Eine Spur der irreversiblen Zerstörung

Der Cyberspace wächst und die biologische Vielfalt schrumpft in dramatischer Geschwindigkeit

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Die Warnungen sind altbekannt: Bald werden die Menschen es geschafft haben, auf dem bislang noch einzig von ihnen bewohnbaren Planeten die Hälfte aller Arten ausgelöscht zu haben. Um die biologische Vielfalt sieht es schlecht aus. Einmal ausgestorben, sind Lebewesen für immer verschwunden - vermutlich irreversibel.

Eben hat das World Conservation Monitoring Centre eine rote Liste von bedrohten Pflanzen veröffentlicht. Über 30000 oder mehr als ein Zehntel der Pflanzenarten sind in ihrer Existenz bedroht, kurz vor dem Verschwinden oder bereits ausgestorben.

Das wollen wir natürlich nicht so ganz glauben. Das digitale und biotechnologische Zeitalter hofft insgeheim, daß Unumkehrbarkeit nicht nur ein Affront, sondern auch vermeidbar ist. Schließlich lassen sich Simulationen immer wieder erneut abspielen, halten digitalisierte Daten vermeintlich ewig, hat man in Computerspielen zumindest mehrere Leben, bietet die Biotechnologie womöglich an, das Leben auf Dauer zu stellen oder es mit Hilfe des genetischen Codes wiederherzustellen. Fieberhaft sucht man auf anderen Planeten bereits nach neuen Orten des Lebens und hätte gerne, daß es dort bereits Leben gibt - dann wäre dessen Dezimierung auf Erden nicht so tragisch. Und auch wenn es biologisch nichts werden sollte, so bietet sich der Ausblick aufs digitale Leben oder auf Roboter, die möglicherweise zu einer neuen Vielfalt - in einer digitalen kambrischen Explosion, wie Tom Ray mit Tierra sie in silico zu initiieren anstrebt - führt und des biologischen Lebens nicht mehr bedarf. Im postbiologischen Zeitalter, das manche bereits ausrufen, ist das Biologische nur eine notwendige, mit vielen Mängeln behaftete Zwischenstufe, eine Leiter, die man wegwirft, wenn man einmal "oben" angekommen sein wird.

Das Eintauchen in die digitale Medienwelt mag zwar die Aufmerksamkeit strapazieren, aber hier ist schnelle Abwechslung wichtiger als Dauer. Was nicht neu ist, gilt als uninteressant. Und weil man scheinbar den digitalen Müll so problem- und rückstandslos durch delete beseitigen kann, klammert man sich auch nicht ans Bestehende. Überdies wähnt man, daß der Übergang in den Cyberspace die Umwelt entlastet, übersieht dabei aber gerne die Spur des Abfalls, der sich hinter der überschlagenden technischen Innovationsrate herzieht und den Energie- und Ressourcenverbrauch in der Produktion der Hardware. Noch stärker wird ausgeblendet, daß der Gang in den Cyberspace mit einer stetig wachsenden Mobilität nicht nur der zirkulierenden Daten, sondern auch der Menschen und Waren einhergeht. Die Ortlosigkeit des Cyberspace erlaubt Dezentralisierung, aber potenziert umweltbelastende Mobilität. Flexibilität ist gefragt, und das heißt Veränderung. Kreative Zerstörung ist erwünscht, weil es den Status quo verändert. Alles andere ist eine Frage von Ästheten, Nostalgikern und Romantikern.

1998 wurde zum Internationalen Jahr des Meeres erkoren. Deswegen hier ein Beispiel. Auch wenn das Abschlachten der Wale weitgehend gestoppt ist, so scheinen sie sich jetzt mehr und mehr Suizid zu begehen und in ganzen Gruppen an die Strände zu schwimmen, während die Menschen vergeblich versuchen, sie wieder ins offene Meer zu bringen. Ende letzten Jahres ist ein 12 Jahre alter Finnwal an der Nordküste Spaniens gestrandet. Die Menschen versuchten den Riesen zu retten, aber die Bemühungen waren vergeblich. Der Körper des toten Wals wurde untersucht und man fand in seinem Magen einen Abfallklumpen mit einem Gewicht von 50 Kilogramm. Er bestand aus Sand und organischem Material, doch sein Kern war ein Ball aus zusammengepreßtem Plastik mit einem Gewicht von 20 Kilogramm: Plastikbeutel, Plastiktaue, eine Plastikplane, Plastikhandschuhe und Plastikbehälter für Yoghurt, Margarine oder Eis. Möglicherweise hat der Abfallklumpen die Nahrungsaufnahme behindert, denn der Wal wirkte bereits abgemagert. Schaut so das allmähliche Ende der Natur aus, die in Abfall erstickt?

Jedes Jahr schrumpfen die Tropenwälder, in denen es die größte biologische Vielfalt gibt, um ein Hundertstel. Heute gibt es nur noch die Hälfte des Regenwaldes, der vor 50 Jahren noch existiert hatte. Wir werden das absehbare Verschwinden nicht mehr erleben, es sei denn, die von manchen erstrebte Lebensverlängerung kann endlich in die Tat umgesetzt werden. Bald bleiben uns vielleicht noch die Zoos, die Botanischen Gärten und irgendwelche Erlebnisparks, kommerzielle Inseln des kultivierten Wilden, das wir mehr und mehr als Simulation erleben und schließlich möglicherweise vergessen, wenn uns die genutzte Natur und die künstlichen Welten nicht zu langweilig werden. Aus der Langeweile der Alltagswelt kann man ein Geschäft machen, um damit Reste zu erhalten, aber wahrscheinlich reichen kleine Inseln wilder Natur nicht aus, um die Vielfalt der Arten und die evolutionäre Kreativität auf Dauer zu erhalten, auch wenn selbstverständlich einige, dann oft unerwünschte Kreaturen selbst in den zivilisierten Wüsten und Gärten, gefüllt mit gentechnisch optimierten Organismen, überleben und sich weiter entwickeln.

Any human being who spends any amount of time in a uniquely pristine place full of the wonders of animal and plant life instinctively feels humanity's sacred obligation to preserve our environment.

Bill Clinton während seiner Afrikareise im März

Nach einer in Science (27 March 1998, Vol. 279, 5359) veröffentlichten Umfrage würden auch die von Naturschutzorganisationen geforderten 10 Prozent des Territoriums eines jeden Staates nicht ausreichen, um ein Massenaussterben zu verhindern, wenn dies nicht auch sowieso durch die Ausscheidungen und Klimaveränderungen der immateriellen Kultur geschieht. Doch selbst diesen zehn Prozent stimmten bislang nur 20 Nationen zu, von denen nur fünf in den Tropen, also dort liegen, wo es die größte Artenvielfalt gibt. Mindestens 33 Prozent eines Landes müßten nach Ansicht der Wissenschaftler unter strengen Naturschutz gestellt werden, wobei dann natürlich noch die Frage ist, welche Landstriche dies sein sollten, wobei sich etwa auch zwischen Nischen mit hoher Artenvielfalt und solchen mit seltenen Tieren entscheiden müßte.

Abgesehen davon wäre beispielsweise im dichtbevölkerten Europa das Problem, wie man überhaupt 30 Prozent des Territoriums in eine Tabuzone verwandeln sollte. Müßte man die Menschen, von denen einige womöglich jetzt gerade hoffen, durch Telearbeit dem Leben in Städten zu entrinnen, in urbane Superstrukturen zusammenpressen, die bislang am stärksten für den Verbrauch und die Belastung der Natur verantwortlich waren?

American children in their imagination often travel to Africa. Since I was a boy, we have done that. The essence of what attracts them and people everywhere is a vision of the most magnificent, amazing creatures on earth living in harmony with unspeakably beautiful nature, the vision we saw realised in Chobe. That vision of somehow nature in all of its manifestations in balance with people living their lives successfully inspires environmental efforts around the world.

Bill Clinton während seiner Afrikareise im März

Möglicherweise ist Europa bereits am weitesten in dieser Richtung fortgeschritten. Fast jede Natur ist hier zum Garten und zur Nutzfläche geworden. Wir könnten ebenso leicht in einer Biosphäre leben - oder in einer Art Schiff, wie dies die SF-Geschichte Deadlock imaginiert. Würde man in solchen autarken Megastrukturen hausen, könnte man "draußen" unberührbare Inseln des Wilden erhalten oder vielmehr erst wieder schaffen. Aber solche eingeschlossenen Lebenswelten, Grundvoraussetzung auch für jede Besiedlung anderer Planeten, böten nur noch wenig Überraschendes. Sie stünden gar im Gegensatz zur gegenwärtig herrschenden neoliberalen Ideologie, denn sie wären eine technische Planwirtschaft, die Überraschung nur in Form des Unerwünschten böte - also das Problem des Ungeziefers und des Unkrauts stellt, das auch in den ersten Testläufen von Biosphäre II etwa in Form der überhandnehmenden Kakerlaken entstand.

Noch sieht es jedenfalls so aus, als würde die Digitalisierung im Verbund mit dem globalen Kapitalismus zumindest auf eine Verödung des biologischen Lebens zulaufen, als hinterließe der Vormarsch des technischen Fortschritts gewissermaßen verbrannte Dörfer und als ginge die Kompensation des Zerstörten durch den Aufbau einer anderen, technisch basierten Evolutionslinie einfach zu langsam. Politisch handlungsfähig scheinen wir nicht zu sein: global ist nur die Zerstörung und der kurzfristige Profit, weil wir trotz aller Hoffnung an ein bald mögliches langes Leben nicht wirklich an ein solches glauben. Die Phantasie reicht gerade einmal bis zu den unmittelbaren Nachfahren, aber durch fortschreitende Versingelung erlischt auch diese kurze Zeitstrecke. Und je älter wir werden, je stärker der Prozentsatz der Alten ist, desto geringer ist die Kraft, Langfristigeres nicht nur ins Auge zu fassen, sondern auch für den Erhalt des jetzt gerade nicht unbedingt Notwendigen, womöglich unter Verzicht, zu sorgen.

Aber auch die Menschen früher hatten nur wenig Bedenken, wilde Natur zu erhalten. Und wir selbst kommen, abgesehen womöglich von Urlaubsreisen, recht gut ohne diese aus, wenn wir sie im Fernsehen ohne ihre unangenehmen Seiten sowieso noch sehen können. Die Bildschirme können jetzt schon ziemlich gut vieles ersetzen - und die Menschen sind anpassungsfähig, wenn sie denn genügend Abwechslung erfahren. Massenaussterben gab es in der Geschichte des Lebens des öfteren, das keineswegs auf Stabilität oder Gleichgewicht ausgerichtet ist. Die Menschen haben sich neben den Mikroorganismen als diejenigen Lebewesen erwiesen, die sich am besten den unterschiedlichsten Umweltbedingungen anpassen konnten. Die Erfindung von künstlichen Welten, die Natur in beherrschbare Kultur verwandeln, ist der menschliche Überlebenstrick. Und weil sie mit der Kultur und ihren Memen bereits schon eine unglaublich viel schnellere Evolutionslinie begonnen haben, wäre auch keineswegs undenkbar, daß sie auch unter extremen Umweltbedingungen in neuen künstlichen Biosphären überleben oder eine neue post-memetische Evolutionslinie starten könnten, die die biologische Art des homo sapiens in einer anderen Verkörperung fortsetzt.

Das Verschwinden in ein Licht des Katastrophalen zu tauchen, mag vielleicht wirklich nur nostalgisch und ein Mißverständnis des Lebens und seiner Evolution sein. Das Verschwinden aufzuhalten, anstatt mit aller Kraft neues Leben digital und biotechnisch freizusetzen, ist vielleicht nur ebenso verständlich, wie es schwerfällt, sich von Gewohnheiten und vertrauten Menschen oder gar von seinem eigenen Leben zu verabschieden. Schließlich ist auch die Bewahrung der Welt etwa durch die Schaffung von Bioreservaten nicht wirklich eine Erhaltung, sondern eine Welterzeugung, in der dann freilich auch sentimentale, ästhetische oder mitleidende Werte einfließen können und müssen. Der Natur schließlich, wenn man so sprechen kann, ist es vermutlich egal, ob es Wale, Nashörner, Elefanten, Tiger oder Menschen gibt. Wenn wir Natur erhalten wollen, dann wollen wir sie steuern wie eine komplizierte oder eher komplexe Maschine, die uns gleichwohl nicht bedrohen soll. Wahrscheinlich wollen wir in einem Garten leben, der jetzt doppeldeutig Biosphäre heißt, aber wir müßten überlegen, ob wir neben unseren künstlichen Welten diesen Garten eher als barocken oder als englischen Park wollen - oder ob uns vielleicht auch die neuen Welten in den digitalen Speichern genügen.