Wann kippte der erste Dominostein?

Heute jährt sich das Schulmassaker am Gutenberg-Gymnasium, eine Aufsatzsammlung sucht nach Erklärungen

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Wie konnte es am 26. April 2002 so weit kommen, dass ein ehemaliger Schüler des Gutenberg-Gymnasiums in Erfurt 16 Menschen ermordete und sich danach selbst erschoss? Max Hermanutz (Polizeipsychologe) und Joachim Kersten (Polizeisoziologe) schreiben: "Solchen Fällen ist ein massives aggressives Vorgehen gemeinsam, das abläuft, als ob eine lange Reihe aufgestellter Dominosteine mit zunehmender Schnelligkeit umfällt, ausgelöst durch das Antippen eines einzigen Steins." Ihr Aufsatz ist Bestandteil des Buchs "Der Amoklauf von Erfurt", einem Versuch, einige der Dominosteine und deren Folgen einzuordnen.

Heute vor einem Jahr starben 12 Lehrer, zwei Schüler, die Schulsekretärin und ein Polizist, umgebracht von Robert Steinhäuser. Der 19-Jährige war Monate vor seinem Amoklauf vom Gutenberg-Gymnasium verwiesen worden. Davon hatte er seinen Eltern nichts gesagt, und als er am Morgen das Haus verließ, wünschte ihm seine Mutter viel Glück bei der Abiturprüfung. - die seine ehemaligen Klassenkameraden zu bestehen hatten. Bewaffnet mit einer Pumpgun und einer Pistole, die er als Sportschütze besaß, stürmte er während jener Prüfung als eine Art Ninja-Kämpfer verkleidet seine ehemalige Schule, wurde zum Massenmörder und brachte sich schließlich selbst um.

Schnell kursierten in der Medien Schuldzuweisungen: Steinhäuser habe das Morden bei Ego-Shootern wie "Counterstrike" gelernt; andere gaben dessen Vorliebe für Horrorfilmen und der Musik der Metalband Slipknot die Schuld; wieder andere suchten die Verantwortung in zu laxen Waffengesetzen und Steinhäusers Vereinssportschützenmitgliedschaft; auch die Eltern, die ihr Kind vernachlässigt hätten, seine Lehrer und die Schulpolitik mussten sich Vorwürfe gefallen lassen - der Junge habe nie Anerkennung erfahren und habe diese wohl mit seiner Tat nachträglich, wenn auch im negativen Sinn, finden wollen.

Vielen jener Vorwürfe forscht "Der Amoklauf von Erfurt" nach. Am Ende bleibt indes nur die Erkenntnis, eine Kette von "Dominosteinen" - Ereignisse, Vorfälle und Vorliebe im Leben des Mörders - habe zu dem Schulmassaker geführt. Antworten hierzu sucht etwa der Erziehungswissenschaftler Reinhard Kahl zwischen Erfurt, der Schülerstudie "Pisa" und dem liberalen finnischen Schulsystem. Zur Situation der deutschen Gesellschaft schreibt er: "Nach der Katastrophe (...) wird eine der Ursachen in den Gewaltdarstellungen der Medien vermutet. Aber steckt dahinter nicht ein ganz anderes Medienproblem? Denn das wichtigste Medium der Menschen ist doch ihre Sprache." Für Kahl ist der Schulbetrieb überdies oft keine Lehranstalt, sondern der Ort eines Art "Kleinkriegs" zwischen Jugendlichen und Autoritäten, "die bloß ihre Fächer, nicht aber ihre Schüler unterrichten". Dort mache Lernen keinen Spaß, ergo: "Die deutsche Lernkultur härtet nicht ab, sie macht dumm."

Amokläufer, schreibt Lothar Mikos, kehren an "den Ort der Kränkungen zurück, um sich zu rächen." Gemeint sind damit nicht speziell die Mitschüler und Lehrer, sondern ein komplexes Ineinandergreifen vieler Faktoren. Ausschlag gebend sei wohl der Umstand gewesen, dass Gymnasiasten in Thüringen ohne das Abitur keinen der für ihr weiteres Leben enorm wichtigen Schulabschlüsse haben. In der Leistungsgesellschaft der Untergang. Dennoch sei auch das wohl nur der Start des "Automotors" gewesen. Dieser würde aber nicht alleine mit dem Drehen des Zündschlüssels starten, es komme zu einem "komplexen Zusammenspiel von Zündschloss, Elektronik, Anlasser, Zündkerzen, Benzineinspritzung usw." Der Medienwissenschaftler Mikos schlussfolgert daher:

"Die Medienprodukte, die Robert Steinhäuser konsumiert hat, waren nicht der Auslöser seiner Tat, da es keinen direkten Zusammenhang zwischen den symbolischen Darstellungen der verschiedenen Medien und Taten in der sozialen Wirklichkeit gibt. Allerdings hat er aus deren symbolischen Angebot das ausgewählt, das seiner Lebenswirklichkeit am nächsten kam und seinen Gefühlen am besten Ausdruck verliehen hat." Etwa "Counterstrike" und "Quake".

Jene wissenschaftliche Vertiefungen zum Thema dürften auch für Telepolis-Leser interessant sein. Anders verhält sich dies beim Aufsatz von Susanne Eichner: "Vom Mythos der Ballerspiele. Ein Einblick in die aktuelle Computerspiellandschaft." Sie richtet sich an Laien, die in Jugendarbeit oder Schule tätig sind und denen das Mindestwissen über Computerspiele fehlt - sie könnten alleine die Spiele verantwortlich für die Tat machen. Hierzu indes stellt die Medienwissenschaftlerin fest: "Spiele sind Spiele und nicht Realität, weil sie eigenen Regeln folgen und sich so von anderen Alltagshandlungen unterscheiden." Wobei Hermanutz und Kersten hernach in ihrem Beitrag über die Geschichte und Psychologie von Amokläufern ebenso zu bedenken geben, in einer Untersuchung mit Polizeischülern sei festgestellt worden, "dass durch das Spielen an Computer und Playstation mit Schießspielen die Schießergebnisse mit einer richtigen Schusswaffe verbessert werden können."

Das Buch enthält ebenso Beiträge von Betroffenen, etwa der Schülervertreterin Melanie Mecke: "Fremde Personen logen einem vor, dass sie Angehörige von bestimmten Lehrern seien und gerne Auskünfte bekommen würden. Es stellte sich heraus, dass es Reporter von der Bild waren." Michael Siegel, gleichfalls Leiter der Landeszentrale für politische Bildung in Thüringen und Vater eines Sohnes, der während des Amoklaufs in der Schule war, beschreibt die damalige Situation. Der Psychotherapeut Rüdiger Bürgel geht darauf ein, dass Schüler, Lehrer und Eltern noch lange psychologisch betreut werden müssen und die Schulleiterin Christiane Alt resümiert: "Wir sind im April 2003 am Anfang des Weges."

Archiv der Jugendkulturen (Hg.): Der Amoklauf von Erfurt. Verlag Thomas Tilsner & Archiv der Jugendkulturen; Berlin 2003, 110 Seiten