Zu cool um bloß Musik zu sein

ShiftControl von Audiorom, London

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Interaktiv CD-ROM Kritik

Wenn die Westküste der USA für Risiko-Kapitalisten und gewaltige Betriebssysteme bekannt ist, Japan für seine Mikroelekronik und Bulgarien für das Programmieren von Viren, was ist dann die Quintessenz von Großbritanniens Beitrag zur globalen Computerkultur? Während UKs Hackergruppen und Spieleprogrammierer beachtlichen Ruf haben, ist wohl kein Produkt im digitalen Zeitalter dermaßen typisch für Großbritannien wie das Mixing-Toy. Das sollte weiters nicht überraschen. Die Kombination von Tanzmusik, coolem Grafikdesign und neuen Technologien spricht die archetypische Besessenheit dessen an, was als neuestes britisches Klischèe gehandhabt wird: das London New Media Kid. Diese kleinen Datenpakete aus elektronischer Musik, Grafik-Design und herzigen Interface-Ideen werden zum 90er Jahre Equivalent für Bowler Hüte oder Roast Beef.

User-Interface der Audiorom CD

Während der letzten Jahre haben Firmen wie Antirom, Modified, Audiorom, Tui, Hex und Sunbather ein Genre aus dem Nichts heraus kreiert. Die Ästhetik ist einfach. Nimm ein paar Teile ‚audio elektronika', zerlege sie in Loops, Instrumentalpartien oder kurze Solo-Phrasen. Schreibe diesen Audio-Bestandteilen visuelle Objekte zu, oder setzte sie in eine bestimmte zeitliche oder örtliche Beziehung zueinander. Designe ein Interface, das es dem User erlaubt, die Sounds zu manipulieren und, letztendlich, tunke das Ganze in gestylte Visuals.

Statt enorme Applikationen zu kreieren, haben die Bestandteile des Mix-Spielzeug-Genres die Tendenz zu Kleinheit und Einfachkeit, sie bauen kleine elektronische Haikus, die die viel zu verbreitete Idee hinterfragen, daß der Interessantheitsgrad eines interaktiven Stückes proportional zu seiner Codelänge ist. Antirom, anerkannte Meister des Mix-Spielzeugs, beschränkten sich ab einem bestimmten Punkt selbst darauf, ihre elektronischen Kling-Klangs kleiner als 50K, also minimierter als das typische Web-Gif, zu halten.

Die allerbesten Mix-Spielzeuge sind schöne Abstraktionen, die dem User die Erforschung von Rythmen, Tönen und Bildern erlauben, was außerhalb von Multimedia unmöglich ist. Indem sie das machen, schaffen sie seinen eigenen Wert als Kunstform und verspotten damit die Hollywoodisierung von Interaktivität: aufgeblasene Budgets und Produktionen und die Entfachung eines Marketing Hype um High-Profile Produkte (meistens Spiele), um die schon der selbe Rummel entfacht wird wie um die Produkte des Mainstream Kinos - mit all seinen Exzessen und kreativen Beschränkungen inbegriffen.

Die schlimmsten Mixer strapazieren geschichtsbezogene Metaphorik und präsentieren sich als eine minderwertigere, ‚virtuelle' Version von etwas, das der Benützer bereits kennt - Mischpulte, Instrumente, Turntables, Juke Boxen. Hauptsächlich findet man die Verwendung solcher konventioneller Metaphorik bei Produkten, die von Plattenfirmen finanziert wurden und oft in den USA ansässig sind.

Der Geruch von in Vorstandsetagen geschlossenen Kompromissen hängt diesen traurigen kleinen ROMs an wie der Zigarettengeruch der letzten Nacht. Ein Bild eines Technics 1200 Plattenspielers auf einem Bildschirm vermittelt nichts von den taktilen Freuden und analogen Besonderheiten des "echten" Dings. Solche Metaphernbildungen, geschaffen um dem User das sichere Gefühl von Vertrautheit zu geben, erzeugen am Ende nichts als Enttäuschung und Nostalgie für das Reale.

Neben der Version auf CD machen Audiorom auch interaktive Soundinstallationen. Hier testen Audiorom gerade eine Interaktion, die auf Licht basiert.

Audiorom, deren zweite CD eben herauskam, gehören zu den besten Produzenten dieses jungen Genres. Die neue Erscheinung, "ShiftControl" betitelt, und an ihren besten Stellen tief im Modus der Abstraktion verankert, wirft neue Verbindungen und faszinierende Möglichkeiten auf. Die Neuerscheinung markiert auch eher einen Endpunkt als einen Beginn, hält sie sich doch so eng an den grundsätzlichen Entwurf der Mixing-Toys, daß der Eindruck entsteht, das Genre bräuchte einen neuen evolutionären Entwicklungsschritt.

16 verschiedene Klang-Spiele können von der Startseite her aufgerufen werden. Einige der besten Interfaces machen Musik aus Worten (eine Freude für jeden Schreiber), d.h. wenn der Nutzer ein Gedicht schreibt oder irgendetwas auf der Tastatur eingibt, entstehen zugleich auch Klänge oder werden Loops abgerufen. Andere Varianten sind etwas konventioneller und orientieren sich mehr am Raster professioneller Musiksoftware wie Cubase, sowie Arten von Bewegung und Einflußmöglichkeiten, die schon von Audioroms früheren Arbeiten her bekannt sind.

Ein typisches Spielzeug ist jenes, bei dem die Klänge zu sich bewegenden Bällen werden, welche die Nutzer einfangen oder ablenken können, indem sie Gegenstände des "Bühnenbildes" verwenden. Das ist ein direkter Abkömmling von Toshio Iwais bekanntem "Musical Insects", ein Multimediawerk aus den frühen neunziger Jahren, das das Denken vieler Leute beeinflußt zu haben scheint, die sich mit musikalischer Interaktivität befaßt haben.

Die Version von Audiorom ist sehr atmosphärisch, ein Effekt, der hauptsächlich auf ihren eigenen, im Heimstudio produzierten Klängen beruht. Breakbeats, Dub Effekte und an einer Stelle ein wunderbares Bebop Trompetensolo kommen alle, genauestens auseinandergenommen und der QWERTZ Buchstabenreihe zugeordnet, nacheinander zur Anwendung.

Die Tonebene ist stärker als die Grafik. Eine Palette schmuziger Grüns und Blaus wird für alle Hintergründe verwendet, wobei die Objekte im Vordergrund nur aus den Umrisslinien bestehen, was sie stark an Schaltpläne oder technische Zeichnungen erinnern läßt. Dieser Einheitslook macht sich nach einer Stunde oder so mit der Audiorom etwas dünn aus und man sehnt sich nach dem Humor und der katholischen visuellen Sinnlichkeit der besten Momente von Antirom zu sehnen (Anm.: Antirom ist eine andere Multimediaentwicklerfirma in London ohne jegliche Verbindung zu Audiorom).

Auch den Wartezeiten wurde wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Für jede neue Sektion ist einige Warterei in Kauf zu nehmen. Allerdings muß ich, um fair zu sein, erwähnen, daß mein Power Pc derzeit sowieso im Schneckentempo läuft, so daß also nicht die ganze Schuld bei den Programmierern liegt.

Abgesehen von diesen Schönheitsfehlern läßt sich diesem Audiorom-Produkt viel Interessantes und Erfreuliches abgewinnen, so daß es auf jeden Fall ein weltweites Publikum verdient.

Hier können Sie eine der Audiorom-Interaktionen ausprobieren (nur mit Shockwave Plug-in).

Die CD ShiftControl von Audiorom kostet 16.99 Pfund Sterling (ca. DM 50.-). Sie enthält ca. 40 Minuten Musik und 16 verschiedene interaktive Interfaces und läuft auf PCs und MACs.

Die CD kann direkt via Email bei Audiorom bestellt werden, oder über das folgende Web-Formular: www.audiorom.com/CDorder

www.audiorom.com

Hari Kunzru war Redakteur von WIRED UK, betreut die Musiksektion bei Mute Magazine, schreibt für den Daily Telegraph und andere UK Medien und arbeitet an einem Buchprojekt.