Nachrichten vom Nullmeridian

V. Fashion-Victims in Blairitannien

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Nach einer, allerdings kaum merklichen, Verminderung der Intensität des urbanen Lebens im August, hat der September nun mit voller Wucht zugeschlagen. London brummt vor Aktivitäten, ob die Ausstellung "Sensations" im Royal College of Art, die London Fashion Week oder der Parteikongreß von Labour in Brighton. Was dabei immer offensichtlicher wird, ist, wie sehr das Konsumprodukt Blairitannien von der Schaffung von Hypes abhängig ist.

How To Design a Nation

Was bei aller Vielfalt der großstädtischen Verlockungen besonders auffallend ist, ist die Intensität des konsumeristischen Paradigmas. Nun wollte niemand behaupten, daß Deutschland, Österreich oder die Schweiz werbefreie Zonen wären und nicht ihr Bestes geben, dem marktwirtschaftlichen Zug zu folgen. Doch kaum an einem anderen Punkt der Welt sind die Verflechtungen von Produktion und Konsumtion, von individuellen Begierden und massenmedial hergestellten Trends, von Werbestrategien und Mini-Zielgruppen so offensichtlich und intensiv zugleich wie in London.

Diese Verflechtungen folgen einem bekannten Muster. Trends werden von sozialen Kleingruppen geschaffen, die ein bestimmtes Auftreten oder Aussehen zu einer erkennbaren sozialen Mikro-Einheit kondensieren. Diese Innovationszentren beginnen sofort über ihre Ränder hinauszustrahlen und, sei es der Neid, als urmenschliches Antriebsmotiv, oder der Wunsch, einer Elite anzugehören, andere, die nicht ursprünglich zum "Club" gehörten, beginnen dem Beispiel zu folgen. Dann kann es nicht mehr lange dauern, bis die immer wachen Trend-Scouts der Agenturen von dieser neuen Sache Wind bekommen, den Trend in die Form einer neuen Produktlinie zu gießen beginnen oder ihn in die Corporate Identity und Werbestrategie ihres Unternehmens integrieren.

Vorbild und oft auch Trendsetter, vor allem im Mode- und Musikbereich, ist die Club-Kultur. Die Musik-In-Clubs der letzten beiden Dekaden sind ihren Vorläufern in Gestalt der alten britischen Exklusivitätskultur dabei gar nicht so unähnlich und können als deren neueste Ausläufer gesehen werden.

Diese Art der Umwälzung von Subkulturen in Warenformate, von alternativen Subkulturen oft als ausbeuterisch-kapitalistischer Prozess verschrien (und als Überlebensprinzip pragmatisch betrieben), ist heute allerdings Teil der allgemeinen Wissensbasis geworden und sowohl die diversen Subkulturen als auch die Steuerzentralen von Top-Down-Institutionen wie Regierung oder Konzerne haben begonnen, in vielfältiger Weise auf diesen Prozess, dieses Potential der Trendstiftung und ihre Mechanismen zu reagieren. Mit anderen Worten, alle versuchen nun ihre eigenen Trends und Hype-trächtigen Mikro-Makro-Mythen zu stiften. Die Regierung Blair arbeitet, nachdem das Markenzeichen New Labour bereits etabliert ist, am Design von New Britain. Um dies zu unterstreichen, werden nicht nur Ministerien-Logos umdesignt, Tony Blair hat auch einen Design-Wettbewerb ausgeschrieben, der junge Industrie-Designer und Erfinder für das Entwerfen vermarktbarer Industrieprodukte belohnt.

"Sensations" - junge britische KunstsoldatInnen

Die Kunstwelt, allen voran das Royal College, scheint sich geschlossen hinter diesen Design-Aktivismus zu stellen und präsentiert mit "Sensations" - Young British Artists aus der Saatchi-Sammlung - eine Schau eines bestimmten englischen Künstlertypus, die gezeigt haben, wie gelungenes "Branding" im nach-thatcheritischen England der frühen neunziger Jahre auszusehen hat und ein "britischer" Markenname zu einem internationalen Exportschlager werden kann. Da London nicht nur den Hype liebt, sondern auch im Runtermachen große Klasse ist, wurde die Herkunft der Ausstellungsstücke aus der Sammlung Saatchi und damit die Nähe zum Kapital der Boom-and-Bust Ökonomie genügend gegeißelt. Nicht zuletzt fiel es selbst gewogenen Kritikern schwer, zwischen dem Marketingkalkül, das die Künstler bewußt eingegangen sind, und dem "Inhalt" ihrer Arbeiten zu differenzieren.

Die Bezeichnung "British" in der Kollektivdarstellung einer bestimmten Künstlergeneration verweist auf die willentliche oder zumindest tolerierte Aneignung ihrer künstlerischen Tätigkeit durch nationalstaatliche Politik. Kunst läßt sich hervorragend für Öffentlichkeitsarbeit und kulturelle Standortpolitik von Nationalstaaten einspannen. In dieser Hinsicht zumindest ist "Sensations" tonangebend in der Kunst. Der Hype und die Diskussion um diese Ausstellung zeigten, daß Kunst es zumindest geschafft hat, als Schwerkraftzentrum symbolischer Kapitalanhäufung und Redistribution voll in den marktwirtschaftlichen Kreislauf integriert zu werden, nicht mehr und nicht weniger.

"Wir sind immer cool": Modeindustrie am Drücker

Da wäre es für manche Künstler nur mehr der nächste naheliegende Schritt, dem Vorbild der Designermodehäuser zu folgen, eine Holding "Young British Artists" zu gründen und an die Börse zu gehen. Die Modebranche ist, neben der Musik, wohl die eigentliche Speerspitze und auch der größte Nutznießer der neuen Konsumbewegungen.

In der Mode hat sich ein signifikanter Szenenwechsel ereignet, an dem London im allgemeinen, und die Musik-Club-Szene im besonderen wesentlichen Anteil hatte. Als den großen Modehäusern die Kundschaft wegzusterben begann - noch in den vierziger Jahren gab es weltweit 40.000 Haute Couture Kundinnen, nun sind es nur mehr 4000 - sprang die Dance- und Club-Szene, vorangetrieben von Medien wie Face, I-D und MTV, hilfreich ein. Pfiffige In-Menschen verstanden es, bei Ab- und Sonderverkäufen billig erstandene Pret-a-porter-Ware von großen Namen wie Yves Saint Laurent oder Gaultier einfallsreich mit Selbstgenähtem oder Standard-Jeanswear zu kombinieren.

Gaultier reagierte als erster auf diesen zunächst verkaufsschädigenden Trend und lancierte Gaultier Junior, eine Marke, die den Namen Gaultier zusammen mit Jeans, T-Shirts Sweaters und Jacken verkauft. Vom Odeur des großen Namens berührt, verkauft sich diese Ware besser als Standardjeans, ist teurer als diese, aber wiederum billiger als echte Gaultier-Markenklamotten.

Praktisch alle großen Namen in der Modeindustrie sind diesem Trend gefolgt und haben eigene Jeans- und Casual-Wear Linien auf den Markt gebracht. Daneben gibt es ganz neue Marken, die nur dieses spezielle Marktsegment bearbeiten. Die ursprünglichen Proponenten der "unreinen" Markenmode (MTV, Face, I-D, etc.) haben natürlich positiv auf die Designer-Jeans aus dem Hause ihrer besten Anzeigenkunden reagiert und die Kernkäufergruppen haben ebenfalls angebissen. Die markennamensüchtigen, ja -fetischistischen Techno-Tribes und House-Fans, welche die verschiedenen Clubs bevölkern, über deren Schwelle niemand schreitet, der sich nicht ein wenig Mühe gibt, trendy, hip oder cool auszusehen, kombinieren wie eh und jeh Designer-Coolness mit Sportartikelmarken und einschlägigen Marken wie Stüssi.

Das Pendeln des Shopping-Barometers zwischen High-Street-Shopping und Clubbing-Underground, das schon in den achtziger Jahren lebhaft swingte, erreicht nun ungeahnte Amplitudenstärken.

Das ehemals als typische Neureichensünde betrachtete Außen tragen von Designerlabels - einer typischen "Face"-Legende zu Folge wurde dies von nach Paris emigrierten Westafrikanern zuerst eingeführt, die ihren neuen Reichtum stolz zeigten, indem sie die Etiketten ihrer Designeranzüge abtrennten, und außen an gut sichtbaren Stellen annähten - wird heute auf industriellem Niveau nachgeahmt. Designerjeansmarken begannen, ihre Logos großformatig auf alles, was sie produzierten, aufzunähen. Und auch das wurde von den Käufern geschluckt.

Wer sich nun heute, an einem guten Shopping-Nachmittag, auf die Oxford Street wagt, ist von einer wogenden Masse von Calvin Kleins, Dolce & Gabbanas, Yves Sant Laurents, Gianni Versaces, Donna Karans, Armanis und Armani Juniors und wie sie alle heißen, umgeben. Sie prangen auf T-Shirts, Jeans, Jacken, Schuhen, Einkaufstaschen, selbstverständlich auf Plakaten aller Größe, in den Auslagen der Geschäfte. Selbst in der Ferne, auf doppelstöckige Busse aufplakatiert, fahren noch schwindsüchtige, androgyne Calvin Klein-Kids überlebensgroß vorüber.

Obwohl mit Abstand billiger und in Stoff, Schnitt und Haltbarkeit im Großen und Ganzen besser, weil einfach praktischer, kämpfen traditionelle Jeansmarken ein verzweifeltes Rückzugsgefecht. Levis, Wrangler und alle, die es sich noch leisten können, fahren mächtige Werbekampagnen mit allen Tricks, zu denen MTV-Cutter fähig sind, um ihren "wir sind immer cool"-Status aufrecht zu erhalten. Den Vogel schießt dabei Diesel ab, die vom Jeansmarken-Image abrücken und ebenfalls in die Designerkategorie aufsteigen wollen. Ihre neueste Plakatkampagne zeigt verschiedene Straßenszenen eines verarmten, ja elendigen Mao-China und im Hintergrund, als Plakat im Plakat, westliche gutgelaunte Pärchen im Diesel-Look, die lebensfrohe Erotik-Botschaften verbreiten. Da frage ich mich, ob ich etwas nicht richtig verstanden habe, ob mir vielleicht irgendeine Ironie entgangen ist, oder ob das nicht einfach ein plattester Propagandazug ist, ein anstößiger, rassistischer Witz auf Kosten von 100 Millionen Chinesen, die am Boom ihres Landes keinen Anteil haben und als Arbeitslose oder Wanderarbeiter mit Niedrigsteinkommen ein Leben unter der Armutsgrenze im China der 90ziger Jahre fristen.

Doch allen zynischen Exzessen zum Trotz scheinen die Designer-Jeans weiter im Aufwind zu sein. Die wachsende Mittelklasse der Jungen und Flotten, egal welcher ethnischen Gruppe sie angehören, wollen an der Exklusivität der Markennamen Anteil haben, sich in den "Club" einkaufen, sinnbildlich und wörtlich. Ein dezentes d & g am T-Shirt oder ein schreiendes DKNY hilft, Rassen- und Klassenschranken zu überwinden, vermittelt ein neues Identitätszugehörigkeitsgefühl (branded communities) und ist auch die Eintrittskarte für das Wochenend-Clubbing-Vergnügen. Sicherlich kann man darüber den "Verlust echter Gemeinschaftsgefühle" beklagen oder über den Charakter von "Ersatzreligionen" herziehen, den diese Marken nun eingenommen haben. Doch wahr ist zugleich auch, daß es dieses Elite-Zugehörigkeitsgefühl vermittelt durch Marken, immer schon gab, es nun aber einer Masse zugänglich (erschwinglich) geworden ist.

Ähnliches ist ja auch im modernen Möbeldesign durch IKEA passiert und wurde jüngst, auf einem etwas teureren Niveau, von Habitat wiederholt. Die neuen Briten im neuen Britannien schmeissen ihre Fusselteppiche, Blumentapeten und künstlichen Kamine raus, wandeln nun über Pinienholzböden und speisen am modernistisch schlichten Birnenholzesstisch aus heimischer Produktion (kein Tropenholz!) in hellen Farben, vor ungemusterten monochromen Gardinen (z.B. hellgrün oder orange, wie die Hemden), während der Lavazza gerade in der Bodrum-Kaffeekanne aufquillt. (Und darin sind sie eigentlich allen anderen Europäern ziemlich ähnlich geworden.)

Weil das Geschäft nun schon so gut funktioniert, haben die Designermarken begonnen, die verschiedensten Zusatzprodukte aufzulegen, vom teuren Parfum, bis zum Merchandising-Wegwerfartikel. Wenn das Grundgesetz ersteinmal verstanden ist, daß der Name heute alles ist, dann kann unter diesem Namen alles verkauft werden.

So wird es wohl nur eine Frage der Zeit sein, bis es die Donna Karan Lebensversicherung gibt oder den Dolce & Gabbana Pensionsfonds.

Die Supermarktkette Tesco tritt als Vorreiter auf, indem sie eine Kreditkarte anbieten, die nicht nur dem Einkauf dient, sondern auf deren Konto auch ganz normal gespart werden kann, und zwar zu einem besseren Zinssatz, als ihn die meisten Banken anbieten können.

Global Cooling im Designer-Ghetto

Der Designer-Staat, von dem auch Tony Blair träumt, nimmt damit greifbare Formen an. Die Marken beschränken sich nicht mehr darauf, gegessen, getragen oder gekauft zu werden, sie wollen ins Herz geschlossen werden und sie wollen selbst Ereignis sein. Wie in Stephensons Snowcrash sind global gestreute, parzellierte Ministaaten denkbar, die jeweils einer Marke gehören. Daß sich die Aufsplitterung der Gesellschaft nach Marken auch auf die räumliche Organisation der Stadt auswirkt, ist nur mehr eine Frage der Zeit und in Ansätzen bereits erkennbar.

So gab es im September im Hoxton Square Park in Shoreditch einen Nachmittagsevent namens "Global Cooling" mit DJ- und Graffiti-Wettbewerb. In meiner Naivität hatte die Ankündigung für mich nach einer jugendorientierten Nachbarschaftsparty geklungen, entpuppte sich aber als ein durchgestyltes Marketingunternehmen der amerikanischen Biergruppe Fosters, die solcherart die neue Marke Ice zu pushen versucht, die nach dem Corona-Vorbild als Bier mit Limonadengeschmack aber normalem Alkohohlgehalt die Clubbing Generation ansprechen soll. Wie konnte ich nur so naiv sein und mich in einem Kreuzberger Sommertag im jahr 89 wähnen, wo die Kids ein wenig rappen und breakdancen. Hier war alles Fosters, nicht nur das wirklich ungenießbare Bier, auch der Inhalt der Wettbewerbsgraffitis (Vorgabe), die Bandenwerbung um die Bühne, die Kamerateams, die jeden Mucks aufzeichneten und das Publikum, das einem teilweise wie von Fosters gemietete Statisten erscheinen mochte, ein ultratrendiger Querschnitt durch die Anwohnerschaft der umliegenden Ateliers, Gallerien, Studios für Modedesigner, Multimediadesigner, Filmemacher usw..

Noch bis vor wenigen Jahren galt dieses Gebiet mit seinen vielen heruntergekommenen Warenhäusern und an der Grenze zu traditionellen Armutsvierteln im East End liegend, sowie zu Hackney mit seinem hohen Squatter-Anteil, und Dalston mit seinem notorischen Drogenproblem, als nicht sehr attraktive Zone, in der höchstens einige wagemutige Künstler vergleichsweise billige Ateliers finden konnten. Nachdem die Künstler-Vorhut aber einmal eingesickert war, folgte schnell eine zahlungskräftigere Mieterschaft aus kommerziellen Kreativ-Berufen, und heute liegen die Preise für chicen Loft-Space in Shoreditch höher als in Soho.

Hype als Rohstoff

Die Anreiner des Hoxton Square sind, wie Richard Barbrook sagen würde, Digital Artisans, spezialisierte Kunsthandwerker, die meist mit digitalen und anderen Medien in einer neuen Heim- und Kleinstudio-Industrie arbeiten. Mit anderen Worten, sie besitzen jene Fertigkeiten, die für die Bildung und Knetung des Hype vonnöten sind, sie sind die Avantgarde der Hyperindustrie.

Wirtschaftszweige wie Mode, Musik und Entertainment sind für Großbritannien ein wahrhaft signifikanter Faktor. Der Erfolg dieser Industrie ist nicht in der Qualität ihrer Produkte, oder in anderen faktisch benennbaren Wettbewerbsvorteilen begründet, sondern allein in der unscharfen Bedeutung von Worten wie "trendy", "hip" oder "cool". Alles hängt von schnell wechselnden Codes ab, dem "Hipness"-Faktor. Und so ist es leicht zu verstehen, mit welchem Furor die Medienlandschaft auf jedes Anzeichen eines neuen Trendsyndroms reagiert.

Das Hochheben der eigenen Stars, wie z.B. des neuen Modekönigs McQueen, oder des (alten) Young British Artist Damian Hirst ist Teil eines ökonomischen Überlebenskampfes einer ganzen Nation, die außer Trends kaum etwas produziert.

So ist, als ökonomische Analyse, nicht etwa, wie der Weltwährungsfonds es jüngst tat, die Flexibilität des britischen Arbeitsmarktes als vorbildlich zu loben, sondern die Konzentration auf die Fabrikation von Hype. In einer sich dematerialisierenden, globalen digitalen Ökonomie ist Hype der beste Rohstoff und die beste Ware zugleich und, sofern es gelingt, den Hype als Dauerbrenner zu installieren, eine nie versiegende Quelle von Einkommen.

Blairitannien erscheint wie ein großes Soziallabor unter einer Glasglocke, in dem Gesellschaftstechniker eifrig an allen möglichen Parametern der Entwicklung zugleich schrauben, ob Gesundheit, Bildung, Steuern, Sozialleistungen, Familienrecht oder Justizsystem.

Eine eng geführte Kommandozentrale hält dabei unerbittlich die Fast Forward Taste gedrückt und der von Mandelson und anderen Spin Doctors beratene Blair ist in der Rolle dessen, der Überzeugtsein und Überzeugung zu vermitteln hat, daß das auch alles zu einem guten Ende führen wird. Da trifft es sich wunderbar, daß demnächst die neue Spice-Girls CD erscheint, deren Image über 50 weitere Konsumprodukte vermarkten helfen soll, von der Spice-Girls Schokolade von Chadbury über Sony bis hin zu Produkten der Asda-Supermarktkette. Spice it up, Tony!