soll an solche Worte ernsthaft glauben, wo Putin sich nicht überwinden kann, wenigstens mit den Vertretern unter den militanten Rebellen zu verhandeln, die einen Kompromiss nicht rundheraus ablehnen. Ein Beispiel ist etwa der im Ausland herumreisende Außenminister Iljas Achmadow, der erst vor wenigen Tagen bei einer Pressekonferenz einen Friedensplan angekündigt hat.

Doch der Kreml-Chef hat sich darauf versteift, alle Separatisten als Terroristen und Fundamentalisten über einen Kamm zu scheren, mit denen sich höchstens noch über eine Kapitulation verhandeln lässt. Doch ohne den Dialog gibt es keine politische Perspektive, da bleibt das Referendum nichts weiter als ein recht durchsichtiger Propagandatrick. Insofern ist es fast müßig darüber zu spekulieren, ob das Wahlergebnis gefälscht ist oder nicht. Genauso wie sich hinter der Wortkulisse, der seit geraumer Zeit viel beschworenen Normalisierung der Lebensverhältnisse in der Kaukasus-Republik verbirgt, dass dort seit der Geiselnahme in dem Moskauer Musicaltheater Nordost mehr Menschen als zuvor verschwunden sind.