Die Zahlenkünstler

Über Zweideutigkeiten in den offiziellen Armutsstatistiken der Weltbank

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Eigentlich müsste es relativ einfach sein, festzustellen, ob die Armut auf dieser Welt in den letzten zehn und zwanzig Jahren angestiegen, gesunken oder annähernd gleich geblieben ist. Fragt man die Weltbank und den Internationalen Währungsfond (IWF), dann ist die Antwort eine erstaunliche: Sie wissen es nicht.

Dabei geben sie sich solche Mühe. Datenmaterial wird erhoben, Kriterien werden erstellt und die Ergebnisse werden in aufwändigen Verfahren kompiliert und aufbereitet, so dass sie den Entscheidern in Politik und Wirtschaft zur Verfügung stehen. Die Armen dieser Welt mögen arm sein, aber ihre Armut wird immerhin mit den fortschrittlichsten Methoden gemessen, die zur Verfügung stehen.

Konträre Ergebnisse

Die Weltbank ist, wie Professor Angus Deaton in seinem Text Is World Poverty Falling? für den IWF beschreibt, effektiv die einzige Organisation weltweit, die globale Armutsstatistiken erhebt und verwaltet. Peinlich nur, dass Professor Deaton in dem gleichen Text untersuchen muss, wie zwei unabhängig voneinander durchgeführte Untersuchungen über den Stand der Dinge nahezu gleichzeitig zu fast konträren Ergebnissen kommen. Und das bei der simplen Frage, ob die Zahl der Menschen, die mit einem Dollar pro Tag auskommen müssen, in den letzten zwanzig Jahren gewachsen oder gefallen ist. Das zentrale Rätsel beschreibt Deaton gleich zu Anfang seines Texts:

Die erste Tabelle im Weltentwicklungsbericht der Weltbank von 2000/2001 mit dem Namen "Die Armut angreifen" zeigt, dass die Anzahl von Menschen weltweit, die mit weniger als 1$ pro Tag auskommen müssen, zwischen 1987 und 1998 von 1,18 Milliarden auf 1,20 Milliarden angewachsen ist, also um 20 Millionen.

Kaum zwei Jahre später stellte eine andere Weltbankveröffentlichung ("Globalisierung, Wachstum und Armut: der Weg zu einer gerechten Weltwirtschaft") in einer zentralen Auflistung fest, dass die Anzahl der Menschen, die in Armut leben, zwischen 1980 und 1998 um 200 Millionen gefallen sei und zwischen 1987 und 1998 keine Anzeichen für ein Anwachsen gezeigt habe. Die Abnahme der Armut wurde später in einem Pressebulletin bestätigt, begleitend zu der Veröffentlichung eines Texts namens "Die Rolle und Effizienz von Entwicklungshilfe", welcher kurz vor der UN-Entwicklungshilfekonferenz in Monterrey, Mexiko vom März 2002 veröffentlicht wurde. In diesem Bulletin heißt es: "In den letzten zwanzig Jahren ist die Anzahl von Menschen, die mit weniger als 1 $ pro Tag auskommen müssen um 200 Millionen gefallen, obwohl die Weltbevölkerung um 1,6 Milliarden zugenommen hat."

Können diese Aussagen miteinander versöhnt werden? Hat es tatsächlich eine derart dramatische Reduktion der Armut in den letzten zwei Jahren gegeben? Oder hat die Bank nur ihre Interpretation der Geschichte geändert?

[alle Zitatübersetzungen MH]

Datenprobleme

Obwohl sich Prof. Deaton in dem folgenden Text Mühe gibt, die Inkonsistenzen zu erklären, muss er am Ende zugeben, dass seine Deutung der gemessenen Werte großen Unsicherheiten ausgesetzt ist. Zwar kommt er zu dem Schluss, dass die berichteten sehr positiven, um nicht zu sagen euphorischen Werte grundsätzlich stimmen könnten, gibt aber seiner Sorge über die Grundqualität des Datenmaterials Ausdruck, indem er schreibt:

Vieles an diesem Vorgang kann einem Unwohlsein bereiten. Am deutlichsten kommt das in dem Zwang zum Ausdruck, sich auf Daten zu verlassen, deren Fehlerspanne über einen Zeitraum von bloß zwei Jahren so krass unterschiedliche Ansichten darüber erlaubt, was mit der Armut in der Welt los ist.

Deatons Unwohlsein wundert nicht, denn er kämpft die ganze Zeit mit unvergleichbaren Datensätzen (unvergleichbar wg. signifikanter Änderungen an den Fragebögen im Vergleichzeitraum), Langzeitschätzungen nach unsicheren Methoden, einer grundsätzlichen Beschränkung seiner Überlegungen auf Indien (wg. dessen fundamentaler Wichtigkeit für die Weltarmutszahlen) und anderem mehr. Am Schluss hat der verblüffte Leser den Eindruck, die jahrelangen Anstrengungen einer Koryphäe auf dem Gebiet der ökonomischen Statistik seien in das Ergebnis geflossen, dass man etwas Genaues leider nicht sagen könne. Echte Verzweiflung scheint bei Deaton durch, wenn er der Weltbank empfiehlt, sorgsamer mit ihrem Datenmaterial umzugehen:

Allein schon die erfolgreiche Erhebung dieser Daten und ihre Bedeutung für politische Entscheidungsprozesse ruft nach einer Verbesserung der Methoden ihrer Gewinnung und Pflege. Wenn derartige Berichte sich weiterhin widersprechen, gerät die Weltbank in Gefahr, die Kompetenz zur Überwachung ihres eigenen Erfolgs zu verlieren.

Wohin geht die Globalisierung?

Das könnte jetzt ein Einzelfall sein, wird aber durch ein weiteres Papier von B. Milanov bestätigt, der in einem kurzen Text für die Weltbank ebenfalls wild voneinander abweichende Armutsschätzungen diskutiert. Milanov vertritt darin die Ansicht, dass die Berechnungen von Andrea Boltho und Gianni Toniolo falsch sind, die in einer Ausgabe der Oxford Review of Economic Policy vom Dezember 1999 deutliche Verbesserungen nicht bei den absoluten Armutszahlen, aber doch bei der Ungleichverteilung ("inequality") zwischen Armen und Reichen weltweit feststellten.

Der behauptete Fall des sogenannten Gini-Koeffizienten um vier Prozentpunkte zwischen 1980 und 1998 sei eine Illusion, tatsächlich zeigten drei jüngere Untersuchungen (Schultz, Firebaugh und seine eigene), dass der Gini-Koeffizient um 10-20 Prozent höher liege als von Boltho und Tonioli angenommen. Zusätzlich habe er, Milanovic, belegen können, dass der internationale Gini-Index von 1988 bis 1993 um drei Prozentpunkte gestiegen sei.

Außerdem führt Milanovic die Schlussfolgerungen eines Papiers von M. Lundberg und L. Squire (The simultaneous evolution of growth and inequality", PDF) an, die im Auftrag der Weltbank Bedrückendes herausfanden: Die Globalisierung schade den Armen dieser Welt, stand dort explizit zu lesen. Milanovic schreibt:

In einer jüngeren Weltbankveröffentlichung behaupten Lundberg und Squire, dass Handelsderegulierungen das Einkommenswachstum der 40 ärmsten Prozent der Bevölkerung negativ beeinflussen, während sie dem Einkommenswachstum der restlichen Bevölkerungsgruppen starke, positive Impulse verleihen (bezogen auf Beispieldaten aus 38 Ländern zwischen 1965 und 1992). Die Anpassungskosten von Handelsderegulierungen werden ausschließlich von den Armen erbracht, egal wie lange die Anpassung auch brauchen mag. Die Armen sind verwundbarer für Schwankungen im internationalen Preisgefüge, und diese Verwundbarkeit wird durch eine Öffnung des Binnenmarktes gegenüber dem Weltmarkt noch erhöht.

Man könnte auch sagen, dass die Globalisierung, so wie heute verstanden und betrieben wird, die Armen ärmer und die Reichen reicher macht. Es versteht sich von selbst, dass Lundbergs und Squires Papier bei den Globalisierungsgegnern offene Türen eingerannt hat. Es wird gerne in globalisierungskritischen Veröffentlichungen zitiert und ist dementsprechend populär. Wer hat Recht? Sind die Optimisten näher an der Wahrheit oder die Pessimisten? B. Milanovic ruft nach "größerer konzeptioneller Klarheit" und "gründlicherer empirischer Untersuchung". Für ihn steht fest:

Erstens: Die globale Ungleichverteilung der Einkommen ist viel massiver als von Boltho und Toniolo berichtet wird, und die jüngeren Trends deuten eher auf eine Verschärfung der Ungleichheit. Zweitens: Die positiven Effekte der Globalisierung kommen nicht allen gleich zugute. Es könnte möglich sein, die Antiglobalisierungsbewegung von den positiven Effekten eines integrierten Weltmarkts zu überzeugen, das würde aber Argumente erfordern, die mehr auf Tatsachen und weniger auf Ideologie beruhen.

Wie das gelingen soll, wenn die Weltbank nicht einmal weiß, was die Zahlen bedeuten, die sie selbst erhebt, bleibt sein Geheimnis. Für denjenigen, der ohnehin keinen Zugriff auf die Daten der Großinstitutionen und die Methoden ihrer Verarbeitung haben, bleibt wohl nichts anderes, als sich an die Indizien zu halten.

Die Zunahme weltweiter Migrationsbewegungen, die Anstrengungen der reichen Länder des Nordens zur militanten Abwehr aller verarmten Flüchtlinge, die nicht verwertet werden können, und ein immer weiteres Aufklappen der Einkommensschere in den reichen Ländern selbst deuten jedenfalls nicht gerade darauf hin, dass die Armut in der Welt abnimmt. Dass unter diesen Umständen faktenbasierte Debatten die Globalisierungsgegner von der segensreichen Wirkung der Globalisierung überzeugen können, ist wenig wahrscheinlich.