Ist die "Generation Golfkrieg" nur ein Medienphänomen?

Protestforscher Dieter Rucht zweifelt an der Langlebigkeit eines überraschenden politischen Engagements

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Seit den späten 60er Jahren gehören jugendliche Protestbewegungen zum politischen Alltag der Bundesrepublik. Doch dass ein Krieg im fernen Irak hierzulande noch einmal eine regelrechte Massenbewegung auslösen könnte, kommt selbst für gläubige Befürworter außerparlamentarischer Aktivitäten einigermaßen überraschend. Noch unglaublicher erscheint freilich der Umstand, dass die Protestwelle diesmal nicht von den Universitäten, sondern von den Schulen ausgeht. Nach einer Untersuchung des Berliner Wissenschaftszentrums für Sozialforschung haben sich 34% der 14- bis 19-Jährigen an Demonstrationen und anderen Protestkundgebungen gegen den Irakkrieg beteiligt, während der Anteil der Gesamtbevölkerung gerade einmal bei 15% lag. Trotzdem glaubt der Sozialforscher Dieter Rucht nicht an eine langfristige Politisierung der Jugend.

Dabei deuten die Ergebnisse einer Zufallsbefragung, die auf knapp 800 ausgewerteten Fragebögen basieren, zunächst genau in diese Richtung. 23,5% der 14- bis 19-Jährigen sehen ihre politische Heimat "weit links" (18,6% der Studenten), und glatte 17% sind mit dem Zustand der Demokratie in Deutschland "überhaupt nicht" zufrieden (Studenten: 14,3%). Überdies hätten 53,7% der befragten SchülerInnen einen Krieg gegen den Irak auch dann abgelehnt, wenn er vom Sicherheitsrat gebilligt worden wäre (Studenten: 41,4%).

Muss man sich auf der politischen Bühne also Sorgen machen, dass der eigene überkritische Nachwuchs den mühsam verbreiteten Mehltau, der jede Innovationsfreude und Flexibilität erfolgreich erstickt, in ein paar Jahren hinwegschwemmen wird? Nein, ganz so schlimm wird es nicht kommen, meint Dieter Rucht, der die schlagzeilentauglich ausposaunte "Generation Golfkrieg" vor allem für ein Medienphänomen hält. Die prominente Rolle der Schülerinnen und Schüler in der aktuellen Antikriegs-Bewegung ist nach Einschätzung des Wissenschaftlers im wesentlichen auf fünf Ursachen zurückzuführen, die allesamt zeitlich limitiert sind.

"Ein erster und wichtiger Faktor ist die im frühen Jugendalter besonders ausgeprägte Empfindlichkeit für Widersprüche zwischen hehren Idealen und einer davon weit entfernten Wirklichkeit", sagt Rucht. SchülerInnen reagieren schon auf unscheinbare Anzeichen vermeintlicher Ungerechtigkeit und empören sich deshalb ums so mehr über "einen Politiker wie George W. Bush, der im Namen Gottes und demokratischer Werte einen Angriffskrieg zur 'Befreiung' eines Volkes beginnt, obgleich damit internationales Völkerrecht flagrant verletzt, die Mehrheit der Staatengemeinschaft missachtet wird und zudem keine unmittelbar drohende Gefahr vorliegt." Darüber hinaus dienen Demonstrationen und Protestkundgebungen der psychischen Entlastung der Jugendlichen, die sich mehrheitlich übrigens durchaus darüber im klaren sind, dass ihre Aktionen den aktuellen Kriegsverlauf nicht beeinflussen können.

Außerdem glaubt Rucht, dass die politische Sozialisation der heutigen Schülergeneration eine entscheidende Rolle spielt. Das Verhältnis zu ihren in den 70er oder frühen 80er Jahren geborenen Eltern ist sehr viel konstruktiver als das einer Generation, deren Eltern in der Jugend die gesellschaftlichen Umwälzungen der späten 60er Jahre erlebten, weil sie eine "auf lebensweltliche Probleme zielende Protestbereitschaft" - gegen Nachrüstung, Atomkraftwerke, Castor-Transporte etc. - als ein Verhalten kennen gelernt haben, das in einer desillusionierten Gesellschaft durchaus angemessen zu sein scheint.

Aus diesem Gesichtspunkt ergibt sich zwangsläufig ein verbreitetes "Unbehagen gegenüber den etablierten Formen politischer Interessenvertretung in Gestalt hierarchischer Verbände und Parteien". Dass diese mit dem Begriff Politikmüdigkeit sehr schmeichelhaft umschriebene Haltung nicht zu einem vollkommen Rückzug aus dem öffentlichen Raum führt, könnte - viertens - auch damit zusammenhängen, dass die Antikriegs-Demonstrationen von den Schülern als willkommene Abwechslung und überschaubare, weitgehend folgenlose Regelverletzung wahrgenommen werden. Viele von ihnen gaben auf Nachfrage zu Protokoll, dass die derzeitigen Aktionen ganz einfach "Spaß machen".

Schließlich betont Rucht, dass die Medienaufmerksamkeit der letzten Wochen entscheidend zur Motivation der Jugendlichen beigetragen haben könnte. Öffentliche Beachtung und Anerkennung, ausschwärmende Fotografen und Filmteams unterstreichen die Relevanz der Ereignisse. Das eigene Engagement lässt sich so nochmals "in der Lokalzeitung oder gar in der Tagesschau nachvollziehen, so dass man sich seiner eigenen Bedeutung vergewissern kann".

Gruppendynamische Prozesse und die seltsam anmutende Bildung eines Friedensmarktes, auf dem bereits zahllose Merchandising-Artikel kursieren, lässt der Protestforscher weitgehend unberücksichtigt, kommt aber auch so zu dem Schluss, dass die genannten Phänomene in absehbarer Zeit nicht mehr existent sein und außerdem unvermeidlich Ermüdungserscheinungen und déja vu-Reaktionen eintreten werden.

Gleichwohl rechnet Rucht durchaus mit "Langzeiteffekten bei einer Minderheit junger Demonstranten. Geprägt durch die Erfahrung dieses Kriegs und seiner Hintergründe, geprägt auch durch die Erfahrung der Relativität von Medienperspektiven, werden diese Jugendlichen ihre politische Kritik weitertreiben. Damit bilden sie ein erhebliches Potenzial für eine politische Mobilisierung in thematisch verwandten Protestfeldern, nicht zuletzt der Globalisierungskritik." Wie groß und einflussreich dieses Potenzial sein kann, bleibt bis dahin abzuwarten.