Heimat im globalen Dorf

Regisseur Edgar Reitz über Heimat, Ortlosigkeit und das neue Kino

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Der Verdacht drängt sich auf, daß dann, wenn man über ein Phänomen spricht, das einen anzieht, dieses gerade am Verschwinden ist. Die Thematisierung der Heimat in den Filmen von Ihnen und deren Erfolg könnte so ein Hinweis darauf sein, daß Heimat immer weniger existiert. Das Sprechen über Heimat wird oft begleitet von melancholischen Gefühlen. In der globalen Informationsgesellschaft, die nicht mehr dauerhaft an Orten verankert ist und Mobilität erzwingt, könnte sich dieser Verlust noch beschleunigen. Telekommunikationsmittel greifen in die Heimat, in die Orte ein, binden sie an die Welt fest und lösen ihre Einzigartigkeit für ihre Bewohner auf.

Edgar Reitz: Wir sprechen hier von Dingen, die es schon länger gibt, als wir meinen. Wir sollten aufhören zu denken, daß alles, was die Computer können, neu sei.
In meinen Filmen habe ich seit den 60er Jahren, ganz nebenbei, ein Portrait dieses Jahrhunderts entworfen. In HEIMAT wird z.B. immer wieder berichtet, welch unglaublichen Eindruck das Radio zu Beginn der Zwanziger Jahre auf die Leute gemacht hat, wie wenige Jahre danach das Telefon seinen Siegeszug antrat und neue Umgangsformen stiftete, wie in den dreißiger Jahren neue Straßen und Autobahnen gebaut wurden. Die Dorfbewohner begegnen nun Menschen, die von weither kommen. Ein neues Alltagserlebnis entsteht, das man sich über Jahrhunderte hinweg nicht hätte vorstellen können. Schließlich bricht der Zweite Weltkrieg über die Dorfbewohner herein. Selbst der mörderische Krieg wird zum Bestandteil einer neuen Welterfahrung. Als der Krieg zu Ende geht, bewundert man die Sieger, die Amerikaner, die einen neuen Lebensstil, den Peter-Stuyvesant-Stil der "großen weiten Welt" mitbringen. Sie sind nicht mehr jene Art von Siegermacht, die über die Dörfer herfällt wie die brandschatzende Soldateska im Altertum oder im Dreißigjährigen Krieg. Nein, diese Sieger bringen die Demokratie und öffnen den Blick in eine wohlriechende schöne neue Welt. Das Ende des Zweiten Weltkrieges wird für die Deutschen, aber auch für viele andere Europäer, zum ersten Erlebnis des globalen Lebens.

Aber ist es nun Schluß mit der Heimat? Gibt es sie nie wieder? Ist die Heimat als Mitte der Welt verschwunden, die früher in jedem Dorf war? Ist vielleicht auch der klassische Film an sein Ende gekommen, mit dessen Mitteln Sie die HEIMAT noch aufgenommen haben?

Edgar Reitz: Es gibt Gefühle, mit denen es nun offensichtlich vorbei ist. Ich denke, daß wir bei unserem Thema "Müdigkeit" auch darüber sprechen sollten, was wir verlieren. Dies ist nicht nur eine Zeit, in der wir Neuland betreten, in der wir mit Hilfe der Digitalisierung eine neue Stufe der Evolution erreichen, die uns überlebensfähiger, flexibler, vielleicht demokratischer werden läßt, wie manche INTERNET-Freaks behaupten. Es gibt auch etwas in unserer menschlichen Natur, das sich den permanenten Beschleunigungen widersetzt. Ich möchte ein paar Dinge nennen, die sich nicht beschleunigen lassen: Man kann das Wachstum eines Kindes nicht beschleunigen. Man kann die Entstehung eines Kunstwerkes nicht beschleunigen. Man kann das Gesundwerden oder das Krankwerden nicht beschleunigen. Man kann den Reifeprozeß eines guten Weines nicht beschleunigen.
Es gibt eben auch jene Dinge, die uns das Leben reich machen und die ich als europäische Qualitäten bezeichnen möchte, die sich nicht beschleunigen lassen. Sie widersetzen sich dem Zeitgeist und seinem Glauben an den Fortschritt und eine immer schneller werdende Evolution. Es hat in der Kunst des 20. Jahrhunderts auch immer wieder solche Erklärungsversuche gegeben. Die gesamte Avantgarde ist vom Beschleunigungsrausch gekennzeichnet. Aber er hat auch immer wieder in Sackgassen geführt hat. Man siegte sich zu Tode. Man begriff die Welt immer besser und verlor sie zugleich.
Eine neue Trauer entsteht durch den Verlust jener Qualitäten, die im Heimatbegriff mitschwingen. Heimat ist ja kein fester Besitz, bei dem man sagen kann, hier übernehme ich Verantwortung, hier bin ich und hieran habe ich Eigentumsrechte. Heimat bezeichnet auch immer etwas Verlorenes und, indem wir es verlieren, das Gefühl dafür. Das Gefühl für die Verlorenheit der Dinge ist manchmal stärker und intensiver als für die Dinge selbst.
Alle Menschen wissen zutiefst, daß sie sterblich sind, daß jeder Augenblick unseres Lebens vergänglich ist. In jedem dieser Augenblicke liegt aber auch die Botschaft, daß es nichts wertvolleres gibt, als das Leben und daß man es beschützen und hüten muß. Ich habe das Bedürfnis, diese kleinen Zeugnisse von Leben, wie wir sie durch sensible Beobachtung im Film darstellen können, aufzubewahren.
Aber gleichzeitig weiß ich, daß die Welt nicht stillsteht, daß es eine Entwicklung gibt und daß die Menschen, die ich mit Liebe beschreibe, in einer Welt leben, die sich verändert. Sie nehmen an immer komplizierteren und immer weiträumigeren Kommunikationssystemen teil, die immer mehr zum Bestandteil der Lebensgeschichte werden. Alles scheint im digitalen Zeitalter reproduzierbar zu sein und kann vervielfältigt werden. Die Replik wird dem Original gleichwertig. Wir klonen die Gebrauchsgüter, die Kunstwerke, ja sogar Pflanzen und Tiere. Gleichzeitig aber individualisieren sich die Menschen immer mehr. Das Individuelle, das Unteilbare, das Besondere an jedem von uns, das, was mit uns stirbt, wird immer mehr betont und zum Lebensprinzip gestaltet. Als Person sind wir nie mehr wiederholbar. Keiner läßt sich vervielfältigen. Als Individuen sind wir eigentlich nicht kommunizierbar. Es bleibt immer ein geheimnisvoller Rest. Der Mensch als Person ist nicht digitalisierbar.

Entwürfe zum Kino der Zukunft

Ich will ein wenig mehr auf Ihre Filmpraxis zu sprechen kommen. Sie haben ja mit Heimat etwas sehr Wagemutiges unternommen. Sie haben einen langen Abschied mit Ihren beiden über viele Stunden hinweggehenden Filme unternommen. Woher haben Sie eigentlich den Mut genommen zu glauben, daß Menschen es sich heute noch antun, sich so lange einer Geschichte auszusetzen?

Edgar Reitz: Diese Filme, die ganz und gar gegen die Gewohnheiten verstoßen, weil sie jedes Fernseh- und Kinoprogramm sprengen, sind dennoch um die ganze Welt gegangen. Ich sehe, daß es überall Menschen gibt, denen dieses Gefühl des Verweilens, das der Film einfordert, im Leben fehlt. In einer Welt der Beschleunigung, der immer weiter zunehmenden Diversivität, der stetig sich steigernden Vermehrung der Sinnes- und Bildeindrücke, suchen sie diese Qualität des Verweilens. Dabei beschäftigen sich die Zuschauer mit dem Gedanken, wo bin ich, wie verläuft mein eigener Lebensweg in Vergleich zu den Personen, die hier beschrieben werden.
Diese Art Filme zu machen, hat viel mit Musikalität, mit Rhythmus zu tun. Es gibt verschiedene Lebensrhythmen, an denen der Film sich orientiert. Es gibt den Rhythmus des Fortschrittes, aber es gibt auch den biologischen Rhythmus, der durch Technologien nicht veränderbar ist. Der Mensch, der ein Auto fährt oder einen Computer bedient, ist aber nach wie vor ein biologisches Wesen, das die Zeitempfindung ganzer Evolutionsperioden in sich trägt. Er kann zwar lernen, mit den neuen Geschwindigkeiten umzugehen, aber es bleibt eine unbeteiligte Erinnerung "von Alters her" in ihm, die sich immer deutlicher bemerkbar macht und immer mehr Aufmerksamkeit von uns verlangt. Der HEIMAT-Zyklus spricht dies in den Menschen an.

In Heimat haben Sie gezeigt, daß der Rundfunk, das Telefon oder das Kino in die Welt der Menschen einbricht. Wenn Sie jetzt Ihren neuen Film "Die Erben" über die letzten hundert Tage dieses Jahrtausends drehen wollen, werden Sie das auch noch im Medium des klassischen Tonfilms machen oder werden Sie die neuen Mittel, Filme herzustellen und zu präsentieren, nicht nur zeigen, sondern auch einsetzen? Wollen Sie etwa künstliche Schauspieler integrieren, die Palette der special effects ausschöpfen, oder wollen Sie das Ende des Jahrtausends mit den klassischen Mitteln des Tonfilms darzustellen versuchen? Und wenn, wäre das nicht ein Paradox?

Edgar Reitz: Man muß sich klarmachen, daß der sprachliche und mehr noch der audiovisuelle Ausdruck unserer Gefühle schwer ist. Es ist nicht so, daß Millionen von Menschen in der Lage wären, sich in den INTERNET-Foren wirklich auszudrücken. Die wenigsten Menschen sind überhaupt in der Lage, ihre Gefühle in Sprache, geschweige denn in Bilder zu fassen. Das Filmemachen hat eine hundert Jahre alte Kulturgeschichte hinter sich. Für eine Kunstform sind 100 Jahre aber wenig. Wenn ich Komponist wäre, dann würde ich ein Handwerk ausüben, das 4000 Jahre alt ist, und ich könnte von der Selbstverständlichkeit dieser Äußerungsform profitieren.
Beim Filmemachen ist alles ziemlich neu. In den hundert Jahren des Films hat es dennoch Werke gegeben, die weltweite Maßstäbe setzen und zeigen, zu welch phantastischer Ausdrucksfähigkeit man in diesem Medium gelangen kann. Jeder, der Filme macht, ist mit diesen Maßstäben konfrontiert und hat zugleich die Aufgabe, das Medium als solches weiter zu entwickeln. Niemand kann heute noch einfach eine Kamera in die Hand nehmen, darauf losfilmen, und meinen, er hätte schon etwas gesagt. Wer nur die Techniken verwendet, wird sehr schnell merken, daß er sich nur in den billigsten Klischees äußert, die nichts über ihn selbst oder die Welt aussagen.
Die Behauptung, daß Millionen von Menschen sich über das Internet audiovisuell vermitteln könnten, ist unsinnig, denn es wird ihnen nicht einmal gelingen, in Bildern oder Worten auszudrücken, was sie im Moment empfinden. In den Internetforen, in denen sich die Menschen bisher meist schriftlich äußern, sind die wenigsten überhaupt fähig sich sprachlich auszudrücken. Viele beherrschen nicht einmal die Grammatik. Ein eigener INTERNET-Jargon hat sich herausgebildet und oft findet auf dem Bildschirm nur ein hilfloses Gestammel statt. Was hier fehlt, ist der gleiche Habitus, den wir für die klassischen Ausdrucksformen brauchen. Jeder, der die klassischen Regeln des Ausdrucks zu benutzen lernt, profitiert davon, und jeder, der die klassischen Ausdrucksformen des Films kennenlernt, betritt einen neuen Horizont.
Sie fragen, benutzen Sie noch die klassischen Formen? Ich antworte ja, aber ich möchte sie weiter entwickeln. Was ich aus der Filmgeschichte ererbe, ist oft noch zu wenig. Immer noch empfinde ich die klassische Art Filme zu machen, mit Kameras, Schauspielern und der hundertjährigen Filmgeschichte im Rücken, als ein Geschenk dieses ausgehenden Jahrhunderts an das kommende.

Das ist vielleicht nur ein europäischer Anspruch. Das europäische Kino hat keinen weltweiten Erfolg mehr. Hollywood ist immer noch mächtig, und es setzt immer mehr auf die Techniken. Viele der populären Hollywood-Filme sind nicht recht viel mehr als eine Aneinanderreihung von Spezialeffekten, eingepackt in meist recht einfache Geschichten mit platten, oberflächlichen Charakteren. Kann man denn mit einer alteuropäischen Tradition gegen diesen Trend noch ankommen?

Edgar Reitz: Ich bin immer für die individuelle Form eingetreten, für eine filmische Sprache und ein Produktionsmodell, das noch von einzelnen Machern beherrschbar ist. Gerade das ist ja ein europäisches Ideal. Das Ideal der Individualität haben wir in Europa erfunden. Daß der Einzelne ein Recht hat, sich auf seine eigene, unverwechselbare Weise an den Prozessen der Gesellschaft zu beteiligen und vor allem das zum Ausdruck zu bringen, was nur er kann, dieser Anspruch steckt tief in uns Europäern.
Die amerikanische Produktionsweise dagegen unterdrückt diese Bedürfnisse. Sie ist eher hierarchisch geordnet. Sie stellt die Pyramide des Geldes dar. Nur dort, wo die unglaublichen Mittel zusammen kommen, die man zur Weltgeltung auf den Märkten braucht, wo Banken, Studiounternehmen, Großproduzenten mit ihren vielen Millionen ihre Vorstellungen von Erfolg verwirklichen können, kommt noch ein Film zustande. Dabei wird die persönliche Lebensvorstellung derer, die den Film machen, ganz sekundär. Die Darsteller, die Stars, werden immer weiter entindividualisiert.
Die Figur, die Schwarzenegger in Terminator spielt, ist beinahe eine Animationsfigur und fast kein Mensch mehr. In der nächsten Stufe wird man den Hauptdarsteller im Computer generieren und aus dem Star das machen, was er immer sein sollte und nie restlos werden konnte, solange man dafür noch Menschen brauchte, einen Markenartikel. Die Entwicklung geht auch deswegen in diese Richtung, weil solche Produktionen sich absolut von den Konzernen beherrschen und vermarkten lassen. Im individuellen Machen steckt immer ein Stück Unberechenbarkeit und Widerstand. Dieses Stückchen Unberechenbarkeit ist aber meines Erachtens der eigentliche kulturelle Kern. Nur mit ihr entsteht, auch in Amerika, gelegentlich Filmkunst. Wenn wir die amerikanische Produktionsweise zum neuen Standard machen, werden wir in Europa den Rest unserer Bedeutung als freie Filmindustrie aufs Spiel setzen.

Der Film war eigentlich schon immer eine arbeitsteilige Produktionsform. Man kann keinen Film alleine machen...

Edgar Reitz: Auch in diesem Punkt ist Film mit der Musik verwandt, die eine ebenso kollektive Kunst ist.

Die Computertechnologie könnte allerdings ermöglichen, daß wirklich auch einzelne oder kleine Gruppen mit relativ geringem Aufwand und ziemlich selbständig Filme produzieren und vielleicht auch übers Internet verbreiten können. Ist das nicht auch eine Utopie?

Edgar Reitz: Ich denke, eines Tages werden überall auf der Welt diese einsamen Genies auftauchen, die in ihren Dachstübchen mit Computern gewaltige Filme machen. Aber ich vermute, daß es sich dabei um eine ganz merkwürdige Sorte von Film handeln wird, in denen keine Schauspieler auftreten und keine Bilder der Außenwelt vorkommen werden.

Für Sie ist das aber nichts positiv Besetztes?

Edgar Reitz: Naja, mir sind die Mittel, die heute für reine Computeranimationen zur Verfügung stehen, noch zu grob. Die Digitalisierung hat jedoch dazu geführt, daß wir bei der Nachbearbeitung auf sehr raffinierte Weise in die Bilder eingreifen können. Als ich noch vor wenigen Jahren Szenen drehte, die in den 20er Jahren oder während des Zweiten Weltkrieges spielten, mußte das Drehteam noch Dutzende von Fernsehantennen auf den Hausdächern abmontieren oder für viel Geld parkende Autos abschleppen. Das kann man heute alles mit digitaler Nachbearbeitung lösen. Falsche Bildanteile werden elektronisch herausretuschiert und durch neue ersetzt. Wir sind heute in der Lage, Personen und Objekte beliebig auszutauschen oder zu modifizieren. Gegenwärtiges und Vergangenes, Dokumentarisches und Fiktives lassen sich beliebig kombinieren und zu neuen poetischen Wahrheiten verknüpfen. Es ist ein großer Gewinn für die Filmkunst, in die bewegten Bilder so eingreifen zu können, ähnlich wie es die Literatur mit Sätzen oder die Malerei mit Farben tut.

Es gibt zwischen der Heimat und dem Kino eine Parallele. Auch das Kino ist als Veranstaltungsort ein bestimmter Raum, zu dem viele Menschen hinkommen müssen, um sich einen Film dort anzusehen. Das Kino ist für uns noch immer mit einem architektonischen Gebäude, mit einer Leinwand verbunden, auf der man sich gemeinsam einen Film ansieht. Den Kinos geht es zwar im Augenblick besser. Die Menschen strömen in die Kinos, aber die Entwicklung der Speichermedien, Abspielapparate und Netzwerke läuft doch möglicherweise langfristig dahin, daß es nicht mehr notwendig ist, in das Kino zu gehen, um sich einen Film in guter Qualität anzuschauen, wenn es dort nicht mehr als nur einen Film gibt. Für welchen Ort ist denn Ihr neuer Film geplant? Für das Kino, ein neues Kino, das Fernsehen?

Edgar Reitz: Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Menschen heute oder in Zukunft nur Zuhause bleiben wollen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß in Zukunft die ganze Menschheit nur noch auf Bildschirme glotzt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es unserem Trieb, zueinander zu finden, Kontakt zu finden, entspricht, in der einen Hand eine Maus zu halten und den Bildschirm vor der Nase zu haben. Der Trieb zur sozialen Erfahrung wird durch die elektronischen Netzwerke nicht sinnlich befriedigt. Die Ohren, die das hören, die Augen, die das sehen, die Hand, die die Maus führt, haben ursprünglich andere Zweckbestimmungen und andere Befriedigungswünsche. Deswegen wird das Kino leben.
Gerade weil man Zuhause alles haben kann, wird man ins Kino gehen. Wir verlassen die eigenen vier Wände, weil es einen Trieb in uns gibt, der uns Lust am Dabeisein bereitet. Es ist eine Energiequelle für die Seele des Menschen, unter Anderen und gemeinsam mit Anderen etwas zu erleben, das an das eigene Leben, die eigenen Ängste oder Freuden erinnert.
Jeder, der sich mit der Dramaturgie des Kinos beschäftigt, weiß, daß es ein gewaltiger Unterschied ist, ob man gemeinsam lacht und weint oder alleine. Menschen, die gemeinsam weinen, weinen, so möchte ich fast sagen, auf einem höheren Niveau. Die Tränen erhalten in der Gemeinschaft des dunklen Saales ein bestimmtes Pathos. Es ist eine mythische Gewalt, die Menschen zum gemeinsamen Weinen bringt. Gemeinsames Lachen dagegen ist viel kommunikativer und intelligenter als das einsame Lachen. Einsam wird eher geschmunzelt als gelacht. Das einsame Lachen erlöst uns nicht. Es ist nicht so befriedigend oder manchmal sogar vulgär. Viele menschliche Äußerungen finden erst in der Gemeinschaft ihre natürliche Form. Im Kino nimmt der Film an einer Evolution der Instinkte teil, die in dieser Gesellschaft einen ganz eigenen, aber auch verborgenen Weg gehen.
Ich staune immer wieder, wie unbewußt die meisten Entwicklungen in den Kommunikationsystemen und öffentlichen Medien verlaufen. Der Mensch ist ein Lebewesen, das zwei einander entgegengesetzte Naturen hat: Wir sind Höhlenbewohner und suchen das Alleinsein. Wir sind aber auch Herdentiere und suchen die öffentliche Gemeinschaft. Die sozialen Instinkte erfahren gegenwärtig eine merkwürdige Entwicklung. Wenn wir das Kino plötzlich wiederbelebt sehen, wenn wir sehen, daß alleine in Berlin an die 20 Multiplexe gebaut werden und allein in einer Stadt über 50000 neue Kino-Sitzplätze entstehen, dann ist das ein deutlicher Hinweis auf Veränderungen im Lebensrhythmus. Es hat derartiges seit den 30er Jahren nicht mehr gegeben.

Mit den klassischen Leinwänden?

Edgar Reitz: Ja, mit den klassischen Leinwänden und mit sehr angenehmen architektonischen Konzepten für die Zuschauersäle und die Räumlichkeiten um sie herum. Es ist sehr wichtig geworden, daß die Ausgänge nicht mehr auf die Straße führen, sondern in das Gebäude zurück. Nach dem Film gelangen die Zuschauer dahin, wo sie angefangen haben. Wer einen Film gesehen hat, will nämlich zurückkehren in die Gemeinschaft derer, die sich von dem Ereignis haben anlocken lassen. Das heißt nicht, daß die Menschen jetzt diskutieren wollen. Sie wollen nicht intellektualisieren, was sie erleben. Sie wollen einfach nur miteinander sein und erfahren, daß das, was ihnen gefällt, auch den anderen gefällt und daß man in dieser fast wortlosen Gemeinschaft eine neue Heimat findet. Für mich, der ich jede Heimat verloren habe, ist das Kino meine Heimat geworden, zumindest die Utopie davon.

Das klingt jetzt ein wenig so, daß alles mehr oder weniger so bleiben wird, wie es bislang war. Das Kino lebt auf. Wir finden dort eine Öffentlichkeit, sogar eine Gemeinschaft, selbst wenn sie stumm ist. Natürlich aber finden die Menschen auch in den Netzen neue Öffentlichkeiten und Gemeinschaften. Es bauen sich dort ganz neue Formen der Kommunikation und Interaktion auf. Man kann eigentlich nicht von dem Bild ausgehen, daß jeder alleine vor seinem Computer sitzt. Der Cyberspace ist auch eine große und offene Welt.

Edgar Reitz: Ich möchte dazu eine kleine Geschichte erzählen. Ich surfe auch des öfteren im Internet. Neulich finde ich in einem Forum einen Hilferuf von einer Amerikanerin namens Christine. Sie berichtet, daß sie in einem Bekanntschaftsforum im Internet einen Mann gefunden hat, mit dem sie wunderbaren Telefonsex macht, wie sie sagt. Dann entsteht der Wunsch, sich auch einmal "offline" zu treffen, so wie sich früher Großmutter mit Großpapa getroffen hat. Davor hat Christine aber so fürchterliche Angst, daß sie wiederum im Internet um Hilfe ruft. Wer hat, ruft sie in die weite Welt des Netzes, Erfahrung mit einem "meeting offline!". Das finde ich bezeichnend. Das ist eine tolle Story, die genau zeigt, was verlorengeht.

Noch einmal zurück. Es werden viele Multiplexe gebaut, aber im Prinzip bleibt die Leinwand, die Projektion, der Film gleich. Wenn man nun aber durch die Heimmedien weiter in die eigene Höhle hineingeht und andererseits ein größeres Bedürfnis hat, die Höhle zu verlassen und in die Öffentlichkeit zu gehen, müßte sich doch auch das Kino als Ort verändern? Das stumme Glotzen auf die Leinwand, und draußen der Popcornstand - das ist doch keine Alternative? Es ist doch abzusehen, daß die Vermehrung der Multiplexe relativ schnell an ihr Ende kommen wird, daß das Kino doch eine Nische ist. In den Hollywoodfilmen wird zwar viel mit Spezialeffekten gearbeitet, aber die Filmerzählung und die Rezeption des Filmes bleibt doch beim Alten, wenn man einmal die parallele Produktion von Computerspielen außer Acht läßt. Der Computer ermöglicht aber doch auch andere Formen des Filmemachens und des Rezipierens. Wenn ich jetzt noch einmal auf "Die Erben" zu sprechen kommen darf, möchte ich Sie fragen, wie Sie hier diese Entwicklungen reflektieren wollen?

Edgar Reitz: Da kommt sehr viel auf uns zu, und ich freue mich auch darüber, daß die neuen Medien uns ästhetisch eine große Fülle von neuen Möglichkeiten anbieten. Das wird auch vor dem Kino nicht Halt machen. Deswegen habe ich eigens vor zwei Jahren in Karlsruhe ein Institut gegründet, das sich mit der Zukunft des Kinos beschäftigen soll.
Der Film wird sehr bald nicht mehr von einem Zelluloidstreifen kommen, sondern er wird digital in einer sehr hohen Qualität übertragen. Die Geräte, mit deren Hilfe man große Bilder projizieren kann, bedürfen keiner Projektionskabinen mehr. Sie müssen nicht mehr zentral in den Räumen angeordnet sein.
Man wird in Zukunft beliebig viele Projektoren in den Räumen anbringen können. Die Räume werden immer weniger theaterartig sein. Sie werden nicht mehr so starr auf eine Guckkastenbühne ausgerichtet sein, sondern man wird mit frei in den Raum projizierbaren Bildern phantastische Shows inszenieren können. Man wird auch simultan erzählen. Geschichten, die wie das Leben in alle möglichen Bereiche verzweigt sind, wird man filmisch darstellen können. Das Publikum wird auf eine ganz neue Weise mobil werden und auch architektonisch neue Freiheiten erfahren. Es wird neue Regeln geben, wie man sich den Bildern nähert.
Das ist alles übrigens auch nicht so neu. Schon die Mysterienspiele in den mittelalterlichen Städten waren simultanes Theater. Es gab mehrere Bühnen, auf denen die Schauspieler Szenen aus der biblischen Geschichte spielten, und das Publikum flanierte umher, nahm mal an dieser oder jener Geschichte teil und setzte sich im Kopf die eigene Version zusammen. So etwas werden uns die interaktiven Geschichten, die uns die Computerspiele heute vormachen, in Großform und auch in kollektiver öffentlicher Form wieder bieten.
Bei meiner weiteren Filmarbeit möchte ich vorsichtig versuchen, solche ästhetischen Konzepte einzubeziehen. Dabei ist mir allerdings bewußt, daß wir im Kopf sehr viel schneller sind, als in Wirklichkeit. Es gibt heute Philosophien und Konzepte, die der faktischen technischen Entwicklung 30, 40 oder 50 Jahre vorauseilen. Es nützt mir nichts, wenn ich einen Film, der viele Millionen kostet, erst in 50 Jahren vorführen kann. Ich muß mich an die vorhandenen Möglichkeiten halten.
Ich finde es heute interessant, medienübergreifend zu arbeiten, beispielsweise Geschichten zu erzählen, die in einem Kino beginnen, in einem Privatfernsehsender weitergehen, im Internet fortgesetzt werden, um schließlich im Kino zu Ende zu gehen. So könnte sich das Ganze auf neue Weise in das kulturelle Angebot einer Stadt eingliedern. Da ist heute schon viel machbar. In Zukunft wird der Filmemacher auch noch ein Veranstaltungsdramaturg sein, ein Künstler, der nicht nur seinen Bildstreifen gestaltet. Das neue audiovisuelle Produkt für das Kino ist in Zukunft mehr als nur eine Schachtel voller Filmspulen, sondern eine Performance, die ein ganzes Gebäude oder sogar ein ganzes Land erfaßt.
Ich glaube auch an ein Kino, in dem wieder applaudiert wird. Wer ausgeht will applaudieren, denn dadurch zeigt man sich untereinander, daß man da ist und zu denen gehört, denen die Show gefällt. Der Erfolg, an dem man persönlich und körperlich teilnimmt, äußert sich im Klatschen.