Häufig ist eine Reaktion bloßes Nachäffen

Imitation als Grundelement menschlichen Lebens

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"Empfindsame Menschen sind gute Imitatoren. Sie erspüren die Situation und passen sich in ihren Reaktionen darauf an," sagt Marco Iacoboni vom Ahmanson-Lovelace Brain Mapping Center in Los Angeles, der mit amerikanischen und italienischen Kollegen in den Proceedings of National Academy of Sciences (PNAS) eine Studie vorlegt, die sich auf das "Brainmapping" mittels funktioneller Magnetresonanztomographie stützt.

Jeder weiß es: Lachen steckt an, ebenso wie die miesepetrige Stimmung. Und wir freuen uns diebisch, wenn ein Anderer die Situation verkennt und daraus den falschen Schluss zieht. Psychologen haben dieses Verhalten bereits nach allen Regeln der Kunst analysiert. Dennoch ist bis zur Untersuchung aus Los Angeles ziemlich unklar geblieben, wo und wie im Gehirn die Emotionen entstehen. Dass man Stimmung sehen und spüren kann, beweisen die Filmemacher immer wieder aufs Neue. Gleichwohl ändern sich die Szenen im Laufe der Jahre, und Hitchcock erzeugte keineswegs in allen Kulturkreisen mit Gewitter, peitschendem Wind, klappernden Fensterläden und wehenden Vorhängen so etwas wie angespannte Spannung oder Angst. Das ist ein wesentlicher Unterschied etwa zu den Vögeln, bei denen die Attrappe eines Feindes von Beginn an den Fluchtreflex triggert.

Dennoch, so haben die Psychologen gefunden, sind Gesichtsausdruck und Körperhaltung für die menschliche Reaktion von eminenter Bedeutung. Daraus schließen die Neurophysiologen, dass bestimmte Merkmale übertragbar sind. Das wiederum setzt einen mehrstufigen Prozess voraus: der Mensch beobachtet die Reaktion seiner Zielpersonen, zieht daraus seine eigenen Schlüsse, und reagiert dementsprechend. Frühere Untersuchungen brachten den Forschern eine überraschende Erkenntnis: häufig ist die Reaktion bloßes Nachäffen.

Auf diese Beobachtungen baut das jüngste Experiment auf. Um den Auslöser zu standardisieren, werden einem Dutzend Testpersonen Gesichter gezeigt von Menschen, die glücklich, traurig, ärgerlich, ängstlich, überrascht oder ablehnend dreinschauen. Zusätzlich kommen Gesichtsausschnitte, nämlich nur die Augen, der Mund oder die Gesichtszüge zur Darstellung. Nun werden die Probanden aufgefordert, die Stimmung der Vorlagen entweder nüchtern einzuschätzen, oder sich von der vermittelten Stimmung treiben zu lassen. Während dieser Aktionen und Reaktionen dient das bildgebende Verfahren dazu, die Stimulation der Gehirnzentren zu prüfen.

Verstand (grün) und Gefühl (gelb) werden in der Relaisstation (blau) zur Emotion umgeformt

Erwartungsgemäß projiziert sich das Erkennen in die Regionen des Großhirns (grünes Areal in der Abbildung), die üblicherweise für die rationalen Entscheidungsprozesse aktiviert werden. Von hier aus gehen nach dem Einschätzen der Situation die motorischen Reaktionen aus, wenn man sich beispielsweise den Bauch vor Lachen hält, vor Angst vibriert oder die Mundwinkel zur Trauermine herunterhängen lässt. In dem Moment, in dem das eigene Gefühl hinzutritt, wird allerdings eine zweite Zone (gelbes Areal in der Abbildung) aktiviert. Sie liegt tief verborgen unterhalb des Großhirns, also in einem entwicklungsgeschichtlich alten Hirnteil, den wir mit den Nicht-Primaten gemeinsam haben.

Das Besondere ist nun, dass diese Aktivitäten an eine mächtige Relaisstation weiter gegeben werden, nämlich das Zentrum in der vorderen Insula (blaues Areal in der Abbildung). Hier, im limbischen System, kreuzen auch jene Nervenstränge, die unsere Motorik bestimmen. Das limbische System ist reich an Neurotransmittern und Hormonen, von denen bekannt ist, dass sie den Fluchtreflex triggern oder, wie die Endorphine, nicht nur den Sportler schmerzunempfindlich machen.

Stereotypien, die uns wohl vertraut sind, sind die in unserem Umfeld üblichen Handlungen. "Wenn wir sehen, wie sich ein Mitfühlender der gramgebeugten Mutter zuwendet, die Hand tröstend auf ihrer Schulter legt und ein betroffenes Gesicht macht, ist es die Imitation dessen, wie sich die Umgebung verhält," erklärt Marco Iacoboni.

Dabei spielt der Gesichtsausdruck eine beherrschende Rolle. Was hier experimentell gefunden wird, bestätigt Erfahrungen mit Kindern, die nach einem Sturz zu weinen aufhören, wenn sie sofort hochgenommen und lachend abgelenkt werden. Bei Senioren führt die alterstypische Zuspitzung der Persönlichkeit zu ähnlichen Effekten: der unvermittelte Stimmungsumschwung vom Lachen zu Tränen, sobald eine traurige Begebenheit aufkommt, und wieder zurück, falls ein Witz erzählt oder an ein freudiges Ereignis erinnert wird.

Die neuen Ergebnisse helfen Phänomene erklären, die bisher als Effekte und nicht als ursächliche Einflüsse bewertet wurden, nämlich Nachahmungstrieb und Körpersprache. Da ist einmal die Verführung der Massen, von der politisch motivierten Zur-Schau-Stellung bis hin zur tödlichen Panikreaktion im Lichtspieltheater. Die Menschen reagieren wie Herdentiere und folgen blindlings dem Leithammel. Auch bekommt der Volksmund mit den Redewendung vom "Vollblutpolitiker" oder "trockenen Zeitgenossen" einen wissenschaftlichen Hintergrund. Neurophysiologisch bedeutet es, mit oder ohne Emotionen handeln. Und schließlich entpuppt sich der "Triebtäter" als ein Mensch, der von seinem animalischen Instinkt angetrieben wird und das Menschliche ausschaltet, nämlich auf die entsetzten Reaktionen seiner Umgebung zu reagieren.

Nachdem Marco Iacoboni und Kollegen erkannt haben, dass die Imitation ein Grundelement des menschlichen Lebens ist, können wir daran gehen, die Erkenntnis umzusetzen: im Zusammenleben in der Familie ebenso wie zwischen den Kulturen.