Gestern Europa und morgen die ganze Welt?

US-Präsident Barack Obama mit Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Abschiedsbesuch. Bild: Weißes Haus

Die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten verführt Deutschlands Funktionseliten dazu, globale Führungsansprüche anzumelden

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It's a dirty job but someone's gotta do it. Wenn es um die Führung der "freien Welt" geht, dann tut man in Deutschlands Redaktionsstuben gerne so, als ob man sich widerwillig höheren Sachzwängen beugen müsste.

Angela Merkel werde nach dem Wahlsieg Donald Trumps praktisch genötigt, als "Anführerin" des Westens zu agieren, jammerte Die Zeit auf ihrer Internetpräsenz. Die New York Times (NYT) habe Merkel als die "letzte Verteidigerin des liberalen Westens" bezeichnet. Merkel müsse den Westen führen, hieße es in vielen Kommentaren "dies- und jenseits des Atlantiks", wobei es eher darum gehen müsste, denn Westen zu "retten".

Ganz ähnlich betitelte Spiegel-Online den Abschiedsbesuch des scheidenden US-Präsidenten bei Angela Merkel, der als ein Treffen der "Verteidiger der freien Welt" bezeichnet wurde. Die noch etwas unbeholfene, an eine Realsatire grenzende Übernahme der hohlen Floskeln, mit denen die USA jahrzehntelang ihre blutigen Interventionskriege legitimierten, deutet auf die ideologische Intention solcher Hofberichterstattung. Die Visite Obamas in Berlin soll als eine Art Wachübergabe inszeniert werden. Die abgetakelte Hegemonialmacht USA übergibt die Rolle des westlichen Weltpolizisten ausgerechnet an die Bundesrepublik.

In den USA hat - neben der NYT - die Zeitschrift Foreign Policy Merkel explizit zur Schutzpatronin der "Normen, Werte und Institutionen der atlantischen Allianz" ausgerufen, wobei das im Vorfeld der US-Außenpolitik publizierende Fachblatt gar das Zeitalter einer "Pax Germanica" heraufziehen sieht. Auch deutsche Publizisten, die eng mit Vorfeldorganisationen deutscher Außenpolitik verbunden sind, dürfen für eine künftige globale Führungsrolle Deutschlands in meinungsbildenden US-Medien kräftig die Werbetrommel rühren.

Das absteigende Amerika und das aufstrebende Deutschland: zwei Mächte, die gemeinsam die "westlichen Werte" in stürmischen Zeiten verteidigen werden. An diesem vor allem von atlantisch orientierten Zusammenhängen innerhalb der deutschen Funktionseliten propagierten Bild, das die Bundesrepublik als künftigen Bannerträger von "Freedom and Democracy" imaginiert, stimmt selbstverständlich kaum etwas. Es sind letzte Appelle zur Aufrechterhaltung der Westbildung der Bundesrepublik, die kein machtpolitisches Gewicht mehr haben werden. Die Juniorpartnerschaft der Bundesrepublik wurde schon längst reell auf der wirtschaftlichen und geopolitischen Ebene aufgekündigt. Nun erfolgt die formelle Scheidung - gerade durch die Bundesregierung.

Berlin in Konfrontation zu Washington

Jenseits der für die Öffentlichkeit bestimmten Floskeln wurde dies gerade bei der Abschiedsvisite des US-Präsidenten in Berlin überdeutlich. Während Obama und Merkel sich wechselseitig öffentlich als Verteidiger westlicher Werte lobten, wurden bei der harten Interessenpolitik wiederum die zunehmenden Differenzen zwischen Berlin und Washington deutlich. Dies gilt vor allem für die Krisenpolitik in der Eurozone, die Berlin in Konfrontation mit Washington formte.

Vor seiner Visite in Berlin hatte Obama in Athen Station gemacht, um einen umfassenden Schuldenerlass für das geschundene Mittelmeerland zu fordern, das durch den Sparkurs von Schäuble in den sozioökonomischen Kollaps geführt wurde. Selbstverständlich ging Merkel auf diese Forderungen Obamas - die auch die Konflikte zwischen Berlin und Washington in der Eurokrise spiegeln - öffentlich nicht mal mehr ein. Berlin agiert in Europa bereits seit Ausbruch der Eurokrise in Konfrontation zu Washington.

Genauso konnte Berlin ein zentrales geopolitisches Unterfangen der USA umschiffen, mit denen die Obama-Administration die schwindende Hegemonie der Vereinigten Staaten retten wollte. Es ist der Bundesregierung gelungen, die feste Einbindung der deutsch dominierten EU in das Transatlantische Handelsabkommen TTIP zu umschiffen. Mittels dieses wirtschafts- und geopolitischen Bündnissystems, das auch eine Pazifische Freihandelszone umfassen sollte (Containment oder Eskalation), wollte Washington Westeuropa und Ostasien fest in seiner geopolitischen Einflusssphäre verankern.

Dies ist nun Geschichte, wie Merkel bei dem Treffen mit Obama klarmachte. Die Kanzlerin schreibe das umstrittene Freihandelsabkommen "bis auf weiteres ab", bemerkte der Focus. Die Verhandlungen können zwar nicht beendet werden, man wolle aber "daran festhalten" und "eines Tages darauf auch zurückkommen".

Merkel meint damit den Sankt-Nimmerleins-Tag. Während die Kanzlerin noch Nettigkeiten mit Obama austauscht, spricht die zweite Reihe des deutschen Politestablishments bereits Klartext. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen sprach sich explizit dafür aus, sich von den USA zu "emanzipieren". Man könne seine Stärke nicht mehr von den USA "ableiten" und müsse eigene militärische Interventionsstreitkräfte aufbauen: "Wenn Europa auf dem Feld der Sicherheits- und Verteidigungspolitik relevant sein will, muss es sich besser organisieren und militärisch enger verzahnen".