Netzkunst bei der Dia Art Foundation

Jesus mit dem Hirsch

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Daß sich das 'Dia Center for the Arts' in den letzten Monaten der Netzkunst angenommen hat, lag eigentlich nahe: Seit über zwanzig Jahren gibt die New Yorker Stiftung Künstlern die Möglichkeit, an langfristigen Projekten zu arbeiten, die wegen ihrer Größe oder ihrer Machart nicht in Museen oder Galerien gezeigt werden können. Viele der Künstler, die Dia seit Ende der Siebziger Jahre unterstützt hat, kamen - wie Walter De Maria, Robert Ryman, Lawrence Weiner oder Dan Graham - von der Konzeptkunst.

Das sind für die Stiftung zwei gute Voraussetzungen, um sich mit Kunstprojekten für das Internet zu beschäftigen. Denn erstens bedarf auch die Arbeit an Netzkunst oft langer Vorbereitungen oder Unterstützung durch Nicht-Künstler/Programmierer, und zweitens treibt Netzkunst die "Dematerialisierung der Objekte", die Lucy Lippard in der Konzeptkunst beschrieben hat, noch einen Schritt weiter: Waren die Ideen, um die es bei der Conceptual Art ging, meist doch wenigstens noch in einer Skizze oder einem Text auf einem Blatt Papier festgehalten, gibt es bei der Netzkunst überhaupt keine physischen Objekte mehr, sondern nur noch Daten auf Festplatten, die nur auf dem Bildschirm eines Computers sichtbar gemacht werden können.

Im Gegensatz zu der wuchtigen materiellen Präsenz von Walter De Marias "New York Earth Room" (1977) oder seinem "Broken Kilometer" (1979), deren Präsentation durch Dia in SoHo immer noch zum Pflichtprogramm für kunstbeflissene New-York-Besucher gehört, sind die Internet-Projekte des Dia Center for the Arts vollkommen immateriell und nur noch auf dem Server der Stiftung zu besichtigen. Zwar werden die aktuellen Netz-Produktionen im New Yorker "Gallery Guide" noch wie Ausstellungen angekündigt. Doch wer zu dem alten Lagerhaus auf der 22nd Street im ehemaligen Arbeiterviertel Chelsea kommt, in dem Dia heute seine großen Installationen zeigt, der findet in den Ausstellungsräumen noch nicht mal einen Hinweis auf die Netzprojekte. Die gibt es nur online.

"Wir arbeiten vor allem mit Künstlern, die andernfalls wahrscheinlich keine Internetprojekte machen würden", sagt Sara Tucker, die seit Herbst 1996 als Director for Digital Media die Netzpräsenz der Stiftung aufgebaut hat. Die Arbeiten, die zum Teil im Zusammenhang mit aktuellen Ausstellungen entstanden sind, lassen sich auf sehr unterschiedliche und nicht immer adäquate Weise mit den neuen Medium Internet ein. So ist das Netzprojekt von Juan Munoz wenig mehr als eine multimediale Dokumentation seiner Installation, die zur Zeit bei Dia zu sehen ist.

Auch Jessica Stockholders Web Project dokumentiert den Aufbau einer Installation, den Netzsurfer vor der Eröffnung der Ausstellung quasi live im Internet verfolgen konnten. Das komplexe Projekt "Fantastic Prayers", eine Arbeit über "Art, Archeology, Religion and Rock and Roll" (unter anderem mit Video-Aufnahmen aus dem Studio von Sonic Youth) wäre auf einer CD-Rom wahrscheinlich besser aufgehoben gewesen.

Länger über das Medium Internet nachgedacht hat Cheryl Donegan, deren "Studio Visit" eine Art Dokumentation des eigenen Werks ist, das aber - den nach wie vor langsamen Übertragungsraten des Internet entsprechend - komprimiert und simplifiziert ist. Auf popbunten Seiten tummeln sich Cartoon-Versionen von einigen der Motive, die in den Gemälden der New Yorker Malerin immer wieder auftauchen: Daumenabdrücke, Waschmittelflaschen, die Verpackungen von Newport Zigaretten usw. nehmen durch kleine Animationen plötzlich ein Eigenleben an und zeigen, daß der Terminus "Mixed Media" bei Netzkunst eine neue Bedeutung bekommt.

"Donegan war die erste Künstlerin, die das Netz schon benutzt hatte und auch ihr Material in digitaler Form eingereicht hat", sagt Sara Tucker. "Normalerweise zeigen wir den Künstlern, mit denen wir arbeiten wollen, was im Internet technisch möglich ist und helfen ihnen auch dabei, ihre Idee umzusetzten."

Auch die britische Künstlerin Susan Hiller war ein Internet-Newbie, als Dia sie zu einem Netzprojekt eingeladen hat. Ihre Arbeit kann als Kommentar über das neue Medium Internet gelesen werden. "Dream Screens" handelt von Träumen und Halluzinationen und kann die Herkunft der Künstlerin aus der Performance Art nicht verleugnen. Je weiter am Rand man auf die monochromen Farbflächen dieser Arbeit klickt, desto dunkler wird der Bildschirm, im Bildzentrum kommt man zu helleren Farbfeldern, dazu hört man in sechs Sprachen geflüsterte Texte, die von Träumen und Filmen über Träume handeln. Diese Arbeit gibt dem "Site Specific"-Konzept der siebziger Jahre einen neuen Sinn: Sie ist sozusagen "Internet Specific", weil sie das Fenster, durch das man auf das WorldWideWeb sieht, thematisiert: den Browser und das"surfende" Klicken, mit dem man sich durch den zweidimensionale, grafische Raum des Internet bewegt.

Die einfarbigen Flächen werden zu Traumschirmen, auf die man seine Erwartungen und Vorstellungen projiziert, nicht umgekehrt. Es ist nicht das Internet, das uns "etwas mitteilt", sondern wir sind es, die dem Netz unseren eigenen Sinn einschreiben. Hier wird das Internetsurfen zu seinem logischen Ende geführt: Statt sich angeblich von Information zu Information zu bewegen, wandert man bei "Dream Screen " ziellos durch einen entleerten Raum, der vollkommen durch unsere eigene Imagination gefüllt werden muß: besser kann man den drive durch den virtuellen Raum der Wunschmaschine Internet kaum beschreiben.

Die einzige partizipatorische Arbeit auf dem Server des Dia Center for the Arts ist "Most Wanted Painting" von den russischen, in die USA ausgewanderten Künstlern Komar & Melamid. Es ist eine Internet-Fortsetzung ihrer "The PeopleŽs Choice"-Serie, bei der sie Meinungsforschungsinstitute damit beauftragt hatten, herauszufinden was für Gemälde Menschen in verschiedenen Ländern gerne sehen würden. Nach den Umfrageergebnissen malten sie Ölbilder mit Motiven, die von der Mehrheit stark gewünscht oder abgelehnt worden waren.

Komar & Melamid haben sich wirklich Mühe gegeben, um herauszufinden, was "die Menschen wollen", aber die Bilder, die dabei herausgekommen sind, sind mehr als merkwürdig. Es wäre interessant, ob sich diese Bilder auf dem "freien Markt" zum Beispiel als Postkartenmotive verkaufen würden. Denn obwohl Komar & Malamid sehr exakt die Umfrageergebnisse umgesetzt haben, haben die Bilder, die dabei entstanden sind, etwas irritierendes, fast gruseliges: Was macht Jesus da eigentlich mit dem Hirsch?

Komar & Melamids Arbeit ist ein recht düsterer Scherz über eine Forderung, die bis heute immer wieder an die Kunst herangetragen wird: daß sie dem Geschmack der einfachen Menschen entgegenzukommen habe, daß sie, wie es zur Zeiten des Sozialistischen Realismus in der Sowjetunion hieß, den Erwartungen der Massen an die Kunst entsprechen solle. Komar & Melamid führen diese Forderung ad absurdum, indem sie ihr Plansoll über-erfüllen.

So wie sie in ihren Arbeiten aus den siebziger und achtziger Jahren das Genre des Sozialistischen Realismus ins Groteske übersteigerten ("Die Musen grüßen Stalin"), so stellen sie mit "Most wanted painting" die Mechanismen des real existierenden Kapitalismus als eine andere Form des Totalitarismus bloß: statt einer allmächtigen Parteibürokratie sind es im Kapitalismus Marktforschungsinstitute und Einschaltquoten, die die Gesellschaft formieren.

Schon auf ihrem Bild "Die Konferenz von Jalta" aus den achtziger Jahren sitzen Stalin (real existiert habender Sozialismus) und E.T. (Gesellschaft des Spektakels) unter einem roten Baldachin, im Hintergrund ist im Halbschatten Hitler zu erkennen, der sich den Zeigefinger über die Lippen legt: 'Pssst, sagt es nicht weiter, aber strukturell ist das eine politische System so totalitär wie das andere.'

"Most wanted Painting" in den USA

Diese Arbeit im Web noch einmal zu präsentieren, war dabei mehr als naheliegend: Nicht nur, daß das Internet das perfekte Medium ist, um Umfragen ohne die Hilfe teure Meinungsforschungsinstitute durchzuführen; ganz schön luzide ist es auch, daß Komar & Melamid das Netz scheinbar als eigenes Land oder wenigstens als eigene internationale community mit eigenen Regeln und eigenem Kunstgeschmack ansehen - besonders wenn man weiß, daß beide keinen Computer besitzten und Email-Anfragen zu ihrem Projekt handschriftlich per Fax beantworten.

In der Tat unterscheiden sich die Antworten der Netzsurfer - der gegenwärtigen Internet-Demographie entsprechend - stark von denen aus den befragten Nationalstaaten. Im Gegensatz zu allen anderen Gruppen entschieden sie sich als einzige gegen Landschaftsszenen, und bevorzugten im übrigen "moderne" Themen für ihre Bilder. Außer den Türken waren die Internauten auch die einzigen, die lieber nicht-religiöse Motive auf Bildern sehen, wie man der Statistik auf der DIA-Seite entnehmen kann.

Die "Most wanted Paintings", die Komar & Melamid nach diesen Umfrageergebnissen gemalt haben, sollten eigentlich in diesem Sommer bei der Biennale in Venedig zu sehen sein. Im vergangenen Monat blies die russische Regierung das Projekt überraschend ab - offenbar, weil sie ihr Land nicht durch zwei im Ausland lebende Exilrussen repräsentiert sehen mochten. "Bis Redaktionsschluß" - so hätte man früher geschrieben, als Artikel noch auf Papier gedruckt wurden und nicht in für immer aktualisierbarer, digitaler Form im Internet lagen - war noch nicht klar, ob diese Entscheidung endgültig ist. In einer Email von Dia, die an dem Tag, als dieser Artikel für beendet erklärt wurde, heißt es, daß man immer noch hofft, daß Komar & Melamid - wie geplant - bei der Biennale einen Raum mit ihren Internetbildern tapezieren können.

Anmerkung:
In den nächsten Wochen soll ein Webprojekt von Tim Rollins + KOS mit dem Titel "Prometheus Bound" beim Dia Center for the Arts ans Netz gehen.

Weitere Online-Gallerien in den USA:

Turbulence

Postmasters

Adaweb

Artnetweb

Stadium