Love is in the air

Alles ist eins, aber das ist dann auch einerlei. Die Love Parade wird zehn und kein bißchen leise

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"Es wird nicht regnen!", bestimmte Love-Parade-Sprecher Disko noch am Freitag. Doch schon am Samstagvormittag zogen dunkle Wolken von Westen her über den Berliner Tiergarten hinweg und schickten sich an, den selbsternannten Wetterfrosch Lügen zu strafen. Zum offiziellen Start der Demonstration kurz nach 14 Uhr hielten die Wolken ihre feuchte Last zwar noch, doch zwei Stunden später öffneten sich die Schleusen des Himmels und versetzten den Ravern die erste kalte Dusche. Doch damit nicht genug: Bis in den frühen Abend hinein folgte in gut anderthalbstündigen Abständen ein Wolkenbruch dem anderen, und die Wassermassen ließen so manchen Technojünger an den Prophezeiungen seiner Führer (ver-)zweifeln.

Medienstar Dr. Motte

Konnte es wirklich sein? Juli, Berlin, Love Parade - und Regen? Hatte ihr Idol Dr. Motte, der bekennendes Mitglied des BUND ist und gerne seine Verbundenheit mit Natur, Mensch und Tier demonstriert, nicht in den vergangenen Jahren immer seinen guten Draht zum Himmel bewiesen und zum Sonnentanz in den Tiergarten gebeten? Doch bei den Ravern der älteren Generation kamen sie plötzlich wieder hoch, die Erinnerungen an 1992, als die damals noch am Kudamm stattfindende Love Parade von den Tränen des Himmels geradezu weggespült wurde. Und auch 1989, als der harte Kern der 150 Auserkorenen erstmals hinter Mottes Klapperbus einherzog, ging der Rave durch den Nieselregen.

Stefan Krempl in Telepolis über die Love Parade '97:
Foto Love Story
Der Cyberspace auf die Straße. Ein Gespräch mit Technoforschern.
Die große Verausgabung

Alles fließt

Doch nun waren sie eben angereist, die Partygänger, mit einem der 69 Sonderzüge, mit dem Flieger aus aller Herren Länder oder mit dem Wohnmobil aus Schwaben. Nichts konnte die eingefleischten Technofans dabei aufhalten: drei Liebesjünger hatten sogar Gefängnismauern überwunden, um bei der gigantischen Open-Air-Party dabeisein zu können; sie waren am Freitag mittag aus einer Justizvollzugsanstalt in Mecklenburg-Vorpommern wenige Tage vor ihrer eigentlichen Entlassung ausgebüchst. Mitgefangenen hatten die drei jungen Männer zuvor verdeutlicht, daß sie zur Love Parade wollten.

Andere hatten alle Aufmerksamkeit auf das passende Outfit gelegt, sich die Sonnenblumen ins Haar oder an das luftige Kleidchen gesteckt, die Raveruniform mit den zugehörigen schrillen Kopfbedeckungen herausgekramt und sich stundenlang gestylt,- und jetzt mußten sie alle gute Miene zum bösen Regen machen. Doch irgendwie hatte das Ganze ja auch seine Vorteile: man schwitzte nicht so und ersparte sich deswegen die teuren Getränke. Pech nur für die wieder zahlreich aufmarschierten Schwarzhändler: so mancher sah sich schon am späten Nachmittag gezwungen, seine Bierdosenvorräte mit Hilfe von Dumpingpreisen wenigstens noch teilweise loszuschlagen. Nicht nur weil der Durst der Raver zu wünschen übrig ließ, sondern auch, weil anscheinend das mäßige Wetter zahlreiche Zaungäste vom Besuch der Parade abhielt. Die Polizei will dieses Jahr "nur" 350.000 Raver gezählt haben, während die Veranstalter wie 1997 eine Million Liebesboten ausgemacht haben wollen.

Lag es nun an der geringeren Zahl der Teilnehmer oder an der Profilogistik, die sich die Agentur planetcom und die Love Parade GmbH als Durchführer und Vermarkter des Riesenumzugs ersonnen hatten: die Reifen der 47 lautsprecherbewaffneten Liebesschiffe kamen dieses Jahr sogar pünktlich von ihren erstmals doppelt angegebenen Startpunkten am Ernst-Reuter-Platz bzw. dem Brandenburger Tor aus ins Rollen und begannen mit der bis in die frühen Morgenstunden andauernden megawattschweren Beschallung des Tiergartens.

Besonders nach den ersten heftigen Regengüssen, die viele der unbefestigten Wege in der Grünanlage in reine Matschpfützen verwandelten und nicht gerade als Stimmungsanheizer wirkten, suchten sich viele Mitläufer trockenere Rave-Locations rund um den Bahnhof Zoo. Dadurch löste sich auf der offiziellen Paraderoute wiederum das schlimmste Getümmel langsam auf, und die Völkerwanderung konnte in lockerer Formation weitergehen.

Der Zuschauerschwund tat der Parade selbst und der Laune der Verbliebenen sichtlich gut. Voller Überraschung stellten die Raver, die sich am frühen Abend zur "Abschlußkundgebung" rund um die Siegessäule versammelten, fest, daß man dort sogar die in den letzten Jahre im Ölsardinenbewußtsein untergegangene, zum Tanzen aber erforderliche Bewegungsfreiheit hatte. Um so bereitwilliger ergaben sich die Technofans daher den hämmernden Rhythmen aus den bebenden Boxen der inzwischen musikalisch "gleichgeschalteten" Trucks, für die unter anderem Love-Parade-Erfinder Dr. Motte, Marusha, Sven Väth und Westbam sorgten. Selbst die Sonne ließ sich noch kurz erweichen und setzte der Goldelse über den Köpfen der Tanzenden einen letzten Strahlenkranz auf, bevor die grellen Scheinwerfer für die mystische Nachtbeleuchtung der gespenstischen Szenerie sorgten.

Die Partylaune war zurückgekehrt, und wieder fühlten sich viele der altgedienten Raver an Jahre zurückliegende Paraden erinnert, als zwischen den für Individualismus demonstrierenden Techno-Freaks

eine Art von Gemeinschaftsgefühl aus dem Geiste der synthetischen Lautsprecherrhythmen entstand. Selbst als die Beats kurz nach Mitternacht endgültig verstummten, ließ sich die Ravergemeinde kaum auflösen. Erst als Dr. Motte ein letztes Mal die Stimme erhob, die Kundgebung für beendet erklärte und allen Ernstes dazu aufforderte, den Müll aus den Büschen und Wiesen des Tiergartens doch bitte aufzulesen und wenigstens auf die Straße zu schmeißen, trollte man sich lieber schnell in den nächsten Club und überließ das Schlachtfeld der Liebe den Rollkommandos der Stadtreinigung.

Einigkeit und Tanz und Freiheit - die Politik lernt die unpolitischen Liebesbotschaften schätzen

Die zehnte Love Parade war alles andere als eine Veranstaltung der Superlative. Es wurden keine neuen Teilnehmerrekorde aufgestellt, es gab "nur" 67 Festnahmen, die 551 Sanitäter hatten kaum etwas zu tun und die 200 Tonnen liegengebliebener Müll sind trotz der obligatorischen Diskussionen im Vorfeld des Umzugs - die Veranstalter hatten es auch in diesem Jahr trotz Spendenaufrufen wieder nicht geschafft, die Kosten für die Reinigung in Höhe von rund 250.000 Mark selbst aufzutreiben - kaum noch der Rede wert. Die Straße des 17. Juni konnte zumindest schon am Sonntag vormittag wieder von den Autofahrern vereinnahmt werden. Die Parade gehört inzwischen zum Veranstaltungskalender Berlins schlicht dazu. Nach dem "politischen Charakter" der "Demonstration" fragt im Roten Rathaus keiner mehr, eher schon nach den geschätzten 100 Millionen Umsatz, den Senatssprecher Michael-Andreas Butz durch das "mit zu den touristischen Höhepunkten Berlins" zählende Großereignis in die Kassen der örtlichen Hotellerie, der Gastronomie und des Einzelhandels fließen sieht.

Vielleicht wird die Love Parade ja gerade durch die Sprachlosigkeit, die bei ihr herrscht, zum politischen Ereignis. Da kommt die Jugend Europas zusammen, hat aber nicht sofort eine Parole auf den Lippen.

Disko, Sprecher der Love Parade

Vor allem die CDU hat den auch politisch vorhandenen Vermarktungswert der Love Parade im Jubiläumsjahr erkannt und sich geradezu an die Spitze der Bewegung gesetzt: So zeigte sich der jede andere Demonstration höchstens vom Panzerwagen aus beobachtende Innensenator Jörg Schönbohm auch in diesem Jahr wieder - mit Baseballmütze verkleidet - in der Menge, und der Kultursenator und frühere CDU-Wahlkampfstratege Peter Radunski outete sich als großer Fan der Parade. Die Gründe für seine "unglaubliche Zuneigung zu dieser Veranstaltung" verriet er vergangene Woche dem Berliner Tagesspiegel. Man treffe dort auf die "sympathischste Jugend" weit und breit: "Keine Hooligans, keine vermummten Autonomen, keine neuen Rechten, keine alten Linken. Sondern Menschen von heute, entspannt und sehr relaxt."

Ich komme ja aus der Rock'n'Roll-Generation, Raver gab es bei uns noch nicht, aber diese Ekstase und Begeisterung kann ich trotzdem verstehen.

Peter Radunski, Berliner Kultursenator

Die Friede-Freude-Eierkuchen-Predigten Dr. Mottes empfangen so endlich die politische Würdigung, die ihnen bisher immer abgesprochen wurden. Und es darf darüber spekuliert werden, ob die (Berliner) CDU ihr nächstes Wahlprogramm nicht besser gleich aus der Feder des Liebes- und Friedensbotschafters verfassen lassen sollte, der das Jahr über als Matthias Roeingh irgendwo im Brandenburgischen, fernab der Hektik der Großstadt, philosophiert. Inhaltliche Berührungspunkte gibt es ja anscheinend viele: Auch das diesjährige Motto der Jubiläumsparade - One World, One Future -, an dem Dr. Motte "ein halbes Jahr gefeilt" hatte, um "dem Anspruch der Zeit gerecht zu werden", gefällt Radunski "sehr gut": Globalisierung werde ja gemeinhin als Bedrohung empfunden, mit der Liebeszeremonie signalisierte eine Generation dagegen, "daß sie sich als großer Zusammenhang über alle Grenzen hinweg versteht."

Der in seiner Erscheinung zunächst wenig Charisma versprühende Motte selbst, der seine Arbeit jüngst mit der Mutter Teresas verglichen hat, erklärte auf einer Pressekonferenz, daß er mit dem sehr weit faßbaren Motto der zehnten Parade ein Zeichen setzten und zum Nachdenken anregen wolle: "Wir haben nur eine Erde und auf der müssen wir friedlich miteinander leben." Das zentrale Thema des vergangenen Jahres - Let the Sunshine in Your Heart - hätte eher auf die Selbsterkenntnis und nach innen gezielt, jetzt gehe es um die Demonstration eines globalen Miteinanders nach außen.

Es war von Anfang an Ziel der Love Parade, daß wir alle uns gegenseitig liebhaben ... Die Love Parade vertritt ganz prinzipielle Werte - Toleranz, Offenheit, friedliches Miteinander und Spaß als Motivationsquelle -, denen sich eigentlich niemand verschließen kann.

Ralf Regitz, Organisationskopf der Love Parade
Ralf Regitz

Alle Technofans konnte Dr. Motte aber auch in diesem Jahr nicht unter seinem musikalischen Friedensnetz vereinen. Wie bereits 1997 zogen einige tausend Abtrünnige, die der Love Parade den Ausverkauf der ursprünglichen Ideale an den Massengeschmack und die wie immer zahlreichen Sponsoren vorwarfen, zu Hardcore-Beats durch die östliche Innenstadt. Ein Motto brauchte die Gegendemonstration in diesem Jahr noch nicht, denn ihr Name war Programm: Fuckparade hatten sich die vor allem aus der Punkszene kommenden Freaks auf die Fahnen geschrieben.

Es dürfte allerdings nur noch eine Frage der Zeit sein, bis auch der zweite Umzug mit steigenden Teilnehmerzahlen und nachfolgend mit den Verlockungen der Werbewirtschaft zu "kämpfen" haben wird. Aufregen konnte sich dieses Jahr nämlich keiner mehr so richtig über die "Spielverderber". Selbst Ralf Regitz, Gesellschafter von planetcom und der Love Parade GmbH, findet die neue Bewegung "prinzipiell gut": Das Konzept sei schließlich das gleiche, und man könne eben keine Zäune um eine Parade spannen und die Leute draußen stehen lassen.

Fuckparade

Bei all der gezeigten Einigkeit und Seelenverwandtschaft läßt sich für 1999 vielleicht doch wieder ein gemeinsames Motto für die beiden Umzüge finden. Die Marketingstrategen von Camel, die auf der Love Parade ganz in rot stolz das jüngste und "vollgeschmackliche" Mitglied ihrer Markenfamilie präsentierten, hätten da schon einen Vorschlag zu machen: "Bleibende Werte. Neue Harmonie" lautete die Devise zur Markteinführung der neuen Glimmstengel.

Alle Bilder von Stefan Krempl