Vom Chaos, der Virtuellen Realität und der Endophysik

Zur Ehrenrettung Descartes'

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Vor 400 Jahren, am 31.3.1696 wurde Descartes geboren. Mit ihm begann in der Philosophie und der Wissenschaft die Neuzeit, weswegen er zum Heros der Moderne wurde. Im postmodernen Zeitalter allerdings hat man Descartes zum Schurken erklärt, dessen Denken mitverantwortlich für die desaströsen Folgen des Rationalismus sei. In einem Gespräch von Florian Rötzer mit dem Chaosforscher Otto E.Rössler wird Descartes einmal anders betrachtet.

Was ist Endophysik?

Sie haben in einigen Aufsätzen eine neue Perspektive erwähnt, die die Naturwissenschaften einnehmen könnte. Sie nennen sie Endophysik. Könnten Sie erläutern, was Sie unter diesem Begriff verstehen und warum Sie diese Perspektive für so bedeutsam halten, daß Sie glauben, mit ihr könnte eine neue kopernikanische Revolution in Gang kommen?

RÖSSLER: Für mich ist das etwas, was gewachsen ist und wohin ich langsam gekommen bin. Wir leben alle in der Welt, und im ersten Augenblick wundert man sich nicht darüber. Man hat sich nur als Kind darüber gewundert. Wenn die Wissenschaft daran wieder erinnert, dann merkt man, daß das, was man unter mühsamen Umwegen als möglich entdeckt hat, wieder zu solchen kindlichen Vorstellungen paßt.

Als kleiner Mensch ist man doch zunächst ganz hilflos. Man ist angewiesen auf das Vertrauen zu den Erwachsenen. Man erlebt die Sonne als ganz wichtige Kraft. Diese Schutzlosigkeit vergißt man später. Man gewöhnt sich daran, daß die Welt so ist, wie man es in der Gesellschaft gesagt bekommt und welchen Platz man in ihr hat. Man vergißt dadurch auch sich zu fragen, ob dieses "Drinsein" Konsequenzen hat, die man sogar für die ernstzunehmenden Naturwissenschaften ausnützen kann. Das aber war für mich nicht der Weg, durch den ich das entdeckt habe, sondern das stellt sich für mich nachträglich so dar.

Heute wird in vielen Disziplinen erkenntnistheoretisch die unhintergehbare Rolle des Beobachters herausgestellt. Das hat natürlich naturwissenschaftlich mit der Quantentheorie zu tun, in der erstmals offenbar wurde, daß zumindest in diesem mikroskopischen Bereich die Beobachtung von Objektivität davon abhängig ist, wie der Beobachter mißt.

RÖSSLER: Ja, wie er sich zu messen entscheidet.

Hat die Endophysik als neue Perspektive damit etwas zu tun oder geht dies eher in die Richtung, die der philosophische Idealismus ausgeprägt hat, nämlich daß die Erkenntnis der Wirklichkeit vom Menschen abhängig ist, also daß er, radikal gesagt, nur sieht, was er selbst konstruiert hat?

RÖSSLER: Vorhin habe ich, wenn Sie so wollen, eher eine idealistische Position eingenommen. Jetzt haben Sie die Quantenmechanik ins Spiel gebracht, die eine naturwissenschaftliche Frage aufwirft. Niels Bohr und Heisenberg haben bemerkt, daß hier ganz gefährliche neue Möglichkeiten sich auftun. Es ist jetzt ja schon fast 70 Jahre her, daß diese Revolution stattgefunden hat, an der sich sehr viele Leute vergeblich die Zähne ausgebissen haben, um zu verstehen, welche Rolle der Beobachter da spielt. Man weiß nur, daß man ihn nicht aus dem Formalismus herausbekommt, aber man kann trotzdem nichts mit dieser Erkenntnis anfangen.

Ich komme aus der Chaosforschung, und wenn man diese rationale Theorie der Chaosforschung ernst nimmt, dann gibt es ein ganz kleines Fensterchen, wodurch man auf einmal sieht, daß man damit vielleicht die Quantenmechanik knacken kann. Das wäre gewissermaßen die Gegenposition. Vorher habe ich den Ansatz aus den Augen des Kindes geschildert, jetzt tue ich dies mit den Augen des aggressiven Naturwissenschaftlers, aber im Grunde ist es dieselbe Idee.

Nun hat doch erst einmal Chaostheorie, wenn ich mich nicht irre als Laie, nicht soviel mit der Rolle des Beobachters zu tun.

RÖSSLER: Vollkommen richtig. Ich bin darauf gekommen, weil ich einmal in einer kalifornischen Buchhandlung ein Buch entdeckt habe. Es ist 1957 erschienen. Die Autor sind Kirk und Raven. Es ist eine schöne Ausgabe der Fragmente der Vorsokratiker. Beim Blättern fiel mir darin Anaxagoras auf, der eine Theorie der Welt entwickelt hat, die auf dem Chaos basiert und dualistisch ist. Er glaubt, daß der Geist, der Nous, stark genug ist, das Chaos der Welt zu steuern und zu entmischen, und sogar nach unendlich langer Zeit es wieder zu entmischen. Das ist von der Mathematik her äußerst faszinierend. In ihr gibt es zwei Strömungen, nämlich die finiten und die infiniten. Nur letztere sind in der Lage, das nachzuvollziehen.

Man hat im letzten Jahrhundert auch nicht gedacht, daß die einfachen Chaosphänomene wie ein tropfender Wasserhahn nur einer überabzählbar unendlich genauen Analyse standhalten. Von daher wird auf einmal der Anaxagoras wieder aktuell, der das schon gewußt hat. Anaxagoras hat ein Bild von der Welt besessen, das von außen gesehen wird. Der Geist steuert von außen, was im Inneren der Welt abläuft. Wenn man daran glaubt, daß die Welt so genau konstruiert ist, dann würde man natürlich auch annehmen, daß die Dynamik, die beispielsweise im Inneren eines Gehirns abläuft, auch berücksichtigt werden muß, wenn dieses Gehirn die Welt verstehen will.

Damit kommt man zur Idee, daß die Welt mitsamt dem Gehirn vielleicht eine eigene und ganz genaue Ablaufweise besitzt. Wenn man diesen Beobachter explizit hat, d.h. wenn man eine Welt hat, wo man sowohl den Beobachter wie sein Objekt drin hat, was man vielleicht erst seit der Chaostheorie wagt zu machen oder dies für nötig hält, dann findet man merkwürdige Dinge. Man findet ein Interface zwischen dem Beobachter und dem Objekt, das alles ist, was er hat, das aber nicht identisch mit dem ist, was man von außen sieht, wenn man in den Fischkasten hineinguckt, sofern ich den Beobachter als Fisch bezeichnen darf.