Unter Beobachtung

Nur ein Foto von einem Roboterkopf lässt Menschen schon weniger geizig sein

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In der Gedankenwelt des Darwinismus ist Altruismus ein (ver)störendes Element, sofern er nicht doch wieder, auf welchen Umwegen auch immer, auf egoistisches Verhalten zurück geführt werden kann. Es gibt jedoch zahlreiche Beispiele für ein Verhalten, das zumindest auf der Oberfläche altruistisch zu sein scheint. Und natürlich wird ein solches Verhalten, etwa unter den Titeln Patriotismus, Familie, Solidarität oder Religion (Dschihad) auch stets mehr oder weniger erfolgreich eingefordert.

Wenn es enge soziale Verbindungen gibt, in denen jeder jeden kennt, dann wird auch das Verhalten eines jedes überwacht. Ein Ausbrechen aus solchen Zwangs- und Nähegemeinschaften ist viel schwerer als unter den Bedingungen der Anonymität, wie man sie in Städten oder im Internet findet. Die Überwachung wird am merklichsten dort, wo man sich tatsächlich unter den Blicken der Anderen bewegt. Sie müssen nicht körperlich vor Ort und können etwa durch Kameras vertreten sein, aber die Wirksamkeit steigert sich natürlich, wenn es durch die gemeinsamen Zusammenhänge im Alltagsleben Auswirkungen zu befürchten gibt. Sind die Beobachter anonym, verdeckt oder abstrakt, können die Auswirkungen auf den Beobachteten marginal sein, aber können auch extremere Verhaltensweise gefördert werden, weil die Beobachteten dann eher als "Schauspieler" agieren und ihre persönliche Identität unwichtig wird.

Was die Anthropologen Terry Burnham von der Harvard University und Brian Hare vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie herausgefunden haben, ist allerdings schon erstaunlich und zeigt, wie stark der Blick des Anderen im Bewusstsein der Menschen als Kontrollinstanz verinnerlicht ist. Die beiden Wissenschaftler ließen, wie New Scientist berichtet, 96 Freiwillige gegeneinander, aber anonym in Spielen treten, bei denen sie entscheiden mussten, ob sie großzügig Geld spenden und knickrig sind. Wie bei solchen bei Anthropologen, Psychologen und Evolutionstheoretikern beliebten Spielen in der Art von "Tit-for-Tat" gewinnen die Spieler selbst am meisten Geld, die auch am meisten in die gemeinsame Kasse einzahlen - aber nur dann, wenn dies die Anderen auch machen.

Kismet. Bild: P. Menzel

Die Versuchspersonen wurden in zwei Gruppen aufgeteilt. Die Mitglieder der einen Gruppe trafen ihre Entscheidungen alleine vor einem Computer sitzend, die Mitglieder der anderen waren mit einem Bild des Roboters Kismet vom MIT konfrontiert, das aber für die Versuchspersonen nicht Teil des Spiels war, sondern zufällig dort angebracht schien. Kismet ist ein Roboterkopf mit menschenähnlichen Gesichtszügen. Damit soll er Emotionen zum Ausdruck bringen, die er als Reaktion auf Gesten der Menschen realisiert. Das nennt man "emotional computing", wobei es nur darum geht, den Roboter so reagieren zu lassen, dass die Menschen Emotionen projizieren. Ganz wichtig sind bei Kismet natürlich die großen Augen.

Die Spieler jedenfalls, die unter den Augen des Roboters, der allerdings nur als Bild präsent war, gaben durchschnittlich 30 Prozent mehr Geld in die gemeinsame Kasse als die Kontrollgruppe. Burnham und Hare denken sicherlich zurecht, dass die Versuchspersonen sich zumindest unbewusst beobachtet fühlten. Daher gaben sie mehr, weil sie auf Reziprozität hoffen, also durchaus auch egoistisch eigentlich davon ausgehen, dafür später selbst etwas zu bekommen oder nicht bestraft werden.

Nach Ansicht von Burnham würde die Menschen zwar erkennen, dass es sich um ein Bild und um einen Roboter handelt, aber tiefere psychische Schichten würden mehr oder weniger reflexhaft auf die Augen reagieren. Man könne mithin Menschen manipulieren, wenn man sie auch unter nicht echten, aber menschenähnlichen Augen entscheiden oder handeln lässt, da das Unbewusste die Fälschung nicht entdecken könne bzw. bei hinreichender Ähnlichkeit auch ähnlich darauf reagiere. Ob das allerdings dann auch so funktioniere würde, wie New Scientist suggeriert, also dass Wohltätigkeitsorganisationen den Augen-Effekt auch auf Webseiten ausbeuten und so ein unkontrollierbares Verlangen zu spenden auslösen, darf wohl eher bezweifelt werden. In Experimenten fühlen sich Versuchspersonen wohl immer - und ganz realistisch - irgendwie überwacht und beobachtet, was die abgebildeten Augen von Kismet nur verstärkt haben dürften. Allerdings ist die Erkenntnis, dass das bewusste Ich nur in Bezug zum Anderen (gewissermaßen als Erblicktes) und durch dessen Verinnerlichung sich konstituiert, Traditionsbestand der Philosophie des Geistes.

Gleichwohl wird durch das Experiment wieder einmal deutlich, welche Funktion die Götter- und Heiligenbilder, aber auch in autoritären Regimen die Bilder der jeweiligen "Führer" im öffentlichen Raum, in den Schulen, in den Amtsstuben oder den Zimmern haben. Sie tragen die Botschaft mit sich, dass man unter Beobachtung steht und damit wohl das machen soll, was jeweils gewünscht wird - und sie sind entschieden billiger als Video- und andere technische Überwachungssysteme, die sich derzeit verbreiten und alle und alles unter Beobachtung stellen.