SARS: Die WHO ist nicht weniger zahnlos als die Vereinten Nationen

Die Aufklärung bleibt im Ungefähren, die Durchsetzung essentieller Ordnungsmechanismen scheitert an nationalen Eigenheiten, und gegen staatlichen Widerstand ist die WHO machtlos

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Wäre nicht die Pressefreiheit, wir hätten keine Angst vor SARS. Nun aber behauptet sich das Severe Acute Respiratory Syndrome sogar gegen die Schlagzeilen aus dem Irak. Allerdings sind die wahren Gründe wirtschaftlicher Art: Arbeitsausfall in Singapur und Taiwan, versiegende Touristenströme in Hongkong, keine Handlungsreisenden sowie leere Flugzeuge über dem Pazifik. Die Ursache, die Krankheit nämlich, köchelt im Verborgenen.

Verschärfter Schutz in Hongkong: die Übertragung des Erregers ist weiterhin mysteriös

Infektionskrankheiten haben ein "Täterprofil"

Ansteckende Krankheiten laufen nach einem simplen Schema ab: Der Erreger tritt auf, setzt sich im Körper fest und erzeugt nach einer bestimmten Zeit die sichtbare Erkrankung. Die kann zum Tode führen, so schnell wie beim Ebola-Virus oder so langsam wie bei Aids. Sie kann ausheilen oder mit Defekten abheilen. Bei Viruserkrankungen wehrt sich der Körper und bildet Antikörper gegen das Virus. Daraus erwächst häufig der Schutz vor einer Neuinfektion. Der Nachweis von Antikörpern hilft, eine stattgehabte Infektion zu erkennen.

Nachteilig ist allerdings, dass die Antikörperbildung im Mittel 4-6 Wochen braucht, und der Mikrobiologe zuvor herausfinden muss, wonach er suchen soll. Wie gefährlich die Infektion ist, bemisst sich an der Sterberate und dem therapeutischen Aufwand. Eine weitere Komponente ist die Gefahr der Ansteckung: sie ist extrem hoch, wenn der Erreger durch die Lüfte dahin getragen wird, und sie ist niedrig, wenn es dazu wie bei Aids den intimen körperlichen Kontakt braucht.

Die WHO redet um den heißen Brei herum

Die WHO hat eine eingängige Definition der Erkrankung gefunden und im Eifer übersehen, dass unter diesen Kennzeichen jeder normale Grippekranke fälschlich SARS- verdächtig ist. Um Panik zu vermeiden, wurde bereits wenige Tage später abgewiegelt. So kam SARS in die Mühlen der nationalen Gesundheitsdienste.

Für die WHO eine bequeme Entwicklung, weil die Verantwortlichen in Genf hätten zugestehen müssen, dass sie zwar einen Namen gekürt haben, nicht aber die ärztlicherseits für eine Krankheit geforderten unverwechselbaren Merkmale. Vom Erreger wird vermutet, dass es sich um ein Virus handelt. 3 Kandidaten ringen um das Interesse der Mikrobiologen. Wer recht hat, werden wir irgendwann einmal wissen, dann nämlich, wenn bei allen Patienten derselbe Erreger dingfest gemacht ist. Über die Antikörper lässt sich erst reden, nachdem Anstieg und Abfall im Verlauf der eindeutig definierten Krankheit bei mehreren Personen nachgewiesen sind.

Weil der wirkliche Erreger immer noch eine Tarnkappe trägt, und sich die Antikörper-Tests im außerordentlich frühen Versuchsstadium befinden, ist die Art der Übertragung im Grunde unbekannt. Durch die Ansteckung bewiesen ist, dass Schwestern, Pfleger und Ärzte, die mit Schweiß, Speichel oder Blut in Kontakt kamen, erkranken. Offenbar reicht der fernere Kontakt wie sie die Betreuung durch Flugbegleiter mit sich bringt ebenfalls aus. Inzwischen wird befürchtet, dass der Erreger nicht nur beim Husten in kleinen Tröpfchen durch die Luft fliegt, sondern außerhalb des menschlichen Körpers weiterlebt und durch den Wind oder die Klimaanlage verbreitet werden kann.

Gibt es eine wirksame Behandlung? Niemand weiß es, solange der Erreger unbekannt ist. Die bisherigen Heilungserfolge beruhen auf der guten Konstitution der Betroffenen und einem gewissen Maß ärztlicher Leistung: die künstliche oder assistierte Beatmung in der Phase der stärksten Lungenschädigung sorgt dafür, dass der Kranke die Zeit übersteht bis er aus eigener Kraft wieder genesen kann. Diese nüchterne Bestandsaufnahme ist die WHO bisher schuldig geblieben.

Bei unbekanntem Erreger muss die Ansteckungsgefahr verringert werden

So sehr die Todesfälle Schlagzeilen machen, ist SARS dennoch nicht übermäßig gefährlich. 84 Tote bei bisher 2353 Erkrankten bedeuten eine Mortalität von 3,5 Prozent. Demgegenüber rafft das Ebola-Virus 80 Prozent der Kranken dahin, und das Pockenvirus 40-50 Prozent in einer mäßig durchseuchten Population. Die Befürchtung der kanadischen Ärzte ist deshalb der Chinareisende, der den Erreger nach seiner Rückkehr ins heimische Krankenhaus einschleppt und auf die dort befindlichen geschwächten oder besonders infektanfälligen Patienten überträgt. Deshalb wird zunehmend Kritik laut, wonach die WHO die schonungslose Aufklärung der privat und beruflich Reisenden schlichtweg vertrödelt habe.

"Ein Netzwerk der Willigen," nennen die Vertreter der WHO die Zusammenarbeit von Labors aus Singapur und Deutschland. Keineswegs willig, sich binden zu lassen, waren die kanadischen Behörden und die amerikanischen Wissenschaftler am Centers for Disease Control and Prevention (CDC). Kanada geht den Weg der Quarantäne. In den USA befassen sich allein im CDC mehr als 200 Wissenschaftler bzw. 18 interdisziplinäre Arbeitsgruppen mit SARS. Mit 20 US Wissenschaftlern, die nach China entsandt sind, stellen selbst dort die USA den größten Anteil an Spezialisten.

Die nordamerikanischen Fachleute werden durchgehend vom Prinzip "Vorsorge ist besser als Heilen" geleitet. Deshalb empfahlen sie ihren Bürgern bereits unmittelbar nach Ausbruch der Epidemie, alle aufschiebbaren Reisen in die betroffenen Gebiete (Guangdong, Hongkong, Vietnam, Singapur und Taiwan) zurückzustellen. An den kanadischen Flughäfen sind Ärzte an den Schaltern der Einwanderungsbehörde postiert, die alle Einreisenden in Augenschein nehmen und Personen aussondern, die fieberhaft frösteln oder durch Schnupfen, Husten und andere grippeähnliche Reaktionen auffallen. Julie Gerberding, Direktorin der CDC, fürchtet seit Anbeginn Überraschungsmomente, weil die frühen Daten Auffälligkeiten zeigen, die nicht in den Ablauf einer gewöhnlichen Infektion passen. Inzwischen werden US Diplomaten samt ihrer Familien aus Peking zurückgerufen, "sofern sie nicht unbedingt vor Ort gebraucht werden."

Am Abend des 4.April hat der US Präsident ein Gesetz unterschrieben, das in den USA die Quarantäne für SARS- Verdächtige implementiert. Was für Nordamerika gut ist, hätte man sich als weltweites Konzept der WHO gewünscht. "Wir leben in einem globalen Dorf und müssen uns darauf einstellen, dass gefährliche Infektionen zur Normalität gehören: je dichter die Menschen zusammenleben, und je mehr sie reisen," beschreibt Julie Gerberding ihr Verständnis von SARS.

Das zu späte Reiseverbot der WHO

Als die WHO vor zwei Tagen dem nordamerikanischen Vorbild folgte und eine Reiseverbot für die Provinz Guangdong sowie Hongkong aussprach, äußerte sich erstmals der chinesische Gesundheitsminister Zhang Wenkang.

Natürlich dürfen die vor einer Woche in Peking eingetroffenen WHO-Experten nach Guangdong reisen und mit den dortigen Medizinern diskutieren. Dank der guten chinesischen Medizin ist die Epidemie in der Provinz bereits im Abklingen. Von einer chinesischen Quelle zu sprechen, ist jedoch falsch. Auch bei Aids spricht niemand von einer amerikanischen Quelle, obwohl der erste Aids-Kranke in den USA diagnostiziert wurde.

Für ihn als chinesischen Gesundheitsminister sei alles geklärt und ein Reiseverbot nach China völlig unnötig. Warum man die WHO- Experten in Peking hat warten lassen? "Wir waren um ihre Gesundheit besorgt. Auch waren wir nicht untätig. Unsere eigenen Fachleute haben zwischenzeitlich bereits alle erforderlichen Informationen zusammengetragen," erklärt ergänzend der Pressesprecher des Ministeriums.

Den WHO-Experten in China geht es wie den Waffeninspektoren im Irak: sie sind unerwünschte Eindringlinge. Politische Gründe haben Vorrang, und nicht das Wohlergehen der Menschen. Fünf Monate, nachdem die ersten Kranken in Guangdong zu Tode kamen, nimmt die Zentralregierung in Peking erstmals Notiz, weil der chinesische Welthandel durch die rasche weltweite Verbreitung der ansteckenden Erkrankung getrübt wird.

Die Ohnmacht der WHO

Glücklicherweise hält die von der Presse weltweit geschürte Angst um SARS viele Geschäftsleute und Touristen ab, nach China und in andere asiatische Staaten zu reisen. Das Reiseverbot mit einem durchgängigen Konzept zu begründen und durchzusetzen, hätte zur symbolträchtigen Aufgabe der WHO werden können. Die Chance, "das globale Dorf" fachkundig zu versorgen, wurde vertan. Statt dessen überlässt die WHO die Entscheidung den nationalen Gesundheitsämtern, die, wie in Australien und Neu Seeland, seit einer Woche darauf dringen, dass grundsätzlich alle chinesischen Delegationen und Besucher ausgeladen oder, falls sie dennoch anreisen, mit derselben Maschine wieder zurückgeschickt werden.

In den USA weist man darauf hin, dass die WHO in ihrer Geschichte, die an die Bildung der Vereinten Nationen im Jahr 1948 geknüpft ist, nur einmal erfolgreich war, nämlich unter Leitung des US Wissenschaftlers Tommy Thompson, der die weltweite Ausrottung der Pocken durchsetzte. Alle anderen weltweit bedeutsamen Erkrankungen, ob Malaria, Aids oder das geheimnisvolle Ebola- Virus, werden beobachtet und endlos diskutiert. Die Plattform der Unentschlossen ist das Global Outbreak Alert and Response Network mit über 100 Partnern sowie 11 Labors in 10 Ländern.

Sollten sich die Experten nach langem Hin und Her tatsächlich einmal darauf einigen, dass ein Ereignis die öffentliche Gesundheit gefährdet, bleibt die WHO ein Papiertiger: weder die World Health Organization noch die Vereinten Nationen haben die nötige Macht, mit der sie ein Land zwingen können, Abhilfe zu schaffen oder Sicherheitsmaßnahmen durchzusetzen.