Experiment mit neuen Erzählweisen

Utopie- und Medienwirklichkeit in Deutschlands erstem DVD-Videofilm "The Last Cowboy"

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Ein Cowboy reitet über eine Straße. Zap. Filmaufnahmen von jungen Pionieren, die einen Umzug veranstalten. Zap. Ich sehe einen jungen Mann, der aus einem Fenster schaut. Der Titel "Indianer" taucht auf. Zap. Auschnitte aus einem DEFA-Indianerfilm. Mit einer Fernbedienung zappe ich zwischen verschiedenen Bildebenen hin und her. Auf der ersten Ebene sind zudem Textzeilen zu lesen. Der Soundtrack, ein Cowboy-Song, bleibt gleich und schafft einen ästhetischen Zusammenhalt. Familienfotos im Wechsel mit Bildern von Industriewerken und amerikanischen Straßenszenen, bevor das Ganze in einer Cowboy-Szene endet.

Die Produktion The Last Cowboy, die von Nomad alias Petra Epperlein und Michael Tucker gestaltet wurde, ist eine DVD-Video-Arbeit, die auf diverse Filmfestivals eingeladen und aktuell für den Internationalen Videokunstpreis 1998 nominiert worden ist. Der Titel bezieht sich dabei auf einen verlorengegangenen Mythos der Ostjugend, der Identität stiftete und gegen die von oben eingesetzten Idole gerichtet war. Aber er bleibt, nachdem die Mauer gefallen ist, auch im Westen unauffindbar.

Seit einigen Jahren gibt es schon die DVD, die Digital Versatile Disc (siehe dazu auch das Schwerpunktthema in c`t 13/98). Sie ist prinzipiell mit einer CD-Rom vergleichbar, nur verfügt sie über eine wesentlich höhere Speicherfähigkeit, die für mindestens zwei Stunden Video und Audio in hoher Qualität reicht, und sie damit als Nachfolgemedium für das Videoband prädestiniert. In Hollywood werden denn auch immer mehr Filme auf DVD-Video herausgebracht. In Babelsberg wurde in diesem Frühjahr im European DVD Lab eine der weltweit ersten komplett digitalen Filmproduktionen auf DVD entwickelt, eben "The Last Cowboy".

Das Lab ist Teil von Company b, dem ehemaligen High Tech Center, und hat sich auf Dienstleistungen wie DVD authoring und encoding spezialisiert. Es gibt - nicht leicht zu übersehen - verschiedene Standards. Die DVD Video Spezifikation beispielsweise macht eine simple Interaktivität möglich, die auf DVD-Videospielern funktioniert. Acht verschiedene Videokanäle können parallel genutzt werden, ebenso neun Audiokanäle sowie zweiunddreißig Untertitelfunktionen. Per Fernbedienung kann der Zuschauer Menues aufrufen oder zwischen verschiedenen Bildebenen springen.

Im Vergleich zu anderen Medien handelt es sich bei dieser Produktion geradezu eine Lowtech. Der "Film" wurde auf digitalem Video mit handelsüblichen Kameras aufgezeichnet, dann über FireWire, ein spezielles Netzwerk, direkt in den Computer geleitet, auf Macs mit Adobe After Effects bearbeitet und danach MPEG 2-codiert. Die fertigen Videosequenzen - im Falle von "The Last Cowboy" waren es drei - wurden wieder auf digitalem Video ausgegeben und in das Autorensystem für DVD eingespeist. Sie haben jeweils eine Länge von 16 Minuten. Das authoring und encoding tool heißt Creator und wird auch benutzt von den Hollywood Firmen, die jetzt ihre Filmarchive auf DVD pressen lassen. In diesem System werden unter anderem die Navigationsmöglichkeiten für die User festgelegt. Das Medium DVD ist insofern selbst zukunftsweisend, da es neue günstige Produktionsmöglichkeiten für Filmemacher zur Verfügung stellt (weitere Produktionsinformationen).

Das Projekt ist ein Beispiel für multilineares storytelling. Nomad wollte das Vorbild eines interaktiven Films vermeiden und eine Form finden, die der vielschichtigen Weise der menschlichen Erinnerung entspricht. "Es gibt noch den Begriff interaktiver Film," bemerkt Petra Epperlein, "Was da im Moment macht, ist, daß man in einem Film zu einer Situation kommt und vor die Frage gestellt wird, ob ich jetzt lieber das oder lieber jenes will, und entscheidet so über den Fortgang der Geschichte. Das war uns zu banal und uninteressant, weil das mehr an eine Spielmetapher als wirklich an Film erinnert. Wir wollten mehr eine intuitive Veränderung der Geschichte oder intuitive Interaktivität."

Man kann sich jeden Bildstrang von Anfang bis Ende anschauen, ihn als "Geschichte" erfahren oder aber durch das Zappen einen "zufällig" erzeugten, mehrdimensionalen Eindruck bekommen. Die Prozesse sollen simuliert werden, die ablaufen, wenn man einer Geschichte zuhört oder sich an eine Geschichte erinnert. Jedes Mal verändert sie sich ein wenig. In der Arbeit sieht man eine Ebene mit Text- und Bildelementen, auf der zweiten ein Bild, das den ganzen Bildschirm ausfüllt, und auf der dritten mehr assoziativ eingebundene Bildfolgen. Es ist anregend, sich das Material mehrere Male anzuschauen, weil man immer neue Nuancen wahrnimmt und seine eigenen Phantasien entwickelt. Insofern wird nicht allein der Prozeß des Erinnerns, sondern des Tagträumens "simuliert". Aus der Perspektive eines Heranwachsenden im Osten wird die imaginäre Parallelwelt von Erinnern, Denken, Träumen illustriert. Indem man zwischen diesen Ebenen per Fernbedienung hin- und herzappt, entsteht im Kopf des Betrachters ein ganz eigener Film, der sich um die (Nicht)Mitteilbarkeit von Träumen, um den Verlauf der (Geschichts)Zeit und die ideologische Fabrikation von Idolen dreht. Die Arbeit ist ein interessantes Experiment, und es bleibt offen, ob sich so eine neue Erzählweise herausbilden kann. Neue Sehgewohnheiten entwickeln sich mit der Zeit, und Petra Epperlein ist da optimistisch: "Das ist solange experimentell, bis es fünfzig verschiedene Leute gibt, die mit ähnlicher Technologie ähnlich Geschichten erzählen wollen. Dann ist es nicht mehr experimentell, weil es dann viele machen und sich die Leute einfach daran gewöhnen."

Der Cowboy ist der Anti-Held, ein lone stranger. Nach dem Niedergang der realsozialistischen Systeme ist nun auch die imaginäre Grenze offen. Die alten Idole haben abgewirtschaftet, und die Suche nach dem Helden im Westen kann beginnen. "The Last Cowboy" zeigt Bilder aus den USA in einem Prozeß der Enttäuschung. Momentaufnahmen aus der neuen fremden Welt: Ein heruntergekommenes Hotelzimmer in New York. Das geschäftige, aber sinnlose Treiben am Times Square. Armut in den Straßen. Das Werbetheater an den Häuserwänden. This is the west I dreamed of, sagt eine Stimme an einer Stelle. Die Leute hätten ein distanziertes Verhältnis, keinen Blick für ihre Umgebung, sie redeten über nichts, und Geld regiere ihr Handeln. Es wird eine irreale Suche nach dem Wunschbild des Westernhelden.

Die Ost-West-Konfrontation wirkt in der unterschiedlichen Wahrnehmung von Utopien und Mythen nach. Petra Epperlein berichtet, daß viele User aus dem Westen die Ostsymbolik in der Arbeit nicht verstehen würden. Die Utopien im Westen waren von vornherein privat, eng mit der Konsumwelt verknüpft. Das Hoffen auf ein anderes, besseres Leben, dieses diffuse Gefühl von Sehnsucht, die ihre Aufmerksamkeit auf die Zukunft richtet und die in keiner politischen Programmatik erfaßt werden kann, war im Osten in einem anderen Spannungsfeld beheimatet. So wie der Wunsch nach "Welterweiterung" an sehr reale Grenzen stieß, so tat der umfassende Anspruch der Staatsideologie ein übriges, die Kräfte der Phantasie in ein Ghetto zu drängen oder in die Fänge der westlichen Warenästhetik zu treiben. Der starke Einfluß der westlichen Popkultur auf das Ost-Bewußtsein ist unbestreitbar. Konsumgegenstände waren ein Kultobjekt, verbunden mit Sehnsucht und Wunschbefriedigung, auch deshalb, weil sie nicht direkt erreichbar waren. Die Medienwirklichkeit der Bundesrepublik war im DDR-Alltagsbewußtsein präsent.

Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Mythen sind Verdichtungen von kollektiven Erfahrungen, die immer wieder neu interpretiert und gelebt werden. Der Cowboy war für einen Teil der Ostjugend etwas Anderes als die imaginierte Freiheit des Marlboro-Mannes für Westkids. Die DEFA-Indianerfilme hatten einen aufklärerischen Impetus, doch die ewige Beschwörung des kollektiven Lebens guter Indianer war nicht für alle erfüllend. Die Alternative konnte aber auch nicht das imaginäre Versprechen der Warenwelt sein. Was auch immer der Cowboy an Gegenutopien für einzelne darstellte, es verblaßt vor dem Hintergrund der jüngsten Geschichte. Und es kann im Westen nicht (wieder)entdeckt werden. Von dieser Durchdringung der Medienwirklichkeiten, von der Überlagerung in individuellen Träumen und der Konfrontation mit der unbekannten Glitzerwelt des Konsums in einem Bewußtsein erzählt "The Last Cowboy", indem die verschiedenen Bildebenen aneinandergelagert werden.

Die Vorstellung einer anderen Realität, einer Utopie ist eine Voraussetzung für Kunst. Man braucht seine eigene Traumsprache, um künstlerisch zu besonderen Ergebnissen zu gelangen. "The Last Cowboy" lädt ein zu einer Reflexion über die Ungleichzeitigkeit der Phantasie und des common sense, über den Bruch zwischen großer Geschichte und individueller Biographie.