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Ein Link zu Kunst in der Ultramoderne.

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Die moderne Kunst ist eine Erfolgsstory, wie sie vergleichsweise nur Unternehmer mit weltweiten Handelsimperien zu erzählen wissen. Die Turbophase dieser Unternehmung startete mit der privatwirtschaftlichen Vermarktung der Kunst am Beginn des 20. Jahrhunderts und konnte sich in der Folge als distinktive Wertkategorie (nach unten) gesellschaftlich etablieren. Viele Künstlernamen, vorrangig der abstrakten Bewegung, gelten heute als Säulenheilige der modernen Kunst des 20. Jahrhunderts. Ein Stück bemalter Leinwand, datiert in den 20iger Jahren, die - etwas mehr als 50 x 50 Zentimeter groß - auf Keilrahmen aufgezogen ist und Rechtecke in einer Gittermatrix aus Horizontalen und Vertikalen zeigt, stellt heute einen enormen ökonomischen (ist gleich kulturellen) Wert dar. Das abstrakte Formenvokabular steht heute nicht nur für moderne Kunst schlechthin, sondern ist auch in der Gestaltung unserer Alltagswelt in Architektur, Design und der Medienkultur allgegenwärtig. Aus der kongenialen Verschmelzung von Inspiration, Phantasma und Geschäftssinn entstanden schon in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Modelle und Strategien, die heute, von den Kunstfreunden mehrheitlich unbemerkt, längst auch in anderen gesellschaftlichen Funktionsbereichen ihre Anwendung gefunden haben.

Von der Gleichschaltung des Unbewußten zum Ästhetisierungstrubel

Die literarisch-künstlerische Moderne muß generell als Auszug aus der bürgerlichen Gesellschaft verstanden werden. Das heißt aber nicht, daß ihre Geschichte so einfach als Heldenepos erzählt werden kann, wie es in den modernen Kunstmythen dargestellt wird. Grundsätzlich lassen sich die zahlreichen und sehr unterschiedlichen Kunstparadigmen auf der Folie des modernen Grundwiderspruchs festmachen, der bis in die Romantik zurückreicht. Denn schon nach 1800 geriet das moderne romantisch-ästhetische Bewußtsein zunehmend in Opposition zu dem generellen Diskurs einer unter teleologischen Vorzeichen stehenden rationalistischen Moderne.

An letztere schließen tendenziell jene künstlerischen Positionen an, die die Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit, die moralische Forderung nach einer einheitlichen Behandlung von Raum und Form, die Konstruktionsgerechtigkeit, die Forderung nach Sachlichkeit, Ordnung und Würde als oberste Gebote hochhalten. Diese Losungen affirmierten nicht nur weiterhin die anthropozentrische Leitidee, sondern auch das positivistisch-logozentrische Denken und mithin den Ausschluß widersprechender Positionen, wie er in den modernen sozialtechnokratischen Disziplinierungsmaßnahmen (Mechanisierung der Gesellschaft, panoptisches Ordnungsprinzip) der Industriegesellschaft exekutiert wurde. In Summe waren diese Losungen vollends kompatibel mit dem reformistischen Kapitalismus, der den Dissonanzen der Industriegesellschaft ästhetisch entgegenzuwirken trachtete. Viele der künstlerischen Positionen in der klassischen Moderne perpetuierten die bürgerliche Mystifizierung und Überschätzung der Kunst ; bspw. in jenen, wo die abstrakte Kunst als ein metaphysisch verkleidetes ideelles Reich der reinen Farben und Formen fungierte. Übrigens eine Sichtweise, die noch bis weit in die 50er Jahre, inklusive der New York School, beschworen wurde.

Idealismus versus Materialismus, letzte Begründung versus totale Kritik usw. - die unendliche Geschichte der Oppositionen.

Wegen ihrer eminenten Bedeutung für den Diskurs der modernen Kunst und der historischen Reichweite ihrer Arbeiten, sind die Abstrakten ein geeignetes Beispiel, um die strukturellen Aggregationsniveaus der Moderne aufzuzeigen. Unter einem gesamtgesellschaftlich-funktionalen Bedeutungsaspekt sind ihre Arbeiten schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als semiotische Konstruktionen interpretierbar, die mit ihren syntaktischen und semantischen Verknüpfungsmodi den Bedingungen in der Industriegesellschaft funktionell folgten. Mit der Neutralisierung jedweden affektiven Interesses für die Inhalte der Darstellung mittels Formalisierung, stieg die notwendige Kompatibilität der Kunst weit über ihre kunstimmanenten Fragestellungen hinaus. Nicht nur wurden die Merkmale im Verhältnis zu anderen Formen des Kunstwerke-Zusammenhangs hervorgehoben (Ismen, Verdichtung zum Idiogramm, Markenzeichen usw.), auch Medium und Form, die einander bedingen, relativierten und evoluierten ihre Differenz im Zusammenhang gesamtgesellschaftlicher Strukturänderungen und der sich wandelnden Prämissen.

Genau besehen, ist die Fundierung der ästhetischen Romantik durch Schlegel schon die Antizipation der Ideen, Modelle und Artikulationsformen der modernen Avantgardebewegungen: das Fragment, work in progress, Kunst als Konzept, Zurückweisung der Tradition und das revolutionäre Pathos. Die Romantik ist mit ihren Manifestationen "der Unmittelbarkeit, der Ironie, des Negativen, des Üblen, des Bösen, des Phantastischen und den Erscheinungsformen des Häßlichen", wie sie der Romantikkritiker des 19. Jahrhunderts, nämlich G.W.F. Hegel, alle aufgezählt hat, nicht nur die Antizipation des anderen Strangs der literarisch-künstlerischen Moderne ("the dark underside of modernism", wie es Benjamin H.D. Buchloh nennt), sondern unleugbar die Stammressource unserer Pop/Medienkultur, die ja entwicklungsgeschichtlich in komplexer Weise mit der ästhetischen Moderne verbunden ist. Denken wir an die Syndrome in der Geschichte der populären Kultur im 20. Jahrhundert, vor allem nach dem 2. Weltkrieg; an die diversen Genres im Kinofilm, in der Television, denken wir an die Video- und Computerspiele, bis hin zu Virtual Reality mit ihrer Verheißung, uns mit Körper, Geist und Seele in die Matrix zu holen. Unsere heutige globale Medienkultur ist eine zutiefst romantische Kultur, wo das kollektive Unbewußte manifest wird. Eine Kultur, die weiterhin durch die Oppositionen ihrer modernen Anfangsbedingungen charakterisiert ist. Oder mit Camille Paglia etwas pathetisch ausgedrückt:

Die populäre Kultur hat die Fackel des Dionysischen übernommen. Sie füllt die Löcher, die in der apollinischen Superstruktur sichtbar werden.

Camille Paglia

Army Of Darkness - und zahlreiche Überläufer.

Als erster wortreicher Propagandist eines modernen romantisch-ästhetischen Bewußtseins gilt Friedrich Nietzsche. Der Schizo-Schreibfluß mit rhizomatischem Anspruch von Deleuze und Guattari hat, wie ebenso die Transmissionsleistungen diverser Popdenker, den Blick auf diesen Philosphen, auch für ein größeres (postmodernes) Publikum, frei gemacht. Ein Verdienst Nietzsches liegt in seinem Beitrag zur Ausdifferenzierung des Ästhetischen: das Ästhetische als eine wirklichkeitsproduzierende Wertsphäre. Seine Emphatisierung des Ästhetischen richtet er gegen den einen Wirklichkeitsanspruch und den Moralismus von Hegel und den Junghegelianern. In "Unzeitgemäße Betrachtungen" (Buch I, 1873; II, III, 1874; IV, 1876) ätzt er gegen eine Philosophie, die von der "Vernünftigkeit alles Wirklichen" spricht und somit sich dem "Bildungsphilister" andienen will.

Die Krise des Hegelschen Vernunftglaubens führte zur Entdeckung und in der Folge zur Anerkennung des Unbewußten. So zahlreich und widersprechend die modernen Theorien des Unbewußten auch sein mögen, gemeinsam ist ihnen die Einsicht, daß die Evidenz der Vernunft untrennbar von unbewußten Anteilen geleitet ist. Das Spiel unbewußter Kräfte, die libidinös, wie bei Freud, ökonomisch, wie bei Marx oder sprachlich, wie bei Saussure usw., konzeptualisiert sind, können jedoch - und das ist eine weitere Gemeinsamkeit - wissenschaftlich erforscht und in der Tradition der Aufklärung gestaltend gebannt werden. Gerade diese Überzeugung ist aber, spätestens nach dem zweiten Weltkrieg, mit der Radikalisierung der Vernunftkritik weiter erschüttert worden. Aufklärung oder Mythos ist so nur eine basale Opposition weiterer diverser Oppositionen, die die Moderne bis heute (und auch weiterhin) charakterisieren (wird).

Die Aktualität Nietzsches ist in seiner Position gegen den "nur historisch wissenden und erinnernden Geist", gegen einen bloß positivistischen Wirklichkeitsbegriff begründet, demgegenüber er einen relativierenden Perspektivismus mit der Kategorie des "Jetzt" postulierte - um damit kulturell produktiv zu werden. Nietzsche legte damit schon den Strang vor, an dem später Walter Benjamin, die Dadaisten und die Surrealisten mit der modernen Wiederentdeckung der Romantik - selbstredend unter geänderten Vorzeichen - anschließen werden. Und beweist damit die Brisanz seiner Kernaussagen auch im Kontext einer heute kulturellen Logik, in der Dauererregung und Gegenwart Schlüsselbegriffe sind.

Im Strudel der Bifurkationen.

Die Rezeption in der Zerstreuung, die sich mit wachsendem Nachdruck auf allen Gebieten der Kunst bemerkbar macht und das Symptom von tiefgreifenden Veränderungen der Apperzeption ist, hat am Film ihr eigentliches Übungsinstrument.

Walter Benjamin

Allein dieses Zitat von Walter Benjamin - nochmals gelesen im Zeitalter der technischen Generierbarkeit (und nicht nur der Kunst!) - ist schon erhellend, fragt man nach dem Apperzeptions-Setting eines Datensurfers zwischen Computer-Eingabedeck bzw. Maus, Monitorbild, den Universal Resource Locators (URLs), Domain-Namen, IP-Adressen und Datenfülle einerseits und dem vermaschten Netzwerk der Telefonleitungen andererseits, die ihn mit Knoten, Servern und zahllosen Computern/Usern verbinden.

"Es wäre nachzuweisen, daß die Theorie der Erfahrung das keineswegs geheime Zentrum aller Konzeptionen Benjamins darstellt", schreibt P. Krumme in einem 1971 erschienenen Aufsatz . Tatsächlich sind in Benjamins Beobachtungen und Untersuchungen die Bruchlinien im bürgerlichen Kulturmodell das Generalthema: "Der Versenkung, die in der Entartung des Bürgertums eine Schule des asozialen Verhaltens wurde, tritt die Ablenkung als eine Spielart sozialen Verhaltens gegenüber."(Ebd. S.38) Benjamins Theorie der Kunst ist eine Theorie der Erfahrung. Ihm ging es nicht um die Aufhebung der (autonomen) Kunst aufgrund ideologiekritisch geleiteter Reflexion, sondern um die "schöpferische Überwindung religiöser Erleuchtung" (der Metaphysik) "durch eine profane Erleuchtung, einer materialistischen, anthropologischen Inspiration." Bei aller Analogie mit dem bürgerlichen Anthropozentrismus, entwarf Benjamin unter dem Eindruck moderner Avantgardepraktiken auch ein neues Selbstverständnis von Subjektinstanz, wie es eine künftige Epoche erfordern wird. Von da ist es quasi nur ein Schritt in die heutige Gegenwart, in die Ultramoderne, zu den aktuellen Erfordernissen der Komplexitätsbewältigung - zum Modell eines relativierten (transversalen) Subjekts mit kybernetischem Bewußtsein, das sich in einer neuen Informationsökonomie auf Basis instantaner Kommunikationsmodi formiert.

Die Ideenevolution der literarisch-künstlerischen Avantgarden der Moderne, egal ob sie eher zum positivistisch-logo(mono)zentrischen oder (negativistisch-)polyzentrischen Ideenstrang tendieren, korrespondierten nachweislich mit den modernen geistes-, natur- und technisch-wissenschaftlichen Leistungen . Dieser Sachverhalt erklärt sich mit der Korrelation von Semantik und Sozialstruktur. Denn im großen und ganzen basieren Ideen und ihre Realisationen, auch die revolutionären Ausmaßes, auf gesamtgesellschaftlichen Strukturänderungen, die in der Regel unkontrolliert morphogenetisch ablaufen und so manches revolutionäre Moment erweist sich rückblickend als Anpassung. Auch die sogenannten Kunst- und Kulturrevolutionen der 60er und 70er Jahre, die an den Ideenfundus der diversen sozio-philosophischen, politischen und literarisch-künstlerischen Avantgarden anschlossen, müssen heute als Anpassungsbewegungen gesehen werden, die dazu beitrugen, den Gesellschaften nach dem Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensformen den Weg in die Massendemokratie zu ebnen.

Ganz allgemein ist die Kunst in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts, gemessen an der klassischen Moderne - mit der sie ja evolutionär verbunden ist - weithin Avantgarde in Kitsch verwandelt. Kunstkitsch, nicht erst seit den 80er Jahren, mit der eindeutigen Funktion, die (elitistische) Kunst (mittels formaler Analogien zur Populärkultur, ironische Strategien usw.) mit den egalitären Geschmacksorientierungen der Massendemokratie zu versöhnen.

Von Psychedelia, postmodern zu Cyberia, ultramodern.

(Anmkg. zu Psychedelia , und Cyberia )

Ob Fluxus oder Psychedelia - bei all dem handelte es sich nicht nur um die Fortsetzung einer romantisch-ästhetischen Praxis, sie bezeichnen zugleich Bewegungen einer (sog. postmodernen) Revolte gegen den institutionalisierten Modernismus in der westlichen Welt. Nach (und mit) den Reisen in ferne exotische Länder folgten die Reisen in psycho-physische Innerwelten: ins Gehirn, in die Zellen, in den Geist. Mit der strukturellen Koppelung der menschlichen Individuen an die technologische Evolution, führten die psychedelischen Reisen in Nerven- und Kommunikationsnetze . CyberianerInnen sind die ultramodernen Nachfahren der postmodernen Bewegungen und ihre Weltbilder und Lebensstile weisen bereits in die Cyberculture des 21. Jahrhunderts.

Schon in den 70er Jahren, also in der Blütezeit des LSD-Kults, war abzusehen, daß es vermehrten Bedarf nach leicht halluzinogenen Drogen geben wird. Weniger intensive Stoffe, die in ihrer Wirkungsdauer, anders als bei LSD, genauer kalkulierbar sind. Sogenannte Kurzzeittrips, die mit den Leistungsanforderungen der Arbeits- und Produktionsprozesse kompatibel sind. Die Karriere von Ecstasy bzw. MDMA oder verwandten Amphetaminderivaten war in diesem Bedarf gleichsam schon vorgeladen.

Im Unterschied zu zentral dämpfenden Mitteln, wie Schlaf- und Beruhigungsmittel oder wie Alkohol, schaffen zentral erregende Mittel, denen die Halluzinogene zuzuzählen sind, keine physische, also körperliche Abhängigkeit. Indes führen sie sehr wohl zu psychischer Abhängigkeit und Gewöhnung - und das wiegt schwer genug. Mit der Einsicht, daß es sich auf Dauer mit LSD doch nicht so gut leben läßt, entfalteten nicht wenige Personen der betroffenen Konsumentengruppe in den 60er und 70er Jahren beachtliche Anstrengungen mit dem Ziel, stoffungebundene Substitutionen zu realisieren.

Ohne die sehr komplexen gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozesse der westlichen Industriegesellschaften in den letzten Jahrzehnten mit simplen Kausalbeziehungen erklären zu wollen - das ganze läuft ja bekanntlich in Rückkopplungsschleifen ab - muß unbedingt festgehalten werden, daß die Expansion des Fernsehens bzw. der elektronischen, audiovisuellen Medien auch in diesem Zusammenhang gesehen werden muß. Die elektronischen Massenmedien mit ihrer Produktion von Bildern und Tönen in Permanenz eignen sich durchaus, ein passables Surrogat - Marke light - für halluzinogene Drogen abzugeben. Augenfällig wurde das dann in den Video-Clips, besonders in jenen, wo Vokabular und Erzählformen aus dem Avantgardefilm und dem experimentellen Video der 60er, 70er und 80er Jahre zur Anwendung kamen.

"Je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher wird das Ästhetische", schreibt Odo Marquard in seiner 1989 erschienenen "Aesthetica und Anaesthetica". Im Zeitalter der Designerdrogen und des Techno-Imaginären hat die (ästhetische) Entrückung im Kunsterleben ihren Exklusivanspruch vollends verloren.

Räuberdruck und strange attractors.

Die gegenwärtige Situation in der Kunstkultur läßt sich treffend mit einem Begriff aus der Evolutionsbiologie beschreiben: Räuberdruck. Die Semantik der Populär - bzw. Medienkultur (noch in den 70er Jahren etwas abwertend als Kulturindustrie bezeichnet), die entwicklungsgeschichtlich in (inter)penetrativer Dependenz mit der modernen Kunstkultur verbunden ist, hat an deren Grenzen nicht Halt gemacht. Diverse Faktoren veränderten und verändern, als systeminterne Bedingungen der sozialen Kommunikation, die Differenzierung und Rekombination variierender, seligierender und stabilisierender Mechanismen auf der basalen Ebene des sozialen Funktionssystems Kunst. Zusammen mit den Umweltfaktoren des Systems, wie den physischen und psychischen Ressourcen, der je demographischen Variable usw., konnten und können so Prozesse der selbstselektiven Strukturänderung zur Umformung des Kunst-Systems in Gang kommen. Metaphorisch ausgedrückt, schaffte der Räuberdruck der Medienkultur, auf die dominierende Spezies (das autonome Kunstwerk), Platz für bislang unterdrückte Populationen und führte zu einer Artenvielfalt im ästhetischen Feld, wo heute in den aktuellen Kunstszenen kommunikations-, projekt- und prozeßorientierte Positionen gegenüber eher traditionell-posthistorischen überwiegen. Das anhaltende Gejammer der (Kunst-)Betriebsmissionare und Kunstfreunde, von der Krise der Kunst, ist nur Symptom des in die Krise gekommenen bürgerlichen Kulturmodells, das sukzessiv durch die Veränderungen in unserer Apperzeption im Zusammenhang neuer Standards für medial vermittelte Kommunikation obsolet gemacht wird.

Um das gegebene Thema weiter abzuklären, ist es notwendig, die Konzentration auf eine basale gesamtgesellschaftlich-strukturelle Ebene zu richten. Betrachten wir vorerst den historischen Zusammenhang der bildenden Kunst im 20. Jahrhundert unter dem Aspekt einer schrittweisen Reduktion der bildkonstituierenden ästhetischen Struktur (im Sinne von anschaulicher Ordnung). Auch wenn immer wieder angemerkt werden muß, daß Entwicklungen in komplexen dynamischen Systemen nicht linear, sondern in Rückkopplungsschleifen ablaufen, lassen sich die betreffenden Reduktionsverfahren historisch-chronologisch festmachen. So folgt der Zurücknahme der Abbildfunktion (also "Abstraktion von ...") die Reduktion der Strukturelemente bis hin zur nicht-integralen Struktur in der sog. Gegenstandslosen oder Konkreten Kunst, wie später ebenso im Color Field Painting und Hard Edge. Ein anderer Strang zeigt die extreme Verwerfung der Form-Struktur in der Informellen Malerei, Drip Painting (all over-Prinzip), Antiform. (Antiform heißt aber nicht, daß keine Form vorliegt.) Diesem Strang ist auch die (vermeintliche) völlige Aufgabe des Integrationszusammenhangs in der Objektkunst (Kunstobjekt versus/als Alltagsobjekt) und in der Aktionskunst (Kunst versus/als Leben) zuzurechnen. (Jene Kunst-Syndrome, die unter dem modernen Paradigma als völlige Aufgabe des Integrationszusammenhangs definiert wurden, sind schon den Strategien ultramoderner Komplexitätsbewältigung zuzurechnen.) Nicht zu vergessen die Dematerialisationsverläufe im historischen Kunstzusammenhang bis heute.

Was für das Verständnis dieser Prozesse von Interesse ist, ist der Sachverhalt, daß Originalität (also Aufmerksamkeit) durch komplexitätsreduzierende Operationen in der immanent-ästhetischen Struktur des Kunstwerks bei gleichzeitigem Komplexitätszuwachs auf der intertextuellen und basalen Ebene des Kunstsystems erzielt wurde. Die Künstlerforderung nach Abbau der Grenzen zwischen den verschiedenen vermittelnden Medien (Malerei, Plastik, Aktion usw.) und zwischen Produktion und Rezeption - also die tendenzielle Verschiebung vom Produzenten zum Rezipienten - in der Kunst der 60er und 70er Jahre, war schon Anzeichen für die systemformierende Eigenkomplexität (System/Umwelt-Differenz) der Kunst als ein systemspezifisch-generalisiertes Medium der Kommunikation. Das (abstrakte) Vokabular und die Präsentationsformen in der Kunst des 20. Jahrhunderts können unter diesem Aspekt ganz allgemein als Problembewußtsein für Komplexität interpretiert werden.

Temporalisieung der Komplexität

Die modernen Massengesellschaften werden in immer kürzeren Abständen von Komplexitätsschüben erschüttert. Jeder dieser Schübe bedeutet wiederum, daß jede Änderung der Differenzierungsform die ihr entsprechenden Temporalstrukturen erzeugt, die, von uns allen nicht unbemerkt, immer mehr an Tempo zunehmen. Für das Kunstsystem, das ein systemautonomes Teilsystem der Gesellschaft ist, bedeutet das, daß es ebenso, wie andere Teilsysteme auch, an die basalen Gesetzmäßigkeiten unserer Gesellschaft mit temporalisierter Komplexität gekoppelt und somit deren Effekten ausgesetzt ist. Nicht das eine Ereignis zählt (bspw. als Handlung), sondern nur eine Einheit von Ereignissen, geordnet durch selbstreflexive Selektionsprozesse des betreffenden Systems selbst, indem ein bestimmtes Muster der Verknüpfung mit anderen Handlungen gewählt wird. Nur in dieser Weise erhält eine Folge von Ereignissen den Status von sozialer Kommunikation, d.h. zugleich, daß sie nur so als gesellschaftliche Produktion Geltung erlangen kann.

Temporalisierte komplexe Systeme verfügen zwar über anspruchsvolle interne Arrangements, sind aber auch vermehrt abhängig von Umweltinformationen. Reproduktion in temporalisierten sozialen Systemen wird so zum Dauerproblem. Mit dieser Einsicht verstehen wir nicht nur die Tempozunahme als allgemeines Phänomen, sondern auch den Zusammenhang von der Ausbildung der Eigenkomplexität des Kunstsystems und der notwendigen Expansion des Kunstbegriffs in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Damit auch die vermehrte Bezugnahme auf sogenannte kunstferne Disziplinen und die Einbindung ihrer Themen und Methoden in die Kunstpraxis. Ferner können wir so die ästhetischen Praktiken der sogenannten postmodernen Revolten als Antizipation des ultramodernen Umgangs mit Komplexität begreifen, der die moderne Reduktion (Zentralisierung, Hierarchisierung) durch die ultramoderne Abduktion und Adduktion (Dezentralisierung, Vernetzung) ersetzt. Geschichte, und nicht zuletzt nur die der Kunst im zu Ende gehenden 20. Jahrhundert, stellt sich völlig überraschend dar, wenn man sie, wie Luhmann vorschlägt, unter dem Aspekt der Bewährung von komplexitätsgünstigen semantischen Erfindungen betrachtet.

Im Spiegelkabinett der Beobachtersettings.

Da nur in der Differenzerfahrung die Möglichkeit von Informationsgewinn (d.h. zugleich: angemessenes Originalitätsmaß) liegt, tendiert der Zugriff der Künstlerschaft (bzw. der Handlungsträger, d.s. all jene Personen, die sich in ihren Handlungen auf das Kunstsystem beziehen) im Rennen um den Anschluß an den Kunstdiskurs auf immer sogenannte kunstfernere Bereiche. Der Mißerfolg dabei lauert in einer systemimmanenten Entropie, wenn, pragmatisch verstanden, die angestrebte kommunikative Engführung der Angebote nicht mehr zustande kommt. Wie das historische Archiv der modernen Kunst zeigt, erreichten eher jene künstlerischen Lösungen den angestrebten Diskursanschluß, denen es gelang, die Differenz von Medium und Form mit der Nutzung aktueller Formbildungs-Potentiale (die der je aktuelle Stand des soziokulturellen Evolutionstrends im eigenen Feld freisetzte) zu prozessieren. Oder anders ausgedrückt: wenn KünstlerInnen in der Konzentration auf die feldeigenen Ressourcen, aber mit je aktuellen Modellen reflexiver Beobachtungsoperationen, komplexitätsgünstige semantische Erfindungen erzielten.

Diesen Anspruch weiterhin aufrecht zu halten zwingt allerdings zu enormen Anstrengungen, denkt man an die vorausgegangenen Ausdifferenzierungsprozesse im ästhetischen Feld und der nunmehr operationalen Schließung des Kunstsystems. Jetzt kann keine Beobachtung mehr genügen, die die Welt/Gegenstände mit Beobachtung auf die Beschreibungen anderer Beobachter beschreibt. (Ganz undenkbar ist es heute, auf den Ausdruck subjektiver Befindlichkeiten zu setzen und eine wie immer geartete Authentizität zu beschwören. Dieser Ansatz wird nur noch unerträglicher, wenn er via Kunst mit Neuen Medien vorgeführt wird.) Eine tatsächlich zeitgenössische Praxis erfordert die Beschreibung einer Beobachtung (als kunstcodiertes Kommunikationsprogramm), die sich auf das Wie der Beobachtung erster Ordnung bezieht und den eigenen Beobachterstatus auf der Ebene zweiter Ordnung, unter dem Aspekt des heute gegebenen Ausdifferenzierungsstandes der Begriffs-, Dogmen- und Theoriekontexte im ästhetischen Feld, noch mitreflektiert.

Eine zeitgenössische Kunstpraxis mit prospektiv-anschlußfähigem Potential demonstriert heute demnach die Un/Möglichkeit der Kunst, wie es schon ihre relevanten Vorgänger in diesem Jahrhundert gezeigt haben. Und wie es zahllose Projekte mit radikalkonstruktivistisch-interpenetrativer Charakteristik beweisen, gelingt das jetzt - im gegebenen Kontext - genauso drastisch, wie es die Strategien von Negation und Selbstkritik in der modernen und modernistischen Kunstpraxis vorgeführt haben. Weiterhin gilt, daß die Differenz Selbst/Umwelt nur vom Wissen eines Beobachters, der Beobachter beobachtet, abgeleitet werden kann und die Orientierung des je gegebenen (zum vorgegebenen Thema: kunstcodierten) Kommunikationsprogramms sich nicht einfach rein sensualistisch erfassen läßt.

Funktion und Code statt Substanz.

In sozialen Systemen mit temporalisierter Komplexität wird Zeit zum Aggregatbegriff für alle Änderungen. Das gesteigerte Relationieren der operativ verwendbaren System/Umwelt-Differenzen erzeugt einerseits Stress und andererseits Mehrwert. Letzterer liegt in der gesteigerten Disposition für Veränderung, konkreter: der Optionsbereich in der Gegenwart wird erweitert. Die temporal gesteigerten Ausdifferenzierungsprozesse (veränderten und) verändern in immer kürzeren Abständen die je gesellschaftlichen Konsensbildungen. Die neuen Weltbilder und Orientierungsmuster der Handlunsträger steigern, aufgrund der strukturellen Koppelung, die Paradigmenwechsel in den immer zahlreicheren, unterschiedlichen Plateaus. So auch in der Ideenevolution der Kunst. Auch hier haben in einer heute angemessenen Denkfigur, längst Funktion und Code den Begriff der Substanz ersetzt.

Funktionen sind einfach Synthesen einer Mehrzahl von Möglichkeiten. Anhand von Funktionen kann eine Bewährungsauslese von Formen erzielt werden. Zum vorliegenden Thema sind nur jene Funktionen von Interesse, die in der Verfahrenslogik und im Fragehorizont des Kunstsystems liegen. Funktionsorientierung ist immer auch Form der Erzeugung von Redundanz" , also Formen, die auf Verständlichkeit abstellen. Das heißt nicht mehr und nicht weniger, daß verschiedene Modi der Funktionserfüllung als funktional äquivalent erscheinen. Mit der bewußten Einbeziehung des Funktionsaspekts in all seinen Dimensionen in eine künstlerische Praxis, können Optionen freigesetzt werden, die aus dem Sachverhalt resultieren, daß Funktionen sowohl der Selbstsimplifikation, d.h. zugleich Reduktion von Komplexität, als auch der Komplexierung dienen. In diesem Spannungsfeld können sich um das kunstspezifische Kommunikationsangebot, in der je situativen Selektion von Anschlußbeobachtungen und - handlungen, komplexe Beobachtungsoperationen formieren. Die Doppelfunktion der Funktionsorientierung muß, so Niklas Luhmann, mit Verzicht auf konkrete Vollständigkeit der Selbstbeschreibung bezahlt werden. Denn mit den Operationen sinkt auch die Sicherheitsqualität der Redundanz.

Unter diesem Aspekt können wir bspw. das Konzept einer Poetik des offenen Kunstwerkes nicht nur als (postmodernes) polyzentrisches Modell mit seinem Mehrwert von Interaktions- bzw. Interpretationsmöglichkeiten verstehen, sondern auch als ein von Funktionsorientierung (d.h. mit Synthesen einer Mehrzahl von Möglichkeiten) geleitetes Modell, das, im Hinblick auf seine Bewährung, nur so den aktuellen Anforderungen sozialer Kommunikation gerecht werden kann. Anzumerken ist, daß ein derartiges Modell und seine Implikationen heute längst über den Kunstkontext hinaus für medial vermittelnde Kommunikation an Bedeutung gewonnen hat. Denken wir an die aktuelle Deterritorialisierung von Kommunikation und der Fülle von dekontextualisierter Information etwa im Internet, wo die etablierten kulturellen Codes radikal relativiert werden. Nach dem Zusammenbruch des Phantasmas, das Unbewußte gleichschalten zu können und einen vom Vernunftparadigma diktierten allgemein-verbindlichen Code der Moderne zu etablieren, müssen wir uns den Herausforderungen der aktuellen "disparate multisensory information" stellen.

Der sogenannte Content-Provider genießt nicht nur ganz allgemein bei den Netheads ein hohes Ansehen, sondern mehrheitlich auch bei der Künstlerschaft, die sich dem forcierenden Segment der Kunst (Medien-, Netzkunst) verschrieben hat. Mit der Forderung nach besseren Inhalten (!?) im Internet, reihen sie sich in die Gruppe neokonservativer Medienkritiker, die in restaurativer Absicht die obsolet gewordenen Werte des bürgerlichen Kulturmodells hochhalten wollen. Ein evolutionärer Kunstbegriff, jenseits von kunstzentrierten Wertvorstellungen, wird sich auch in Medien mit gegenwärtig disperaten Kommunikationsbedingungen, wo noch keine erkennbare Informationsökonomie auszumachen ist, in einem adäquaten Gestaltungsmodus artikulieren. Denn die kognitive Information der Kunst löst sich ein "durch die Strukturen ihres Gestaltens (die darum nicht formal, sondern ihr eigentlicher Inhalt sind)." Es ist vorrangig die Differenz von Medium und Form, die Zugang zum Beziehungsaspekt (Kontext) möglich macht und nur so den Inhaltsaspekt eines angebotenen Kommunikationsprogramms freigibt.

Aktueller Ausdifferenzierungsstand statt Restauration.

Personen, die im Umgang mit Kunst keine oder nur wenig Erfahrung haben, nehmen ein kunstcodiertes Kommunikationsprogramm in der Regel als nichtcodiert wahr, d.h. als Störung, Rauschen udgl. Auch wenn eine Kunstartikulation einen Sonderfall von Nachricht darstellt, in der bei aller Interferenz die ästhetische Information über die semantische wiegt, ist sie in ihrer Bezugnahme an die system-/selbstreferentielle Verfahrenslogik des Kunstsystems gekoppelt und mittels adäquater Beobachterleistung dechiffrierbar. Das bedeutet, daß jedes Kommunikationsprogramm, das im ästhetischen Feld der Kunst situiert werden soll - genauso wie das einer anderen Systemreferenz - grundsätzlich nur mittels entsprechender Codierung den Anforderungen gerecht werden kann. In der Regel machen das ausreichend vorhandene Standardisierungen möglich, die als operative Vereinheitlichung von Information und Mitteilung in der Codierung manifest werden. Die Frage nach der Codierung einer Nachricht wird also dann vordringlich, wenn Information, Mitteilung und Annahmeerwartung in einem Akt der Aufmerksamkeit zusammengefaßt werden sollen. Noch mehr, wenn der Künstler konzeptuell beobachten will, welche Beobachtungsmöglichkeiten er erzeugt. Oder anders ausgedrückt, wenn er Operationen reflexiver Kommunikation in Gang setzen will, also Kommunikation über Kommunikation. Denn das Reflexivwerden dahingehender Prozesse setzt unbedingt Ausdifferenzierung, funktionale Spezifikation und ausreichend Standardisierung voraus. Das heißt im konkreten Fall, nur die Eigenkomplexität des Kunstsystems (die System/Umwelt-Differenz), seine operationale Geschlossenheit sichert Reflexivität, also die Möglichkeit, den Kommunikationsprozeß auf sich selbst rückzubeziehen.

Soll die Kunst nicht in Restauration verkommen, muß sie sich (wie die jungen aktuellen Szenen zeigen) den heutigen gesamtgesellschaftlich-disperaten Kommunikationsbedingungen stellen. Der Anspruch, weiterhin kunstspezifische, komplexe, reflexive Beobachteroperationen in Gang setzen zu wollen, erfordert (auch weiterhin) die Ausbildung neuer Standardisierungen. Denn bei aller Offenheit, Einebnung und Relativierung muß ein Kommunikationsprogramm mit obigem Anspruch noch die Beobachterleistung ermöglichen, das Angebot als Kunst dechiffrieren zu können; d.h. identifizieren zu können. Als Leitschiene dient, wie in anderen Disziplinen auch, die je eigene Ideenevolution, in unserem Falle, der Kunst. Da die Kunst ein Teilsystem der Gesellschaft ist, formieren sich die Kriterien für Werte ultramoderner Kunst, wie in der Moderne, ebenso in Übereinstimmung mit den gesamtgesellschaftlichen Transformationen. Wie schon bei der Priorität des Gestaltungsmodus in der modernen Kunst relevant (durch die Strukturen kunstspezifischen Gestaltens), ist heute, unter den Bedingungen digitaler Kommunikation noch mehr, die Mehrwertproduktion durch positive Feedbackleistung , ein vorrangiges Kriterium der ultramodernen Kunst. Diese Kunst ist dennoch keine Quoten-Kunst. Denn mit der Etablierung der Medienkultur wird mit Nachdruck deutlich, daß die Kunst eine Disziplin ist und nicht, wie die Medienkultur noch weitgehend, Effekt einer Epoche.

Zwischen der Ausgangsdifferenz zweier selektiver Ereignisse, nämlich Information und Mitteilung, die unter dem Aspekt des heute gegebenen Ausdifferenzierungsstandes der Begriffs-, Dogmen- und Theoriekontexte ganz allgemein neu definiert werden, wird es so der Kunst weiterhin möglich sein, im Spiel zwischen Beobachtern und unterschiedlichen Aggregationsanordnungen höheren Grades, Reflexivität (kunstspezifisch) zu prozessieren.

Kunst - eine spezifische Form von Wirklichkeitsproduktion.

Ausdifferenzierung im Gesellschaftssystem bildet Teilsysteme aus, die wiederum Teilsysteme ausdifferenzieren usw.: es entsteht ein transitives Verhältnis des Enthaltenen im Enthaltenen. Dieser Sachverhalt ist auch bedeutsam im Hinblick auf das Kunstsystem, das ja ein soziales System, also ein Teilsystem der Gesellschaft ist. Das Kunstsystem produziert seine spezifischen Wirklichkeits-Konstruktionen, wie sie in ebenso spezifischer Weise in anderen gesellschaftskonstituierenden Funktionssystemen produziert werden. Selbstredend produziert dieses System seine eigenen Orientierungen und Wertprämissen, d.h. seine eigenen systemspezifischen Diskurse. Dennoch läßt sich der Kunstzusammenhang nicht abgetrennt von gesamtgesellschaftlichen Evolutionsprozessen verstehen.

Die auch heute immer wieder geführten unsinnigen Diskussionen über die Autonomie der Kunst fußen zumeist auf einem epistemologischen Irrtum. Was einzig Geltung hat, ist Systemautonomie, d. h. Autonomie in einer dem System förderlichen Weise. Das bedeutet zugleich, daß das Kunstsystem auch über Leistungssektoren in bezug auf andere Funktionssysteme verfügt. Wie oben schon angedeutet, bezieht sich dieser Umstand nicht lediglich auf den Zusammenhang zum Wirtschaftssystem, sondern in vielfältiger Weise auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, die unter Schlagworten wie Entwirklichung, Semiotisierung, Mediatisierung oder Virtualisierung der Welt subsumiert werden.

Quantencomputer, Nanomaschinen, Brainchips und Endowelten - Kunst in der Ultramoderne.

Die kunstcodierten Kommunikationsprogramme in der Ultramoderne sind, der gegebenen Kommunikations-Mediatrix folgend, ganz allgemein als Texturen und (im Anspruch einer Kunst als Disziplin) im besonderen als analytische/synthetische Kunst-Propositionen konzeptualisiert. Diese Propositionen sind (wie in der modernen Kunst) immer zugleich auch Kommentare zu den je aktuellen Diskursen, zu Kunst und ihrem energetisch offenen Umraum (ihrer synreferentiellen Dimension, ihr Kontext). Noch konkreter: diese Propositionen sind Kommunikationsprogramme für Kommunikationen im Kunstsystem, das sich durch permanentes Relationieren derartiger Kommunikationsprogramme (working units) selbstreflexiv (system-organisatorisch geschlossen) in Gang hält.

Die KünstlerInnen der Ultramoderne haben die analytisch-kombinatorische Denkfigur der modernen Avantgarden durch die kybernetische ergänzt. Ihre Kunstpraxis formiert sich auf der Folie einer Selbstdefinition und -positionierung, die den eigenen Künstlerstatus relativiert zugunsten eines neugewonnenen Selbstwerts. Radikalkonstruktivistische Orientierung statt Negation, ist die programmatische Formel ihrer Praxis. Speedfreaks, Codepoeten, Cybernavigatoren, Hacker, Hypermediainstallateure usf. sind die Etiketten der neuen Künstleridentitäten. Sie nutzen, wie schon ihre VorgängerInnen, die Kontingenzspielräume und die neuen Formbildungspotentiale, die der soziokulturelle Evolutionstrend in steigender Rasanz freisetzt. In Übereinstimmung mit den sich wandelnden Apperzeptionshaltungen, Kommunikations- und Konsumtionsmodi, beinhalten ihre Praktiken nicht nur neue Produktions- und Präsentationsformen, sondern auch entsprechende Distributionsmodelle.

Der soziokulturelle Trend weist auf eine weitere Einebnung der Unterschiede von High- und Lowculture, und auf eine weiter steigende Kommerzialisierung. Am Beispiel Techno, von den Diskurs-Protagonisten einstimmig als erste Avantgarde im Pop bezeichnet , läßt sich ablesen, daß kulturelle Leistung, die mit ihrer Etablierung auch einen Markt ausbildet, nicht zwangsläufig nur (auch unter einem kunstzentrischen Aspekt) zu minderer Qualität führen muß. Ich erinnere daran (wie anfangs schon angemerkt), daß die Turbophase der modernen Kunst mit der Etablierung eines entsprechenden Marktes begann.

Die selbstreferentielle Rückbindung der Disziplin Kunst an ihr historisches Archiv, und somit an ihre Ideenevolution, wird auch in der Epoche einer Kunst, die durch Quantencomputern, Nanomaschinen und durch die Photonik (die die Elektronik ablösen wird) bis hin zu Brainchips formiert wird, weiterhin Kritik an den diversen sozialen Dispositiven beinhalten, die in anspruchsvollen, komplexen Beobachtermodellen, in heute noch kaum vorstellbarer Weise, kommuniziert werden wird. Mit Sicherheit kommt es zur Wiederkehr moderner Phantasmen, wie sich ebenso neue, ultramoderne Ideologeme ausbilden werden. Die ultramoderne Denkfigur schließt allerdings schon mit ein, daß Kunst weder exklusiv, noch das ganz Andere ist, sondern lediglich ein kulturelles Organisationsprinzip neben anderen - einfach die Disziplin einer Form kultureller Datenverarbeitung ist.

Im kritischen Rückblick unter einem gesellschaftlich-funktionalen Aspekt wird das Urteil über die Vorreiter der ultramodernen Kunst, ungeachtet ihrer unbestrittenen künstlerischen Leistungen, ähnlich wie heute das über die modernen Avantgarden sein. Denn so wie damals die literarisch-künstlerische Avantgarde die Entfesselung ungenutzter Produktivitätsreserven und neuer Produktionsformen eines expandierenden Kapitalismus symbolisch nobilitierten, geben heute nicht wenige ultramoderne Künstler, etwa unter dem Slogan von der Humanisierung der Technologie und ähnlichem Unsinn, für die neuen Eliten und ihrem Turbo-Kapitalismus unter neoliberalistischer Flagge, ebenso die sogenannten nützlichen Idioten ab.