Ally Allen?

Die Vernetzung von Ally McBeal mit dem Rest des Entertainment-Universums

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Ally McBeal geht, und zwar in doppelter Hinsicht. Letzten Dienstag beschloss die insgesamt 113. Folge die fünfte Staffel der so genannten "Kult-Serie". Die neurotische Anwältin zieht dann einen Schlussstrich unter ihre Jahre in der Bostoner Kanzlei "Cage & Fish", wo sie bis zur Partnerin aufgestiegen war. Doch wenn man geht, geht man selten so ganz - und das gilt für Ally, ihre Chefs Richard und John, die Kolleginnen Nelle Porter und Coretta Lipp, die ehrenwerte Richterin Ling Woo, Sekretärin Elaine Vassal und das übrige Begleitpersonal in Gestalt von Klempnern, Therapeuten, Staats- und Rechtsanwälten in besonderer Weise.

Bilder: Vox

Schließlich ließ Erfolgsautor David E. Kelley seine Protagonisten in beinahe jeder Episode auf Bostoner Bürgersteigen in die Schlussmusik spazieren: mal nachdenklich und melancholisch, mal beschwingt und voller Euphorie. In einem Gespräch für einen der zahlreichen Serienführer wird Autor David E. Kelley mit der Frage konfrontiert, warum die Einzelfolgen so oft mit Einstellungen enden, die die Hauptdarsteller bei abendlichen Spaziergängen durch die Bostoner Back Bay zeigen.

Darauf entgegnete Kelley schelmisch:

Die Figuren erleben tagsüber einfach so viel, dass sie abends auf dem Nachhauseweg noch einmal darüber nachdenken müssen.

Kenner der Kelleyschen Fernsehwelten vermuten hinter der scheinbar so harmlosen Auskunft - zurecht - sehr viel mehr. In Serien wie "Picket Fences", "Chicago Hope", "The Practice" oder eben "Ally McBeal" ist beinahe alles mehr als das, was es vordergründig zu sein scheint. Über diese Doppel- und Mehrdeutigkeiten im vielleicht tiefgründigsten Soap-Universum der modernen TV-Geschichte, in dem sich immer mal wieder Figuren aus verschiedenen Serien über den Weg laufen, ist viel nachgedacht und geschrieben worden.

Allein die fünf "Ally"-Staffeln haben einen Wust von Texten zum (post-)feministischen Frauenbild in urbanen Arbeits- und Beziehungswelten hinterlassen, der seinen Platz längst nicht mehr nur in den Feuilletons, sondern zunehmend auch in der kulturwissenschaftlichen Analyse sucht. So untersuchte ein kürzlich im Bochumer Universitäts-Verlag erschienener Band Raabe unter dem Titel "Unisex und Geschlechterklischee?" die "Aneignungen eines populären Medientextes" anhand von Leitfadeninterviews mit männlichen und weiblichen Serienfans.

Noch selten aber waren die Kurzdramen um Miss McBeal & Co. allerdings Gegenstand einer "ordentlichen" filmwissenschaftlichen Betrachtung - allein die mäßig bis exzessiv eingesetzten Spezialeffekte, die zur Pointierung des Innenlebens der Charaktere verwendet werden, sind einigen Beobachtern aufgefallen. Dass sich David E. Kelley durchaus gewandt auch weit klassischeren Mitteln der Filmsprache bedient, wird so gut wie nie erwähnt.

So erstrecken sich etwa die vielfältigen Verweise auf andere Serien, nicht nur aus eigener Produktion, keinesfalls auf Erwähnungen im Dialog oder die Einblendung eines laufenden Fernsehers. Ein wesentlicher Träger der intermedialen Verstrickungen sind die zahlreichen Gastauftritte bekannter TV- und Kinodarsteller, die nicht nur von deren eigener Prominenz, sondern auch von den bereits gespielten Fernsehcharakteren leben. Gerade der letzten Staffel wurde die permanente Frischzellenkur allerdings zum Verhängnis, denn der exzessive Einsatz von Gaststars glitt mehr und mehr zur Nummernrevue ab. Die immer kürzer werdenden Auftritte ließen unter anderem Jacqueline Bisset, Heather Locklear, Tom Berenger, Christina Ricci oder Matthew Perry nur noch einen engen Spielraum für die Entfaltung ihrer Figuren und erhöhte das ohnehin oft atemlose Tempo der Serie.

Eine weitere tragende Rolle bei der Vernetzung von Ally McBeal mit dem Rest des Entertainment-Universums übernahm die Musik - und dies nicht nur in Gestalt der Bar-Musikerin Vonda Shepard und zufällig vorbei schauenden Kollegen wie Elton John, Barry Manilow oder Anastacia. Wesentlich subtiler operiert Kelley in der Auswahl der in die Serienhandlung eingebetteten Songs und Sounds, die ähnlich wie die schrillen Spezialeffekte zur Unterstützung oder Weiterführung des Plots genutzt werden.

Unvergessen bleiben wird den "Allymaniacs" sicher John Cages Abhängigkeit von Barry White bleiben - ebenso wie die Tradition US-amerikanischer Serienproduktionen, ihre Protagonisten zumindest einmal in ihrem Rollenleben in das Musical-Genre zu entführen. Die Folge "The Musical, Almost" zum Abschluss der dritten Staffel liefert ein schönes Beispiel für den virtuosen Umgang mit einem Kapitel Filmgeschichte im Fernsehformat.

Gelegentlich werden über die Ebene der Musik aber auch Verflechtungen mit der Fernsehgeschichte hergestellt - so wird bei einem der üblichen After-Work-Besuche in der Bar ein Medley aus Erkennungsmelodien alter TV-Seifenopern dargeboten. In dieser Szene wird Ally auch einmal direkt angesungen, und zwar mit "Where Love is All Around" - dem Titelsong der "Mary Tyler Moore Show", der ersten Serie mit einem berufstätigen weiblichen Single in der Hauptrolle. Mit Blick auf den Aufbau eines enormen Verweisapparates, der scheinbar spielerisch andere Produkte populärer Unterhaltungskultur in Inhalt und Ästhetik der Serie eingliedert, muss man sich um den Fortbestand von "Ally McBeal" keine Sorgen machen. Selbst wenn aus dem äußerst obskuren Personalbestand keine "Spin-Off"-Serie hervor gehen sollte (und danach sieht es ein Jahr nach dem Ende der Serie in den USA nicht aus), so ist "Ally McBeal" schon längst in das kulturelle Gedächtnis der Film- und Fernsehschaffenden eingegangen - aus Deutschland grüßen zum Beispiel das nervöse Moderationsbündel "Anke" oder die Anwälte "Edel & Starck".

Und vor diesem Hintergrund der bis ins hypertrophe gesteigerten Referenzen und Verweise sollen gerade die prominenten Schlusssequenzen nicht mehr sein als ein Atemholen und Nachdenken der Charaktere? Ganz sicher nicht. Zunächst wäre dabei auf eine Besonderheit US-amerikanischer Dramaturgie zu verweisen: so kennt das "klassische Hollywood", wie es etwa der Filmwissenschaftler David Bordwell beschreibt, neben dem erzählerischen Schluss ("narrative closure") noch ein zusätzliches Ende. Die Hauptfunktion dieser so genannten "endings" ist der Versuch, den Zuschauer vergessen zu lassen, dass zahlreiche Handlungsstränge der Episode nicht vollständig aufgelöst worden sind.

Für die Konstruktion einer Serienhandlung, die ja per se nicht mit dem Ende einer Episode beschlossen werden kann, sind solche "endings" geradezu zwingend erforderlich. Kelley setzt diese erzählerische Struktur bei Ally McBeal nun geradezu unterkühlt ein, denn das typische offene Ende von Serienelementen ist schließlich der so genannte "cliffhanger" - also das demonstrative Ausblenden einer spannenden oder actionreichen Szene vor ihrer dramaturgischen Auflösung: sich wie von Geisterhand öffnende Türen, aufgerissene Augen und bemüht überraschte Gesichter, nicht nur deutscher Serienstars und -sternchen, dominieren die Schlussbilder im seifengetränkten Fernsehalltag. Bei Ally McBeal geht man also in das Ende der Episoden hinein, man schlendert und flaniert, alleine oder zu zweit, verzweifelt oder beschwingt durch die Straßen von Boston. Inszeniert wird dabei neben den Hauptakteuren der wesentlichen Handlungsstränge vor allem auch die Bostoner Back Bay, ein pittoresk anmutendes Stadtviertel der Hafenstadt im Rücken der geschäftigen Downtown, nahe am Charles River. Gerne auch jahreszeitlich eingefärbt, bilden Schaufenster, dampfende Kanaldeckel, Ruhebänke, Straßenlaternen und Treppenaufgänge eine wahrhaft erholsame Kulisse, um sanft in das Vakuum bis zum nächsten Sendetermin geleitet zu werden. Allein in den Charakteren brodelt es - da nicht nur Allys Leben dauerhaft in Trümmern zu liegen scheint, sind die Momentaufnahmen der nachdenklichen Großstadtbewohnerin und ihrer Freunde vor allen Dingen eines: Fassade.

Dies gilt im übrigen auch für die Filmkulisse, denn diese "Außenszenen" wurden mitnichten in einem besonders englisch anmutenden Teil Bostons gedreht, sondern in einer Studiokulisse mit dem bezeichnenden Namen "New York Street", die in den kalifornischen Paramount-Studios aufgebaut ist. Man darf guten Gewissens vermuten, dass Kelley solches "trompe lŽoeil" nicht ohne Hintergedanken einsetzt - Szenen, die das Schlendern als filmisches Element einsetzen, gibt es zur Genüge.

Nicht erst die indirekte Verbindung der "New York Street" dürfte aufmerksame Beobachter an Woody Allens epische Nutzung des Big Apple als Bühne erinnern - nur dass in den Straßenszenen des Stadtneurotikers vom Hudson in der Regel unentwegt geredet wird. Ally McBeals Umzug just nach New York bringt sie also in die Nähe eines anderen Seelenverwandten - und war es nicht genau das, was sie seit Beginn ihrer Karriere bei "Cage & Fish" immer gesucht hat?