"Meine Feinde verteidigen"

Hassrede gegen Meinungsfreiheit

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"Der einzige Weg, eine freie Gesellschaft gegen ihre Feinde zu verteidigen liegt darin, meine Feinde zu verteidigen". Der Satz stammt vom langjährigen Vorsitzenden der American Civil Liberties Union (ACLU), Aryeh Neier1, der mit diesen Worten begründete, weshalb er - ein Jude, der als Kind vor den Nationalsozialisten fliehen musste - ausgerechnet das Recht amerikanischer Nazis verteidigte, in Skokie, einem von vielen Juden bewohnten Stadtteil Chicagos, zu demonstrieren. Für Neier war klar: Die Gefahr für die Demokratie, die von der Unterdrückung freier Meinungsäußerung durch staatliche Stellen ausgeht, ist vielfach höher, als die Gefahr durch "freiheitsfeindliche" Diskussionsbeiträge.

In der deutschsprachigen Debatte um Hassreden und Beleidigungen im Netz sucht man solche Stimmen derzeit noch vergebens. Angesichts rassistischer Hetze, zunehmenden Gewalt gegen Flüchtlinge, aber auch gewalttätiger Konfrontationen von Extremisten unterschiedlicher Lager - man denke nur an die "Hooligans gegen Salafisten" oder die Gaza-Demos im vergangenen Jahr - scheint sich ein breiter gesellschaftlicher Konsens für mehr Zensur und Verbote zu bilden.

Das Thema ist zum Dauerbrenner geworden: Eine zunehmend unübersichtlich werdende Menge an Veranstaltungen und Fachliteratur widmet sich ebenfalls dem Thema: Unter anderem verfasste zum Beispiel die Amadeu Antonio Stiftung (AAS) 2015 unter dem Titel "Geh Sterben!" eine Broschüre zum "Umgang mit Hate Speech im Internet".2 Im deutschen Sprachraum erschien zuletzt im April 2016 das vielbeachtete Buch "Hass im Netz" der österreichischen Journalistin Ingrid Brodnig.3

Auf politischer Ebene hatte Justizminister Heiko Maas bereits im vergangenen Jahr eine Task Force zum Thema Hate Speech ins Leben gerufen und sich mit Plattformbetreibern auf einen Kriterienkatalog verständigt. Nun legt der Justizminister nach und wirft Facebook & Co. in einem Brief vor, "das Ergebnis Ihrer Anstrengungen bleibt hinter dem zurück, was wir in der Task Force gemeinsam verabredet haben" und droht mit EU-weiten Regulierungen. Zugleich kam es vor wenigen zu ersten bundesweiten Hausdurchsuchungen wegen "Hassverbrechen im Internet".

Dabei wäre auch hierzulande eine kritische Debatte über die Gefahren neuer Gesetze dringend geboten, wie sie im englischsprachigen Ausland längst geführt wird: Als die Europäische Kommission vor einigen Wochen einen freiwilligen Verhaltenskodex zum Umgang mit Hasskommentaren im Internet veröffentlichte, zogen sich maßgebliche NGOs wie Access Now und EDRi umgehend aus den Gesprächen mit der EU-Kommission zurück: indem sich Facebook, Twitter, Microsoft, und Youtube zum Löschen bestimmter Inhalte nach Maßgabe "ihrer Regeln und Richtlinien und wo nötig auch Nationaler Gesetze"4 verpflichteten, werde die "Privatisierung von Menschenrechten im Netz" betrieben, so die NGOs. Dies widerspräche der Grundrechtscharta der EU, die im Artikel 52 jede Art von Eingriffen in die Meinungsfreiheit ausdrücklich unter Gesetzesvorbehalt stellt.5

Auch der UN-Sonderberichterstatter zur Meinungsfreiheit, David Kaye, drückt in seinem diesjährigen Bericht seine "Besorgnis wegen der zunehmenden Verbreitung vager Gesetze [aus], die mit weit gefassten Verstößen auf Onlineinhalte zielen, und den Autoritäten unbegrenzte Möglichkeiten einräumen, jedweden Inhalt zu kriminalisieren, den sie für verwerflich halten".6

Als Stimme aus dem kulturellen Bereich widmet der Historiker Timothy Garton Ash7 in seiner vor wenigen Wochen veröffentlichten rund 500 Seiten starken Monographie "Free Speech" ein ganzes Kapitel den Versuchen, Hassrede per Gesetz einzudämmen. Ash argumentiert, es habe sich gezeigt, dass die Anwendung solcher Gesetze in der Praxis "unberechenbar und oft unverhältnismäßig war. … Genau jenes Gleichheitsprinzip - insbesondere der Anspruch auf gleiche Behandlung durch den Staat - mit dem solcher Gesetze gerechtfertig werden, wird durch ihre willkürliche Anwendung untergraben."8