Mit dreißigjähriger Verspätung

68er-Filme und "nützliche Bilder" beim Oberhausener Kurzfilmfestival

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Es ist unheimlich wichtig, Filme zu drehen, die die Leute richtig sauer machen.

Filmregisseur Thomas Struck, 1968

Es hat dreißig Jahre gedauert, bis dieser Film endlich beim Oberhausener Filmfestival gezeigt werden konnte: "Besonders wertvoll" von Hellmuth Costard war zwar schon 1968 für den Wettbewerb der Internationalen Kurzfilmfestivals angenommen worden, wurde dann aber von der Festivalleitung in letzter Minute aus dem Verkehr gezogen. Wegen "pornographischen Inhalts" (der Film zeigt unter anderem einen sprechenden Penis mit schönster Detailgenauigkeit) befürchtete der damalige Festivalleiter Hilmar Hoffmann, daß die Polizei den Film beschlagnahmen und die ganze Veranstaltung beenden würden.

Durch die Auseinandersetzungen, die "Besonders wertvoll" auslöste, ist in Oberhausen zum zweiten Mal deutsche Filmgeschichte gemacht worden. Zum ersten mal war das Festival, das 1954 als ein Sichtungstreffen für "Kulturfilme" begonnen hatte, durch das "Oberhausener Manifest" 1962 in das Zentrum filmpolitischer Auseinandersetzungen gerückt: Im "Oberhausener Manifest" erklärten eine Reihe von Regisseuren um Alexander Kluge "Papas Kino" für tot. Der Skandal von 1968 war auch der Aufstand einer jüngeren Generation von Filmemachern, die sich gegenüber den "Oberhausener" von 1962 profilieren wollten.

In der politisch aufgeheizten Atmosphäre kurz vom dem Mai 68 führte die versuchte Zensur an "Besonders wertvoll" zu einem Eklat: Fast alle deutschen Regisseure zogen ihre Filme zurück, Peter Handke trat aus der Wettbewerbsjury aus, und schließlich wurde der Skandalfilm in der Universität Bochum gezeigt, wohin das Festivalpublikum mit Bussen gefahren wurde. Kino und Politik - das hatte Ende der 60er Jahre noch wirklich etwas miteinander zu tun. "Besonders wertvoll", schrieb Uwe Nettelbeck damals in der "Zeit", sei ein "'chef d'oeuvre' des deutschen Untergrundkinos... Wir haben keine Zeit mehr zu argumentieren. Wir haben erfahren müssen, daß Argumente zur Zeit nichts ausrichten. Wir brauchen Filme, die Argumente sind: "Besonders wertvoll" ist ein solcher Film."

Als "Besonders wertvoll" 1998 endlich mit dreißigjähriger Verspätung im Festivalprogramm lief, hat es keinen Aufstand mehr ausgelöst. Im Kinosaal gab es nach der Vorführung verhaltenen Applaus für den anwesenden Filmemacher Costard, und wahrscheinlich haben sich die meisten der jungen Zuschauer gefragt, wer mit diesem Film vor dreißig Jahren provoziert werden sollte - zu stark ist "Besonders wertvoll" an ein - inzwischen vollkommenen umgebautes, marktförmig gemachtes - Filmförderungssystem adressiert. Der Film, der in der letzten Zeit wieder im Vorprogramm von Christoph Schlingensiefs "120 Tage von Bottrop" durch die Kinos tingelte, kann heute als historischer Underground-Streifen goutiert werden. "Der Film hat seinen Zweck erfüllt", hat Hellmuth Costard bereits vor Jahren konstatiert.

Auch einige andere Filme, die in der Retrospektive zum Jahr 1968 liefen, haben nach 30 Jahren viel von der Faszination verloren. Besonders die experimentellen Filme aus dieser Zeit lösen beim Zuschauer heute eher Unverständnis aus. Andere - wie Thomas Strucks "Der warme Punkt" oder Adolf Winkelmanns "Kassel 9. 12. 1967, 11.54" - haben sich dagegen bis heute eine jugendliche Frische, Radikalität und Unverschämtheit bewahrt, die die Werke von Filmstudenten der Gegenwart meist vermissen lassen. Doch nicht nur um Provokation und Propaganda ging es den Filmen von 1968, sondern auch um Pop. In Rudolf Thomes "Jane erschießt John, weil er sie mit Ann betrügt" (1967) erschießt Jane John, weil er sie mit Ann betrügt, in großzügigen, leergeräumten Bildern mit designlastigen Kulissen in schwarz-weißen Cinemascope - eine cineastische Spezialität, die seinen Klassiker "Rote Sonnen" in kleiner Form vorwegnimmt.

Doch weniger die Filme als solche, sondern eher die Situation, in der sie als Politikum ersten Ranges wahrgenommen werden konnten, ist aus heutiger Sicht gleichzeitig aufregend und unvorstellbar. In Dokumentarfilmen und Fernsehberichten über das Oberhausener Filmfestival, die die rührigen Organisatoren in diesem Jahr aus den Archiven der öffentlich-rechtlichen Anstalten ausgegraben haben und die in einer langen Kinonacht von Mitternacht bis vier Uhr morgens zu sehen waren, konnte man die aufgeputschte Stimmung nachempfinden: Filmemacher verlasen Manifeste und diskutierten hitzigst, die Festivalleitung äußerte sich sichtlich verunsichert über den Aufstand im Saale, und sogar die Oberhausener Bürgermeisterin trat vor das Publikum, um die Situation zu entschärfen.

Im Vergleich mit solchen Szenen wirkt das Oberhausener Filmfestival 1998 nur noch wie ein Sequel, das nicht an das Orginal heranreicht. Die utopischen Hoffnungen auf Aufklärung, Agitation und Grenzüberschreitung, die die Achtundsechziger mit dem Kino verbunden haben, sind heute an andere Medien - wie das Internet - gekoppelt. Werner Herzog, der 1968 ebenfalls mit einem Kurzfilm beim Kurzfilmfestival dabei war, teilte den Oberhausener 1998 nonchalant in einem Interview mit, daß sich ihr Festival "überlebt hat. Es möge zu einem Heldenfriedhof erklärt werden." Auch Lars Henrick Gass, der neue Leiter des Oberhausener Festivals, konstatiert in seinem Katalogvorwort: "Die Zeiten für anspruchsvolle Filme sind schlecht: an den Filmschulen, wo die Konfektion trainiert wird, in den Feuilletons, wo die "kleinen" Filme kaum noch ihren Raum finden, und nicht zuletzt in einer politischen Situation, wo die Kultur bereits den Preis gesellschaftlicher Probleme zu bezahlen beginnt."

Auch wenn die politische Radikalität der Filme aus den späten 60er Jahren letztlich nicht traditionsbildend gewirkt hat, fasziniert sie noch heute manche Regisseure. Die Amerikanerin Jill Godmillow hat zum Beispiel ein Remake von einem der härtesten deutschen Agitationsfilme dieser Zeit inszeniert: Harum Farockis "NICHT löschbares Feuer", ein Politfilm über die Produktion von Napalm, das - vom WDR produziert! - in Deutschland Ende der 60er Jahre für Aufsehen sorgte. "What Farocki taught" ist eine exakte Reproduktion von dem Agitationsfilm von 1969, den Godmillow 1997 in Farbe nachstellte - "aus Neid" auf die politische Klarheit und Radikalität, wie sie in einem Nachspann erklärt.

Nützliche Bilder

Die Funktion, die Kurzfilmen heute einnehmen, fokussierte besonders das zweite Oberhausener Sonderprogramm "Nützliche Bilder", das Jutta Doberstein, Herbert Schwarze und Fred Truninger kuratiert hatten. Dieses Special versammelte Dokumentationen und Lehrfilme über wissenschaftliche Themen, die versuchen, dahin vorzudringen, wo keine Kamera mehr hinkommt: ins Molekulare, ins Mikroskopische, in die Gene.

Begleitet von wissenschaftlichen Vorträgen war dort zu sehen, wie Filmemacher versuchen, das Unanschauliche im Kino doch noch einmal anschaulich zu machen. In frühen "Kulturfilmen" aus den 40er Jahren greifen Bakterien an wie feindliche Armeen, aber der Chemiekonzern "Bayer ist gerüstet". In neueren Produktionen schweben die Bestandteile der DNA digital simuliert über die Leinwand wie der "Kampfstern Galactica". Die kruden Metaphern und visuellen Umsetzungen sagen oft mehr über die Zeit, in der sie entstanden sind, als über die wissenschaftlichen Phänomene, die sie erklären wollen.

Übrigens: zu Beginn des Festivals wurde immer wieder betont, daß die Kurzfilmtage sich durch die Verlegung von der Oberhausener Stadthalle in das Kino Lichtburg wieder ins Zentrum der Stadt begeben hätten. In der selben Strasse, in der die Lichtburg ist, schließen freilich schon die ersten Läden, denen die gigantische, neue Shopping Mall Centro am Stadtrand das Geschäft kaputt gemacht hat. Ein Blick auf das Programm des Mulitplex in dem Einkaufszentrum zeigt, wie Kino in Oberhausen an den 360 Tagen im Jahr, an denen kein Filmfestival stattfindet, aussieht: "Titanic", "Flubber" und "George der aus dem Dschungel kam".