Was heißt hier pazifistisch?

Während das französische Volk hinter seinem "friedliebenden" Präsidenten steht, erheben sich nur wenige "tapfere" Stimmen gegen den "pazifistischen Einheitsgedanken"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Laut neuesten Meinungsumfragen sind neun von zehn Franzosen völlig mit dem "Anti-Kriegs-Kurs" Chiracs einverstanden. Eine Zustimmung, die quasi das gesamte politische Spektrum des Landes abdeckt - von der extremen Linken bis zur extremen Rechten. Die martialische Bilderflut, die sich Tag für Tag und rund um die Uhr über das Fernsehvolk ergießt, tut da ihr übriges dazu und treibt ungebrochen Tausende von zunehmend jugendlichen Demonstranten auf die Strassen. Präsident Chirac darf sich sogar einer einhelligeren Unterstützung aus dem linken Lager (95%) als aus den eigenen Reihen (85%) erfreuen. Eigentlich aber möchte das Staatsoberhaupt die französische Nation keinesfalls als "pazifistisch" begriffen sehen, wie er kurz vor Kriegsausbruch "den amerikanischen Freunden" in einem Interview versicherte.

Dieses Verschwimmen der politischen Grenzen erinnert an den 21.April des letzten Jahres, als das Vordringen des Rechtspopulisten Le Pen in den zweiten Durchgang der Präsidentschaftswahlen die Nation derart in Angst und Schrecken versetzte (Rechtes Erdbeben in Frankreich), dass sich das linke Wahlvolk gezwungen sah, Chirac "mit zugehaltener Nase" zu wählen. Diesmal sei es die "blindwütige Opposition gegen den amerikanischen Krieg", die "im Namen des Friedens" zu "seltsam dissonanten politischen Allianzen" führe, wie eine handvoll aufrechter Intellektueller seit einigen Wochen ihrem Unbehagen Ausdruck verleiht.

Ein Triumvirat bestehend aus dem Philosophen André Glucksmann, dem Autor Pascal Bruckner und dem Filmemacher Romain Goupil, rückte sich mit dem Anfang März veröffentlichten Appell: Saddam muss gehen, ob freiwillig oder mit Gewalt! ins mediale Rampenlicht und schwimmt seither in zahllosen Fernsehdebatten gegen den "pazifistischen Strom". Den Friedensdemonstranten wird politische Einäugigkeit vorgeworfen, wenn sie Bush als "neuen Satan", "neuen Hitler" und "neuen bin Laden" verteufeln. Der "Meister Bagdads, dieser große Bewunderer Stalins", werde allerdings konsequent vergessen:

"Es ist höchst an der Zeit für ihn, die Szene zu verlassen. (...) Die Post-Saddam-Ära wird nicht rosig sein, aber weniger schwarz als 30 Jahre der Tyrannei, wahlloser Exekutionen und Krieg."

In einem weiteren Aufsatz geißelt Glucksmann die "deutsch-französisch-russische Koalition, der sich China und Syrien angeschlossen haben", als "selbsternannte Achse der Moral", und erinnert an die "100.000 bis 300.000 tschetschenischen Kadaver":

"Über we macht man sich hier lustig? (...) Putin, Jiang Zeming, Muammar Gaddafi, der Libyer, Baschar al-Assad in Syrien: Warum sammelt das "Friedenslager" Henker? (...) Wenn man diesem Pseudo-Friedenslager Gehör schenkt, so ist es immer entweder zu früh (der Irak besitzt keine Atomwaffen: unnötig einzugreifen) oder zu spät (Nordkorea besitzt Atomwaffen: zu gefährlich), um bedingungslos eine kriminelle Wiederbewaffnung zu verbieten."

"Das Aufschluchzen des weißen Mannes"

Pascal Bruckner legt diese Woche in einem Interview noch ein Schäuflein nach und will in der französischen Position "ein Konzentrat aller europäischen Widersprüchlichkeiten" erkannt haben. Einerseits herrsche der "Wille, wie eine Großmacht aufzutreten, andererseits will man sich nicht die Hände schmutzig machen". Der westeuropäische Friede und Wohlstand sei nur dem "amerikanischen nuklearen Regenschirm" zu verdanken:

"Europa lebt in einer Art endlosem Schuldgefühl gegenüber seiner eigenen Geschichte (...) Diese Ideologie des Aufschluchzen des weißen Mannes ist nicht nur bei den pazifistischen Demonstrationen der letzten Tage dominierend, sie durchtränkt unsere Kultur bis in ihre tiefsten Schichten."

Die französischen Befürworter eines "Befreiungskrieges" stammen ebenso wie die Friedensaktivisten aus den verschiedensten politischen Lagern. Die Bandbreite reicht vom ehemaligen, nach wie vor populären sozialistischen Gesundheitsminister Bernard Kouchner bis zu den wenigen neo-liberalen treuen Amerikafreunden, die das Land vorzuweisen hat. Trotz aller inhaltlichen Verschiedenheit scheut man nicht davor zurück, gemeinsam vor die Kameras zu treten, um für einen irakischen "Regimewechsel" zu plädieren.

Für den Soziologen Michel Wieviorka ist dieser erstaunliche Konsens, der in beiden Lagern zu seltsam anmutenden Allianzen führt, nur ein weiteres Anzeichen für die zunehmende Entpolitisierung der Gesellschaft:

"Auf der einen Seite eine Regierung, die unfähig ist, die anstehenden großen Reformen (Staats- und Rentenreform) voranzutreiben und der Arbeitslosigkeit Einhalt zu gebieten (...) Auf der anderen Seite eine quasi auf die sozialistische Partei reduzierte Linke, die noch immer unter dem Schock der letztjährigen Niederlage steht, und die weit davon entfernt ist, eine glaubwürdige Alternative bieten zu können (...) In einer solchen Situation füllt der Aufruf zur Verurteilung des Krieges die Leere und liefert ein moralisches und diplomatisches Substitut für die fehlende Politik."

"B52-Bomber sind auch Massenvernichtungswaffen"

Die parlamentarische Opposition, bislang voll hinter Chiracs und des Außenministers Villepins diplomatischer Verzögerungstaktik stehend, fand denn diese Woche auch einen Anlass, endlich dagegen sein zu können: Das der amerikanisch-britischen Allianz von Chirac gewährte Überflugsrecht wurde von den Sozialisten, den Grünen und den Kommunisten einhellig als "inkonsequent" gerügt. Ein kommunistischer Abgeordneter forderte, dass den B52-Bombern der Überflug verweigert werden solle, "diesen Todesgeräten, die man mit Massenvernichtungswaffen gleichsetzen kann". Villepin verteidigte das gewährte Überflugsrecht als "Gepflogenheit unter Alliierten".

Für einige Unruhe im Lager der Kriegsgegner sorgte auch eine Aussage des französischen Botschafters in Washington, der auf CNN noch vor Kriegsausbruch erklärt hatte, dass ein möglicher Einsatz von chemischen oder biologischen Waffen durch Saddam Hussein, die französische "Einschätzung der Situation völlig verändern" würde. Was freilich schleunigst von Paris wieder abgewiegelt wurde, wo seitdem lieber von "französischer Solidarität" gesprochen wird, die in Form von Zivilschutzmaßnahmen zum Ausdruck gebracht werden würde. Diese Woche sind denn auch bereits 39 ABC-Waffenexperten des französischen Militärs nach Katar entsandt worden. Allerdings nicht auf Anfrage der kriegsführenden Allianz, sondern von Katar.