Von der durchschnittlichen Fußgängergeschwindigkeit als Weltzeituhr

Über Nina Fischer und Maroan el Sanis "millenniumania" Projekt

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1.Revolution

Das Thema der diesjährigen ISEA in Liverpool ist "Revolution". Um das bedeutungsschwangere Thema nicht ausufern zu lassen, haben sich die Veranstalter auf eine Leitfrage geeinigt: Wie stark hat Technologie die Spielregeln verändert?

Neben zahlreichen Vorträgen von u.a. Scanner, Toshiya Ueno/Tapio Makela, und Coco Fusco gibt es auch dieses Mal einen Ausstellungsteil, in dem die Berliner Medienkünstler Nina Fischer und Maroan el Sani zwischen dem 3. und 20. September in der Liverpooler Tea Factory ein Projekt präsentieren, das die Weltzeitzonen nicht mehr nach der GMT, sondern nach dem subjektiven Zeitempfinden (repräsentiert durch Fussgängergeschwindigkeit) unterteilt.

Das Projekt nennen sie "millenniumania". Stichworte unserer Zeit, wie Nomadentum, Urbanismus, finden sich darin genauso reflektiert, wie unsere projektive Einstellung zum 21Jahrhundert.

Nina Fischer und Maroan el Sani geben vor, eines Tages beim Frühstück beschlossen zu haben, zum Jahrtausendwechsel zur Datumsgrenze zu reisen. Obgeich es als narratives Element innerhalb der Projektpräsentation zu verstehen ist, scheint noch etwas anderes dahinter zu stehen, was die Künstler bestätigen:

"Unsere Arbeiten entstehen aus der Situation und dem Jahr heraus, in dem wir sie realisieren. Sie haben immer einen sehr aktuellen Bezug zu Themen, die gerade relevant sind, daher planen wir das nicht im voraus. Die Idee zu "millenniumania" entstand in unserem Umfeld: das, was wir erleben, im TV sehen, lesen. Darin unterscheidet sich millenniumania nicht von anderen Projekten."

Das Neue an diesem Projekt ist, dass die Künstler daran sicher länger arbeiten werden, als an bisherigen Arbeiten. Die Realisierung ist von Anbeginn in mehrere Phasen gegliedert: von einer Videoskizze, über 3D-Simulationen, bis zur entgültigen WWW-Onlineversion durchläuft das Projekt etliche bereits determinierte Etappen.

2. Die Welt-Zeit-Uhr

Vor zwei Jahren hat das Künstlerpaar angefangen, an "millenniumania" zu arbeiten. 1997 haben sie in Leipzig in der Galerie Eigen+Art und in Istanbul bei der Ausstellung "In Media Res", die erste Version vorgestellt. Für ein Simulationsvideo haben sie die Stadt Berlin in 24 imaginäre Zeitzonen unterteilt und innerhalb derer Aufnahmen von Passanten gemacht. Die durchschnittliche Fussgänger-Geschwindigkeit jedes Ortes wurde ermittelt und festgelegt; sie bestimmt die Geschwindigkeit der Bilder, die unterschiedlich schnell von rechts nach links auf dem Projektionsschirm aneinandervorbeiziehen, sich überholen/überlappen. Den Bildersequenzen entströmt eine ungewöhnlich lyrische Note: urban ambient.

Der Grundgedanke für die neue, in Liverpool vorgestellte Version, ist geblieben. Eine technische Erweiterung wurde eingeführt. Aus den 24 Berliner Fussgängervideos wurden Quicktime-Movies. Im Macro-Media-Director wurden ihnen dabei bestimmte Eigenschaften, wie die zuvor ermittelte durchschnittliche Fussgänger-Geschwindigkeit, zugeordnet. Ferner werden die Fussgängervideos nun von einem Zentralrechner auf mehrere datenfähige Videobeamer geleitet. Die Video Beams projezieren die Segmente, die einen vollständigen Kreis ergeben, auf einen 360 Grad-Schirm. Der Zuschauer kann dann, von der Mitte des Rondells aus, die wechselnden Konstellationen der Orte zueinander verfolgen, die sich um ihn drehen. Wie Nina Fischer und Maroan el Sani sagen ist "dieses Rondell, dieses Rennen im Kreis, ein ganz altes Bild. Man begreift schnell, worum es geht: ein Wettbewerb, ein permanenter Kreislauf von 24 Akteuren".

Das Endziel besteht darin, Akteure aus 24 verschiedenen Orten und Zeitzonen im Rondell zum laufen zu bringen: Eine computergesteuerte Installation, in die per Internet ständig Fussgänger-Videoaufnahmen von 24 verschiedenen Orten aus den 24 Weltzeitzonen eingespeist werden. Das Ganze in real time, versteht sich. Dadurch soll erkennbar werden, welcher Ort zur jeweiligen Zeit das grösste oder das geringste Tempo aufweist. Sie nähern sich damit einem metabolistischen Ansatz, indem Raum-Zonen nach der Geschwindigkeit sozialer Aktivitäten/Bewegungen unterteilt werden. Eine Diskrepanz zwischen der "Weltordnung im Rondell" und der der 24 Zeitzonen wird fühlbar.

"Die GMT ist eine gesetzte Zeit um Welt-Handel und Verkehr zu organisieren. Die Zeiten, mit denen die Fussgänger laufen, oder mit denen sich Menschen an unterschiedlichen Orten der Welt bewegen, sind jedoch ganz verschieden. Wir haben eine Theorie aufgestellt, die besagt, wenn jemand langsamer lebt, also seine innere Uhr einfach etwas langsamer läuft, braucht er länger, um den Jahrtausendwechsel (z.B.) zu erreichen. Das müsste man auf einer Uhr mit Display deutlich machen, wo man sozusagen die Original GMT Zeit mit der eigenen Zeit ständig vergleichen könnte. Das globale Fussgänger-Weltzeitzonen-Projekt illustriert die Annahme, dass diese oder jene Stadt schneller ist, als diese oder jene andere. "millenniumania" soll dem Betrachter, die reale, jeweils aktuelle Geschwindigkeit in den einzelnen Städten zeigen. "millenniumania" erfüllt damit die Funktion einer Welt-Zeit-Uhr."

3. Als die Bilder laufen lernten

Es ist vor allem die Form des Rondells und die Wahl von gehenden Menschen als zentrales Bildmotiv, das an die Experimente aus der Zeit als die Bilder laufen lernten erinnert - also an erste Experimente mit bewegten Bildern, die, vor der letzten Jahrhundertwende, Vorstufen zur Entwicklung vom Kino waren. Hier wird eine anachronistische Qualität der Arbeit deutlich, was die Künstler durch den Bezug zur Einführung der GMT in 1884 nicht gerade entkräften.

"Diese ersten Erfindungen im Berreich der Medien, waren damals genauso spektakulär wie "millenniumania", das globale Fussgaenger-Zeitzonen- Projekt heute sein wird", betonen die Künstler.

Das Interesse modernste, "verstaubter" Technik und Ästhetik entgegenzustellen, ist ein Anliegen, dass sich durch verschiedene Arbeiten von Nina Fischer und Maroan el Sani zieht. Sie wollen u.a. damit einem Medienfetischismus entgegenarbeiten, im Glauben, dass man bestimmte Aspekte der heutigen Kommunikationsgesellschaft besser verdeutlichen kann, wenn man nicht auch noch die sogennanten neuen Medien benutzt, um Bilder herzustellen. Oder wie es die Kuenstler selbst ausdrücken:

"Man kann den Blick zur Medusa, den man ja nicht wagen darf, nutzen, um die Faszination zu beschreiben, die die neuen Medien auf das Publikum haben."

Weiterfuehrende Literatur:

"Ist jede siebte Welle höher?" Ein Interview zwischen Nina Fischer und Maroan el Sani. Metronome #3, 1997.

Eine Künstler-Zeitung von Clementine Delisse, produziert in Berlin. Die Beiträge sind ausschliesslich nur von Künstlern, halb Bilder, halb Texte. Nina Fischer und Maroan el Sani wurden um einen Text gebeten, und haben ein Interview zum Thema subjektiven Zeitempfindens gemacht. Dafür haben sie einen Zettel mit jeweils acht Fragen ausgetauscht, die jeder für sich beantwortete. Das Heft erschien anlässlich Clementine Delisses Einladung zur dokumenta x und wurde in der Reihe "1oo Tage 100 Gäste" vorgestellt.

Links:

Yukiko Shikata bespricht verschiedene Ausstellungsprojekte von Nina Fischer und Maroan el Sani in Japan.

www.japan.park.org/Japan/DNP/forum/ index_j.html

On-Line Präsentation von "Be Supernatural". Diese Videoarbeit von 1996 zeigt dokumentarische Kindheitsaufnahmen der Künstler als heranwachsende Medien mit übernatürlichen Kräften. Dem folgt ein Trainingsteil, in dem sie ein eigens entwickeltes Produkt vorstellen, das kabel- und technologielose Kommunikation ermöglicht.

www.goethe.de/techno/GE/frameset.htm