Pakistan: Erneuter Anschlag auf die Toleranz

Sufis auf der Pilgerwanderung zum Schrein von Billawal Shah Noorani.Foto: Gilbert Kolonko

Trotz Verlautbarungen der pakistanischen Armee, dass man die Terroristen im Land nach Afghanistan vertrieben hat, gehen in Pakistan weiterhin die Bomben hoch

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Am Samstag wurden wieder 52 Frauen, Männer und Kinder Opfer eines Terroranschlags. Am Sonntagmorgen gaben die pakistanischen Verantwortlichen dann die üblichen Kondolenzphrasen von sich - dazu den hundertfach gehörten Satz, alles in der Macht Stehende zu tun, um den Terror zu besiegen.

Im Sufi-Schrein von Billawal Shah Noorani, nahe der Ortschaft Muhabat Faqeer in Belutschistan, versuchte man, seine Pilgergäste selber zu schützen. Bei einem meiner Besuche im Schrein von Noorani fragte ich einen Teeverkäufer vor dem Eingang, was der Geselle gegenüber mit der Kalaschnikow vorhat. Darauf holte der Alte eine automatische Handfeuerwaffe aus der Schublade und sagte: "Hier verlassen wir uns nicht auf die Regierung, hier passen wir selber auf."

Am Samstagabend half auch das nichts mehr: Während des sufistischen Dharma-Rituals ging auf dem Gelände eine Bombe hoch. Neben den 52 Toten wurden mehr als 100 weitere Menschen schwer verletzt. Das nächste größere Krankenhaus liegt im 130 Kilometer entfernten in Karatschi.

In Pakistan gibt es über 30.000 Sufi-Schreine. Foto: Gilbert Kolonko

Der eher unscheinbare Schrein von Shah Noorani ist für Sufis aus aller Welt ein besonderer Ort - er ist das Ziel der alljährlichen Pilgerwanderung Lahoot. Sie beginnt 150 km östlich von hier, am Schrein des roten Sufis Shahbaz Qalandar, und führt überwiegend durch die Steinwüste. Nicht nur Schiiten, sondern auch sunnitische Muslime, Christen und Hindus tun sich die Strapazen an, die durch den ständigen Gebrauch der Haschischpfeife gelindert werden. Viele pakistanische Muslime sind Anhänger des Sufismus, einer asketischen und mystischen Glaubensform; die Nächstenliebe und die Nähe zu Gott stehen an erster Stelle. Welcher der verschiedenen Sufi-Philosophien sie auch nachstreben mögen: Alle sind sie für die Taliban und ihresgleichen Ungläubige, da sie in den Augen der Radikalen Götzen anbeten.

Wie konnte es trotz einer festen Verankerung des Sufismus in der pakistanischen Gesellschaft zu einer Radikalisierung im Land kommen? "Alles begann 1977 mit dem Putsch von General Zia ul-Haq und dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan", antwortet Ali, ein Finanzberater aus Karatschi, der sich auch für soziale Projekte engagiert:

"Zia nutzte die Unterstützung der USA, Pakistan in einen wahabitisch geprägten Staat umzuformen (der Wahabismus ist eine ultraorthodoxe Form des Islam, die aus Saudi-Arabien stammt). Die USA interessierte einzig der Nachschub von Fanatikern für ihren Kampf gegen die Sowjets in Afghanistan. Bis heute sind die von Zia umgeschrieben Schulbücher in unserem Land in Gebrauch. Sie preisen den Dschihad und den Islam als einzige Weltlegion."

Als ich darauf antworte, dass auf den Straßen Pakistans immer noch der tolerante Islam vorherrscht, antworte Ali:

Noch sind es die Familienoberhäupter, die den Jüngeren, den toleranten Islam weiterreichen. Aber in Karatschi ist der Wandel klar auszumachen. In den letzten Jahren bin ich bis zu 5 Mal im Jahr überfallen worden. Immer waren es junge Männer, die selbst meiner Frau und den Kindern gegenüber jeden Respekt vermissen ließen. Selbst für Kriminelle in Pakistan gab es Tabus und Regeln. Doch diese Jungen sind selbst Opfer: Losgerissen von ihren Familien, den Kopf voll mit Unsinn aus den Koranschulen oder den Schulbücher, der ihnen hilft, jede Tat zu rechtfertigen: So wie es auch die pakistanischen Taliban tun – im Zweifel war der andere ein Ungläubiger. Unsere Verantwortlichen müssen endlich Grundsätzliches ändern - mehr Soldaten werden nicht helfen.

(Ali, ein Finanzberater aus Karatschi)

Doch dieses Umdenken ist nicht in Sicht. Weder ein großangelegtes Programm zur Erneuerung der Schulbücher noch besondere Anstrengungen des Staates, in Bildung zu investieren. Warum auch? Weder die feudale Bhutto-Familie, die bisher drei Ministerpräsidenten des Landes stellte, hat ein Interesse an gebildeten Untertanen noch die feudale Großindustriellenfamilie Sharif, die den aktuellen Ministerpräsidenten stellt: Ein Heer von Billigarbeitern ist das Ziel - denn dank des Hungers des Westens nach Kostenminimierung, steht einem kleinen Teil der Bevölkerung Pakistans eine blendende Zukunft in Aussicht.

Täglich fahren auch Busse von Karatschi zum Schrein nach Noorani. Foto: Gilbert Kolonko

Der pakistanischen Armee ebenfalls. Schon jetzt ist sie nicht nur größter Arbeitgeber des Landes, sondern auch der größte Grundstücksbesitzer. Mehr als 100.000 Geheimdienstler Pakistans, in Dutzenden von verschieden Organisationen, die sich gegenseitig nicht trauen, werden aus ihrem Selbsterhaltungstrieb heraus dafür sorgen, dass sich nichts daran ändert. Alle großen westlichen Geheimdienste in Pakistan leisten mit eigenen Aktionen "wertvolle" Beiträge dazu; der Fall Raymond Davis, der auf offener Straße in Lahore zwei Menschen erschoss, ist nur ein Beispiel.

Wie sagte ein "Gentleman" aus dem Agenten-Heer in Pakistan zu mir? "Wir sind nur noch Zombies, die sich gegenseitig jagen, und am Ende des Tages ist die Welt bestimmt nicht besser geworden."

Der nächste große Anschlag in Pakistan der wieder ein Stück Toleranz wegbombt, ist nur eine Frage der Zeit.

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