Liegt Berlin in Cannes?

Rundgang auf der Berlinale

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Was muß der Journalist, der die Berlinale besuchen will, normalerweise im Reisegepäck haben? Eine lange Unterhose für jeden Festivaltag, festes Schuhwerk, eine warme Kopfbedeckung, Handschuhe und eine dicke Winterjacke. Normalerweise hat der fiese Berliner Winter nämlich gerade dann seinen unerfreulichen Höhepunkt erreicht, wenn im Februar traditionsgemäß das größte deutsche Filmfestival über die Bühne, beziehungsweise über die Filmleinwand geht.

Mit unsicherem Schritt, rutschend und stolpernd, bewegen sich dann Filmschreiber, Festivalveranstalter, Regisseure, Schauspieler und Kino-Fans von einem Kino zum anderen: von der Festivalpressestelle im Hotel Interconti in Schöneberg zum Zeughaus-Kino in Mitte, vom Zoo Palast am Bahnhof Zoo zur Akademie der Künste im Tiergarten.

Manchmal im Taxi, meist aber mit U-Bahn und Bus, bewegt sich der Tross von einer Filmvorführung zur nächsten Pressekonferenz. Die Berlinale ist für die Festivalbesucher, die nicht aus Berlin stammen, auch in Crash-Kurs in der Benutzung der örtlichen Nahverkehrsmittel. Und eine Blitzeinführung in das gemeinsten deutschen Winterwetter. Das ist auch vollkommen in Ordnung. Denn schließlich ist die Berlinale nicht Cannes, sondern ein Festival, bei dem gearbeitet wird: Filme gucken, Notizen machen, Interviews führen, die Redaktion, das Kino oder den Verleih zuhause anrufen, "Kontakte pflegen". Normalerweise.

Aber in diesem Jahr stimmt etwas nicht mit der Berlinale: die Temperatur bewegt sich seit Beginn des Festivals am vergangenen Donnerstag auch nachts konstant über dem Gefrierpunkt, wer in dicker Winterkleidung von Kino zu Kino hastet, kommt schweißüberströmt an, und Mütze und Handschuhe braucht man schon gleich gar nicht.

Wenn das so weiter geht, werden wohl auch bei der Berlinale demnächst wie in Cannes leichtbekleidete Starlets vor dem Zoo-Palast promenieren und Filmschaffende in dünner Sommerkleidung in Strassencafés sitzen und die Blicke auf sich ziehen. Ein Filmfestival nicht im Zeichen einer neuen Filmrichtung, sondern im Zeichen der Klimakatastrophe.

Immerhin wurde die Kino-Moderatorin von Viva bei einer Aufnahme vor dem Berliner Zoo-Palast schon mit fidelen "Ausziehen! Ausziehen!"-Rufen aus dem Publikum begrüßt. Stargast Robert De Niro, der eigentlich in Berlin erwartet wurde, mußte leider in letzter Minute absagen: Man hatte ihn in Paris bei einem Bordellbesuch festgenommen, und Christoph Schlingensief kommentiert in der "jungen Welt" sinnfrei: "In der Welt gibt es mehr Callgirls als Robert de Niros. Das ist gut so." Jean-Luc Godard, der erst angekündigt, dann wieder abgesagt, dann doch wieder angekündigt wurde (und zwar als Gast im Berliner Ensemble, Altvater Brechts ehemaligem Wirkungsort), kommt wohl auch nicht. Also schon mal zwei Strassencafé-Hocker, die leer bleiben und folglich auch keine Blicke auf sich ziehen werden.

Ansonsten ist freilich alles wie immer: Die Mailboxen im Pressezentrum quellen über vor lauter Waschzetteln. Im "Schreibraum" brüten japanische Filmjournalistinnen und brasilianische Starkritiker nebeneinander an den gut 40 Terminals über ihren Berichten. Irgendwo wird auch dieses Jahr wieder Alexander Kluge an einem kleinen Tischchen sitzten, und sich im Halbstunden- Rhythmus die Interviewgäste zuführen lassen, mit deren Gesprächen er 1998 einen Gutteil seiner Kulturfenster bei RTL und Sat.1 füllen wird. Und an der Berlinale-Kasse im Europa-Center stehen sich Berliner Filmfreunde die Beine in den Bauch, um eine Karte zu den Highlights der Berlinale zu ergattern. In Berliner Zeitungen wurden von Vielbeschäftigten per Kleinanzeige sogar schon Leute gesucht, die sich für Geld an der Schlange anstellen, um Tickets zu kaufen.

Zu den Filmen, zu denen man wohl ganz besonders schwer Karten bekommen wird, gehören in diesem Jahr "Jackie Brown", der neue, lang erwartete Film von Quentin Tarantino, "The Big Lebowski", das neue Werk der Gebrüder Coen (Barton Fink, Fargo), und "Wag the Dog" von Barry Levinson (Good Morning Vietnam, Rain Man). Ob einer dieser Filme einen Wettbewerbspreis bekommen wird, oder vielleicht einer der Außenseiter, wie "Hold you tight" von Stanley Kwan aus Hongkong oder gar der deutsche Beitrag, das bemühte "Mambospiel" von Michael Gwisdek, interessiert die Fachbesucher der Berlinale meist wenig. Sie sind nicht der Grund, zur Berlinale zu kommen, zumal man die meisten Wettbewerbsfilme früher oder später auch in einem Kino in der Nachbarschaft zu sehen bekommen wird. Die Schnulze "Good Will Hunting" von Gus Van Sandt (ebenfalls im Wettbewerb) hat sogar schon nächste Woche offizielle Deutschland-Premiere.

Der Grund zur Berlinale nach Berlin zu kommen, sind die Filme des "Forums" und des "Panoramas", die zu sehen man oft nur hier die Gelegenheit hat. Hier sind neben dem Mainstream- Kram, den die Berlinale als Konzession an das breite Publikum und an Innenminister Kanther (der zur Eröffnung gekommen war) zeigt, wirkliche Raritäten und interessante Produktionen zu sehen.

The Big One

Der Star der ersten "Forum"-Tage war Michael Moore. Weder sein zweiter Film "The Big One" noch der schwergewichtige Regisseur waren an den ersten Festivaltagen zu übersehen: In seinem ersten Film, der Realsatire "Roger and Me", hatte Moore den Niedergang seiner Heimatstadt Flint in den USA dokumentiert, in der einst General Motors die erste Produktionsstätte in Betrieb genommen hatte und in der später die amerikanische Arbeiterbewegung geboren wurde. In "The Big One" zeigt Moore, daß auch unter der Clinton-Regierung der Kollaps der Schwerindustrie und die damit einhergehende Verelendung ganzer Landstriche munter weitergeht.

Wie ein Volkstribun spaziert Moore in die Lobbys von amerikanischen Großkonzernen, und bittet, dem Vorstandvorsitzenden einen Scheck über 25 Cents überreichen zu dürfen. Soviel Stundenlohn bekommt nämlich ein Arbeiter in Mexiko, wohin viele Unternehmen ihre Produktion auslagern. Als er schließlich tatsächlich mal von einem Big Boss empfangen wird, wird die Audienz zur gnadenlosen Selbstmontage: der Chef von Nike grinst auch noch jovial, als Moore ihn mit der Ausbeutung in den indonesischen Fabriken des Sportschuh-Herstellers konfrontiert. Sonst hat er zum Thema nicht viel beizutragen, aber: "Ich bin mir sicher, daß Amerikaner keine Schuhe herstellen wollen."

In der deutschen Presse ist Moore Selbstgefälligkeit vorgeworfen worden, weil er - zugegebenermaßen - immer im Mittelpunkt seines Films steht. Was Moore im Gegensatz zu seinen Kritikern verstanden hat, ist indes, daß auch die "richtigen Anliegen" heute einen identifizierbaren Protagonisten brauchen. Er hat von seinen Gegner gelernt, und tritt in "The Big One" als eine Art Ronald McDonalds eines ebenfalls von der Schließung bedrohnten Unternehmens auf: der amerikanischen Linken. So sieht radikales Kino im Zeitalter der Globalisierung aus, und von Deutschland aus sieht man neidisch und ein wenig fassungslos zu.

Mit Applaus zum Schweigen gebracht

Auch im Bereich des traditionellen Kunstfilms hat die Berlinale Höhepunkte zu bieten, auch wenn das nicht jeder gleich versteht: Ein leiser Höhepunkt war "Faire-part: Musée Langlois" von Jean- Rouch ("Die Herren des Wahnsinns"), in dem der greise Filmemacher eine letzte Führung durch das Pariser Filmmuseum veranstaltet. Wenige Tage nach den Dreharbeiten brannte das Museum unter dem Eiffelturm aus, das schon länger geschlossen war, weil es einem "Museum der Nationalkultur" Platz machen soll. Jetzt ist Rouchs Film passenderweise das letzte Zeugnis des Filmmuseums.

Auch so kann die Berlinale sein: Kaum ist der einstündige Film vorbei, schon steht der alte und immer noch alerte Rouch vor der Leinwand, und fängt sofort zu erzählen an, als sei es gestern gewesen: von Vertov, Rosselini, Chaplin, Flaherty, Hitchcock. Forums-Chef Ullrich Gregor kommt gar nicht dazu, irgendwelche Fragen zu stellen, Rouch redet und redet, und offenbar weiß das Publikum nicht, daß er zweifellos in der Filmemacher-Liga rangiert, von der er da so eloquent erzählt. Immer wieder unterbricht der Applaus von einigen Filmfreunden Rouchs Erzählungen, um seinen Redefluß zu beenden. Auch so kann die Berlinale sein.

Technospace und Retrospektiven

Ein Publikumsliebling war erwartungsgemäß der Film "Modulations" von Iara Lee. Lee hat schon bei ihrem Debütfilm "Synthetic Pleasures" viel Geschick bewiesen, die immaterielle Welt des Cyberspace ins Medium Film zu übertragen. Jetzt wendet sie dieselbe Methode auf ein ebenfalls einigermaßen unverfilmbares Thema an: "Techno". "Modulations" besteht aus einem blitzartig montierten Zusammenschnitt von Intervies mit wichtigen Protagonisten der Szene. Das ganze flackert MTV-mäßig am überforderten Zuschauer vorbei, aber anders kann man sich dem Thema mit den Mitteln des Kinos wohl nicht nähern.

Die diesjährigen Retrospektiven der Berlinale sind Catherine Deneuve und den Gebrüdern Siodmak gewidmet. Wenn man sich erst einmal von der Überraschung erholt hat, daß die Berlinale es verpaßt hat, sich dem Epochen Jahr 1968 (immerhin: dreißigjähriges Jubiläum) Retro-mäßig zu nähern, ist man froh, daß gerade die Gebrüder Siodmak eine so ausführliche Widmung erfahren. Außer einer Ausstellung und einem üppigen Katalog wird so ungefähr jeder Streifen gezeigt, an dem einer der beiden deutschen Emmigranten in Hollywood beteiligt waren.

Beide waren als Juden 1933 aus Deutschland geflohen und hatten sich mit wechselndem Glück in Hollywood versucht.

Während Robert Siodmak ("Menschen am Sonntag") nach einigen Anlaufschwierigkeiten einige der finstersten Film-Noirs ("The Killers", "The Spiral Staircase") drehen konnte, ist Kurt Siodmak, der auch in Berlin zu Gast war, nie über B-Filme hinausgekommen. In dem Kino Central werden nun die Billig-Horror-Filme, für die er in den 40er und 50er Jahren die Drehbücher geschrieben hat, ununterbrochen für fünf Mark einmaligen Eintritt vorgeführt. Sie tragen Titel wie "Frankenstein meets the Wolf Man", "The Lady and the Monster" oder "Creature with the Atom Brain". Im Central kann man mit diesen Schlock-Meisterwerken hervorragend die Berlinale überwintern. Trotz frühlingshaftem Klimakatastrophenwetter vor der Kinotür.

Lesen Sie auch die Rezensionen von Lynn Hershmans Film "Conceiving Ada", der auf der Berlinale Europa-Premiere hatte.