Schuldig! Das Internet

Stimmungsbild einer Paranoia

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Eigentlich hätte an dieser Stelle ein Update des Artikels über das neue Telekommunikationsgesetz in Deutschland stehen sollen. Doch die "Zensurfälle" häufen sich und so wurde aus dem Update eine Rundschau zum Thema "Versuche lokaler Autoritäten, ein globales Medium unter Kontrolle zu bringen". Werden wir dem "Netz, wie es einmal war" bald nur noch nachtrauern, hinter digitalen Stacheldrahtwällen versteckt, von personalisierten Killerrobots be- und von Staatsanwaltsagenten überwacht?

Ein Rundumblick auf diverse Vorschläge, Gesetzesentwürfe und Zeitungsartikel offenbart, daß nun der Druck wächst, dem unbeschränkten weltweiten Informationsfluß im Internet Zügel anzulegen. Dabei handelt es sich um eine durchaus zweischneidige Sache, werden doch als Grundlage für den Ruf nach Kontrolle so verdammenswerte Erscheinungen wie Kinderpornographie und Terrorismus genannt. Wer sich dem widersetzt, würde zumindest indirekt diesen Untaten Vorschub leisten. Free Speech- und Anti-Zensur-Aktivisten hingegen sind der Ansicht, durch Zensur würden Grundrechte ausgehöhlt werden. Dieser Meinung sind nicht nur die sowieso auf jede Kleinigkeit überhitzt reagierenden amerikanischen Netizens, die am liebsten einen Freistaat Internet ausrufen würden, sondern auch so angesehene Organisationen wie Human Rights Watch:

"Da das Internet keine nationalen Grenzen kennt, wird durch Online-Zensurgesetze die Freiheit der Meinungsäußerung global bedroht und darüberhinaus die Entwicklung einer globalen Informationsinfrastruktur behindert, noch bevor sie zu einem wirklich globalen Phänomen wird."

Dieses Zitat entstammt einem längeren Bericht, der von Human Rights Watch unter dem Titel "Silencing the Net--The Threat to Freedom of Expression Online" am 10.Mai 96 publiziert wurde. In einem Meinungsklima, das vom Bombenattentat in Atlanta, dem Absturz der TWA Maschine Flug 800 und einem haarsträubenden Skandal in Belgien aufgeheizt wurde, ist die Freiheit der Rede und das Recht auf eine geschützte Privatsphäre, so scheint es, weniger wichtig als das Bedürfnis der Staaten, sich vor Terror zu schützen und Kindesmißbrauch einen Riegel vorzuschieben. In einer bei einem Außenministertreffen in Paris unterzeichneten Resolution der G-7 Staaten (plus Russland) gegen Terrorismus werden alle Staaten aufgerufen,

"...sich bewußt zu werden, daß Terroristen elektronische oder auf Kabeln beruhende Kommunikationssysteme und Netzwerke benutzen, um kriminelle Handlungen auszuführen, und daß die Notwendigkeit besteht, Mittel zu finden, in Übereinstimmung mit nationalen Gesetzen, die solche kriminellen Akte verhindern.

"...die Unterhandlungen in angemessenen bilateralen und multilateralen Foren über den Gebrauch von Kryptographie zu beschleunigen, damit den Regierungen ein gesetzlich geregelter Zugang zu Daten und Kommunikationsvorgängen gegeben ist, um Akte des Terrorismus zu verhindern oder Ermittlungen zu führen, und zugleich die Privatheit legitimierter Kommunikation zu schützen".

Doch wann ist Kommunikation legitim und wann nicht und wer entscheidet unter welchen äußeren Zwängen darüber? Macht die sogenannte "wehrhafte Demokratie" im Kampf gegen Links- und Rechtsextremismus nicht ihre Bürger zu Geiseln des Sicherheitsdenkens und vor allem, wie dehnbar ist Gesetzestext? Wenn nun im Kampf gegen Terrorismus Bürgerrechte zumindest tendenziell unterminiert werden, ist es dann nicht denkbar, daß zukünftige Generationen von Machthabern diese Paragraphen noch freier interpretieren werden? Ähnliche Bedenken wurden auch anläßlich eines OECD-Meetings zum Thema Kryptografie Ende September in Paris laut. Ein Manifest wurde von verschiedenen Menschenrechtsorganisationen herausgegeben. Darin steht unter anderem, daß "Nationalregierungen bereits Schritte unternommen haben, Nutzer und Entwickler von Krypto-Techniken zu verfolgen", (...) und daß "Menschenrechtsaktivisten, die von Nationalregierungen verfolgt werden, Kryptographie benutzen". Die OECD wurde aufgerufen, "ihre Kryptographie-Politik auf das fundamentale Bürgerrecht aufzubauen, wirklich privat kommunizieren zu können". Quelle Epic.

Trotz dieser Bemühungen von Menschenrechtsorganisationen, die Bedeutung der privaten Kommunikation in totalitären oder semi-totalitären Staaten hervorzuheben, bildet sich eine immer breitere Front, die dafür eintritt, daß von jedem Kryptographie-Schlüssel eines Users ein Zweitschlüssel bei einer staatlichen Stelle hinterlegt wird. Diese auch von Bundesinnenminister Manfred Kanther geforderte Lösung wäre de facto das Ende des Briefgeheimnisses im elektronischen Postverkehr.

Deutschland zeigt überhaupt Ansätze, Tempomacher im internationalen Kesseltreiben gegen die Netzbeschmutzer zu sein. Das neue Telekommunikationsgesetz ist nun endgültig beschlossene Sache. Von der Öffentlichkeit wurde bisher kaum zur Kenntnis genommen, daß nun staatliche Stellen eine bequeme Möglichkeit haben, sich jedermanns/fraus Telekommunikationsdaten zu besorgen. Jeder geschäftsmäßige Anbieter von Telekommunikationsdiensten muß der Regulationsbehörde einen technischen Zugangsweg zu den Kundendatenbanken geben. (siehe)

In den USA wird hingegen immer noch um den Clipper-Chip gerungen, dessen Version 4.0 nun in einem Schlüsselhinterlegungssystem ähnlich dem deutschen Vorschlag bestehen soll. Die Software-Industrie, die sich durch das Verbot des Exports von Krypto-Produkten behindert fühlt, erhält die Möglichkeit, 56-Bit Schlüssel zu exportieren, wenn sie verspricht, bessere Techniken zu entwickeln. Das ist allerdings ziemlich lächerlich, da mit entsprechender Hardware bereits jetzt 1024-Bit Schlüssel in einem tolerablen Zeitraum zu knacken sind.

Und wieder Deutschland: Hier haben einige Provider zumindest vorübergehend versucht, den Zugang zum niederländischen Server XS4all zu sperren. Zum Sprachrohr der Provider versuchte sich eine relativ neue Organisation namens Internet Content Task Force (ICTF) zu machen. Diese steht mit dem Electronic Commerce Forum (eco) in Verbindung. Parallel dazu gibt es auch noch einen Internet-Medienrat. Immer dabei und sehr aktiv ist RA Michael Schneider. Florian Rötzer sprach mit ihm über seine Absichten, insbesondere die Ziele des Medienrats.

Sabine Helmers von der Projektgruppe "Kulturraum Internet" besuchte den Telepolis-Newsroom in Osnabrück und schrieb spontan den Artikel Zensur wie in einer Bananenrepublik. Weitere Informationen, sowie die Möglichkeit, durch Eintragung in einer Unterschriftenliste Stellung zu nehmen, erhalten Sie unter dieser page duplox.wz-berlin.de/people/s/decl.html/

Ist es nur Zufall, daß ausgerechnet der Provider Xs4all zum Ziel einer versuchten Sperre wurde, ein Provider, dessen Name ja schon für eine Losung steht, nämlich "Zugang für alle" und der damit auch ein politisches Programm verfolgt? Um das Bild abzurunden, sprach Sabine Helmers für Telepolis mit Felipe Rodriquez, Geschäftsführer von XS4all.

Unter dieser Site - sofern sie über Ihren Provider zugänglich ist - finden Sie eine Reihe aufschlußreicher Texte, die von F.Rodriquez zum deutschen Zensurversuch gesammelt wurden. Das Verhalten der ICTF erscheint dabei in einem nicht ganz klaren Licht. Während sie im Spiegel als Internet-Musterknaben gewürdigt werden, die dem starken Druck des Generalbundesanwaltes gefolgt sind, werden sie von anderer Seite (z.B. Newsgruppen de.soc.netzwesen, de.soc.zensur) als profilierungswütige Aktionisten betrachtet.

Wenige Tage nach der xs4all-Affäre fühlte sich die ICTF bemüßigt, gegen einen brasilianischen Provider vorzugehen, der auf seinem Server u.a. auch Kinderpornographie anbietet. Die ICTF setzte einen WWW-Robot auf den ausländischen Server an, sichtete das Material, sah den Tatbestand der kommerziellen Vermittlung von Kinderpornographie als gegeben an und richtete daraufhin ein ultimatives Schreiben an den Provider, sein Treiben einzustellen, ansonsten man (die ICTF) den Server von Deutschland aus unzugänglich machen müsse. Als der Provider nicht reagierte, gab die ICTF schließlich die Empfehlung an ihre Mitglieder, den WWW-Zugang zu diesem Server nicht mehr zu ermöglichen.

All das entbehrt nicht eines gewissen Facettenreichtums. Wer beschützt hier eigentlich wen? In der Xs4all-Sache konnte die ICTF noch argumentieren, sie schütze ihre Mitglieder, die Provider, vor Strafandrohung durch den Generalbunbesanwalt. Im zweiten Fall stand so eine Drohung auch gar nicht bundesweit im Raum. Eine Interessensvertretung deutscher ISPŽs bedroht einen ausländischen Provider, als Internetsheriff agierend, Aufklärer und Richter in einem. Will diese Interessensvertretung wirklich ernst genommen werden.

Einen Zweck hat sie jedenfalls erfüllt. In beiden Fällen wurde mit dem Versuch, einen bestimmten Inhalt zu sperren, diesem Inhalt große Popularität verschafft.

Technische versus gesellschaftliche Lösung

Free Speech-Aktivisten haben die Page von "Radikal", die bei xs4all beanstandet wurde, inzwischen auf Dutzenden von Servern gespiegelt. Der Provider selbst wehrte sich durch ein System von rotierenden IP-Nummern. Über ausländische "Anonymizer"-Proxies war www.xs4all.nl eigentlich immer zugänglich. Besonders radikale Netizens führen immer gerne an, daß das Internet gar nicht zensuriert werden könne. Zur Begründung nennen sie eine Reihe technischer Tricks, wie z.B. die oben aufgezählten, mit denen jeder Zensurversuch zu umgehen sei..

If there is a problem we will route around it

Doch nicht alle NetzbürgerInnen haben Zeit und Lust, sich so weit mit der Technik vertraut zu machen, um diese Tricks wirklich zu beherrschen. Außerdem würde ich es persönlich als Armutszeichen sehen, wenn ich, um meine Bürgerrechte wahrnehmen zu können, auf technische Tricks zurückgreifen muß. Sicherlich kann ich das ausnahmsweise tun, doch würde ich es grundlegend befürworten, wenn gesellschaftliche Lösungen gefunden würden, die sowohl kriminelle Akte weitgehend verhindern oder ihre Aufklärung erleichtern, zugleich aber auch die Bürgerrechte nicht einschränken.

Für die Internet-Entwickler ist scheinbar alles eine Frage der Protokolle. Der Communications Decency Act, auch wenn er gerade noch zu Fall gebracht werden konnte, hat die US-Software-Industrie aufgerüttelt. Diverse Software-Verfahren wurden entwickelt für "kindersicheres" Web-Browsen. Nun wurde das PICS-System von der W3-Society offiziell in die Erweiterungen des "Meta-Tags" aufgenommen, eines HTML-Tags, der im Header jedes HTML-Dokuments steht. Über die Subkategorie PICS kann dem Browser nun mitgeteilt werden, welche Art von Inhalt er in dem entsprechenden HTML-Dokument finden wird. Im Browser selbst können Voreinstellungen getroffen werden, daß nur Inhalte bestimmter Kategorien gesichtet werden können. So kann es in Zukunft ein Internet nach Altersstufen, wie im Kino, oder wer weiß nach welchen Kategorien sonst noch geben.

Zum einen ist zu erwarten, daß technisch begabte Wizzkids wahrscheinlich besser mit solchen Tools umzugehen wissen als ihre Eltern, zum anderen hat PICS jedoch das Potential, weit mehr als nur eine Kindersicherung zu sein. Es könnte sich zu einem umfassenden Inhaltskontrollmechanismus entwickeln. Beim Microsoft Explorer, der sich in Zukunft auf den Festplatten vieler neugekaufter Computer vorinstalliert finden wird, könnten PICS-Konfigurationen bereits vorherbestimmt sein. Technisch wenig informierte User könnten dann z.B. immer nur in Inhalten browsen, die für zehnjährige bestimmt sind, während ihnen der Rest der Webwelt entgeht, ohne daß sie wissen, daß ihnen etwas entgeht. Server könnten so konfiguriert werden, daß sie nur den Zugriff von Browsern erlauben, die auch die PICS befolgen, usw.

Internet, Quo Vadis?

Das Internet könnte sich so sehr schnell in einen Ort verwandeln, der alles andere als ein freier, offener Kommunikationsraum ist. Technische Lösungen wird es immer geben, und auch eilfertige Selbstkontrolleure findet man scheinbar besonders in Deutschland häufig. In den Industrienationen wird nun ein Medienklima geschaffen, innerhalb dessen die Durchsetzung verschiedener neuer Regelungen leicht sein wird.

So lancierte die Tageszeitung Observer, London, einen massiven dreiseitigen Bericht gegen Julf Helsingius, Administrator des bekannten Anonymous-Remailer-Dienstes anon.penet.fi und Clive Feather, Direktor von Demon Internet, Großbritanniens erstem und größten Massen-Internet-Provider. Die beiden werden auf Grundlage völlig verdrehter Darstellungsweisen als Verbreiter von Kinderpornographie dargestellt, Feather wohl allein, weil sein Dienst Menschen Internet-Zugang gibt und das Internet ja bekanntlich nur aus Pornozeugs besteht, Helsingius, weil über seinen Remailer-Service 90 Prozent der dreckigen Bilder ins USENET gespeist würden. Selbst wenn letztere Information stimmen würde, daß über anon.penet.fi wirklich Pornographie ins Netz gelangen würde, so bedeutet das ja nicht, daß der Administrator des Systems dies aktiv begünstigen würde. Der selbe technische Service kann auch Dissidenten dazu dienen, ihre Meinung, bzw. bestimmte Informationen aus einem unterdrückten Land zu schmuggeln.

Doch um die Redefreiheit scheint es nicht wirklich zu gehen. Gerade in Europa und insbesondere in Deutschland wird oft so getan, als ob wir bestimmte Rechte "haben" wie ein Objekt, ein Besitzstück. Der prozessuale Charakter einer Demokratie wird völlig übersehen, der es nötig macht, Bürgerrechte immer aufs Neue zu erkämpfen, bzw. zu verteidigen.

Nach dem Aufruf zur Terrorismusbekämpfung der G7 folgte nun kürzlich ein Statement der EU. Ende September trafen sich die Telekommunikationsminister der EU-Staaten und Elio Di Rupo, Minister Belgiens, verkündete, daß sein Land mit gutem Beispiel vorangehen werde, indem es neue Verordnungen für Internet Access Provider einführt, in denen sie gezwungen werden, die Inhalte, die sie anbieten, auf verbotenes Material hin zu sichten. Provider, welche sich dieser Maßnahme nicht anschließen, sollten von den Telekom-Gesellschaften erst gar keine Leitungen bekommen. Darüber hinaus beklagte er das legale Vakuum und daß die technische Evolution der Gesetzgebung vorauseile.

Ist es nun paranoid zu vermuten, daß all diese aufkommenden staatlichen Anstrengungen nicht wirklich die Angst um die Kinder und vor dem Terrorismus zur alleinigen Ursache haben? Könnte es nicht vielmehr sein, daß nicht nur bekanntermaßen totalitäre Regimes wie Singapur oder China Angst vor der totalen Informationsfreiheit haben, welche das Internet verspricht? Denn die globale Wirtschaftsentwicklung geht ohnehin in eine Richtung, die den staatlichen Gewalten immer weniger Kontrollmöglichkeiten erlaubt. Das Internet verstärkt diesen Trend. So wird es für Übel, die es in der Welt bisher auch schon gab, nämlich Pornographie und Terrorismus, pauschal und vorneweg schuldig gesprochen. Hilflose Politiker finden wohl derzeit einen höchst willkommenen Prügelknaben im Internet.

Und wie immer könnten auch wirtschaftliche Interessen eine Hauptrolle spielen, warum sich die Staaten plötzlich so fürs Internet interessieren. Mehr als unter spektakulären Terrorakten leiden die Staaten doch eigentlich unter Steuerflucht und Geldwäsche. Da das Netz am Sprung zum Massenmedium ist, wird es wirtschaftlich interessant. Man versucht es, wenn auch vorerst vergebens, unter Kontrolle zu bringen, damit das Internet-Shopping der Zukunft reibungslos vonstatten gehen kann.

Unterdessen droht bereits der nächste technische Evolutionsschritt, das Cybermoney. Je nachdem, welche Technik sich durchsetzt, könnte es durchaus möglich sein, daß auch anonymes Cybergeld zur Anwendung kommt. Dann könnte sich das Wirtschaftsleben wirklich radikal globalisieren, die Staaten müssen um ihr Privileg, Geld zu drucken und Steuern zu erheben, kämpfen.

"Interessante Zeiten" werden das noch, aber sicherlich nicht nur im Internet. Wer eigentlich bloß ein paar Emails mit Freunden austauschen will und ein wenig schnaken am Bulletin Board, benutze wohl besser ein Mailbox-System wie z.B. Fidonet, das dank des Internet-Boom weniger im zentrum steht und so eine wesentlich streßfreiere Zone ist.

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