Bußgelder für ungehorsame Bürger

Demo gegen TTIP und CETA beim Obama-Besuch im April 2016. Bild: Bernd Schwabe/CC BY-SA-4.0

Mit der Neuregelung des Polizeigesetzes in Niedersachsen soll das Nichtbefolgen einer Polizeimaßnahme wie einer Platzverweisung mit Bußgeldern abgestraft werden

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Die rot-grüne Landesregierung in Niedersachsen war angetreten, die Bürgerrechte zu stärken, was naturgemäß bedeutet, das Eingriffsinstrumentarium der Polizei wirksam zu begrenzen, Ermächtigungen enger zu fassen und eine stärkere Kontrolle ihres Handelns durch Parlament und Gerichte zu eröffnen.

Nun zeigt schon der in den Landtag eingebrachte Gesetzentwurf, dass Rot-Grün als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet ist - und offenbar ist das Ende der Fahnenstange in Sachen weiterer Verschärfung des Polizeirechts im laufenden Gesetzgebungsverfahren noch längst nicht erreicht, wie der Verzicht auf grundlegende politische Positionen wie die Kennzeichnung von Polizisten oder der Verzicht auf die Abschaffung struktureller Diskriminierung durch eine Beschränkung der gesetzlichen Optionen für ihre Kontrollpraxis und eine mögliche Ausweitung ihrer Bewaffnung (Taser) nun zeigen.

Doch damit nicht genug, denn das neue Polizeirecht, das eigentlich die Befugnisse der Polizei regeln und im Sinne eines wirksamen Grundrechtsschutzes für Bürger einhegen soll, wird im Vorbeigehen auch gleich noch zum Tatbestandsrecht umgebaut. Obgleich Polizisten zum Beispiel mit der Befugnis zum Platzverweis von Betroffenen eine bestimmte Handlung oder Unterlassung verlangen, richtete das Polizeirecht bislang keine Forderung an solchermaßen polizierte Bürger.

Wer einen Platzverweis nicht befolgt, muss mit Zwangsmitteln rechnen oder sogar eine Freiheitsentziehung gewärtigen, aber er oder sie verwirklichte nach der bisherigen Gesetzessystematik darüber hinaus keinen Tatbestand. Mit der Neuregelung des Gesetzes soll das künftig anders sein. Nun will das Gesetz die nachträgliche Ahndung des Nichtbefolgens einer Polizeimaßnahme einführen, so dass die Polizei ungehorsame Bürger zusätzlich mit Bußgeldern abstrafen darf - und das gleich als Verfolgungs- und Ahndungsbehörde in Personalunion.

Das ist mit Blick auf die Historie der Kriminalisierung von zivilem Ungehorsam in Kombination mit der Geschichte der Grünen in Niedersachsen und den Anti-Atom-Protesten im Wendland eine geradezu haarsträubende Entwicklung, wobei sich, was kein Trost ist, der wohl nur noch als Ausverkauf politischer Überzeugungen zu bezeichnende Wandel in den Positionen offenbar recht nahtlos zu den Initiativen der rot-grünen Landesregierung zur Verschärfung des hiesigen Versammlungsrechts gesellt.

Kriminalisierung des zivilen Ungehorsams

Was hier auf kritische Bürger zukommt, macht ein Rückblick auf die Geschichte des Widerstands gegen die Castor-Transporte im Wendland deutlich. Vom Ergebnis her ist bekanntermaßen auch der letzten eisernen Befürworterin der Kernkraft (unserer Bundeskanzlerin) nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima klar geworden, dass der Größte Anzunehmende Unfall eben nicht ein Ereignis darstellt, dass, anders als im Betrieb schlampiger Ostblocktechnik (Tschernobyl), bei Anwendung verlässlicher westlicher Sicherheitsstandards praktisch ausgeschlossen werden kann.

Es soll hier auch nicht weiter vertieft werden, dass der bundesdeutsche Ausstieg vom Ausstieg vor Fukushima und der Wiedereinstieg in den Ausstieg danach ein besonders schönes Beispiel für den Spagat abgegeben hat, zu dem Politik im anstandslosen Umschwenken von Klientelpolitik auf politisches Überleben fähig sein kann. Wichtig ist für das hier behandelte Thema vielmehr der Umstand, dass der breite gesellschaftliche Konsens und der finale politische Tod der Kernkraft in Deutschland ohne die Proteste im Wendland und die große Bereitschaft von Bürgern zum zivilen Ungehorsam wohl schwerlich vorstellbar ist. Doch was den einen wichtiges Funktionselement politischer Teilhabe und notwendig mutiges Vorgehen zum Bewirken von Veränderungen, ist der Polizei nicht nur im historischen Kontext der Castor-Transporte immer wieder ein Dorn im Auge, dem sie gern auch mit dem Mittel der Kriminalisierung (dem Abstrafen) ihres Gegenübers zu begegnen sucht.

Den Castor-Protest kennzeichneten bekanntlich vor allem die Blockaden in Form der Aktion "X-tausendmal-quer". Letztlich waren das aber immer symbolische Blockadeaktionen im Sinne politischer Teilhabe und Überzeugungskraft, denn bekanntermaßen wurden die Transportstrecken immer wieder durch Polizisten frei geräumt und die Blockierer weggetragen, so dass die Castoren am Ende ihr Ziel doch immer erreichten. Und obgleich diese Protestform immer friedlich und gewaltfrei als Form des zivilen Ungehorsams angelegt war, währte es nicht lange, dass sich die Protestierer dem vielfachen Vorwurf der Gewaltanwendung ausgesetzt sahen und der Protest auf diesem Wege von Polizei und Innenpolitik zielgerichtet kriminalisiert und diskreditiert wurde (was u.a. Rebecca Harms anlässlich des Jubiläums 30 Jahre Widerstand im Wendland schon ausgeführt hat).

Geändert hatte sich hier nicht etwa die Form oder der friedliche Anspruch im Protest, geändert hatte sich vielmehr der von der Polizei angelegte Gewaltbegriff gegenüber dieser Form zivilen Ungehorsams (wobei die Polizei bekanntermaßen auf sich bezogen ohnehin ein schwieriges, weil ausufernd angelegtes Verhältnis zum Gewaltbegriff hat).

"Entmaterialisierung" des Gewaltbegriffs

Unter dem Stichwort "Entmaterialisierung" des Gewaltbegriffs sollte es nun nicht mehr auf eine physische Gewaltausübung ankommen. Vielmehr sollte bereits eine psychische Zwangswirkung auf die freie Willensbestimmung beim Gegenüber eine Gewaltausübung darstellen und somit den Tatbestand der Nötigung erfüllen. In der Praxis stellte sich das dann so dar, dass friedlich auf der Straße sitzende Blockierer, die einem wichtigen politischen Anliegen auch durch die Wahl dieser Protestform Ausdruck zu verleihen suchten, dem Fahrer eines Castor-Transports Gewalt antaten, weil sie ihn an der von ihm beabsichtigten Weiterfahrt vorübergehend hinderten.

Dieser in ihrer praktischen Ausgestaltung leicht als geradezu hanebüchen auszumachenden Ausdehnung des Gewaltbegriffs folgten Justiz und Rechtsprechung in unserem Land immerhin so lange, bis (getragen von immer breiteren Protesten und abweichenden Fachmeinungen von Juristen) in einer höchstrichterlichen Entscheidung dieser Form der "Entmaterialisierung" des Gewaltbegriffs eine klare Absage erteilt wurde.

Was nun den kreativen Formen von Protest den notwendigen Raum zurück gab, hat die Polizei sogleich als Mangel an Handlungsmöglichkeiten erlebt - hatte sie es doch über viele Jahre als Erfolg für sich verbucht, Demonstranten über die Drohung mit Strafverfolgung vor allzu nachhaltiger oder gar massenhafter Blockade von Fahrtstrecken oder Zufahrten (alternativ auch der Blockade von rechten Aufmärschen u.a.m.) abhalten zu können. Jetzt war sozusagen wieder Wegtragen ohne Nachkarten in Form der Beanzeigung eines vermeintlichen Fehlverhaltens angesagt.

In solchen Verlustsituationen reagiert die Polizei in ihrer politischen Lobbyarbeit wie der Amputierte, der seinen nicht mehr vorhandenen (verlängerten) Arm des Gesetzes bei Schlechtwetter immer noch schmerzlich spürt. Ähnlich schwere Enttäuschung der Polizei hat letztlich auch die krude Argumentation in der Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung bestimmt - und dass die Polizei hier immer wieder erfolgreich ist, zeigt sich im Ergebnis.

Was die Polizei "verloren" zu haben glaubt, will sie immer schon wieder haben, und wo über höchstrichterliche Entscheidung zum Gewaltbegriff der Weg über das Strafrecht verstellt ist, lässt sich eine Möglichkeit des Abstrafens ja immer noch über Bußgelder eröffnen. Und da macht es natürlich Sinn, diese Bußgelder möglichst eng und ganz unmittelbar an das Nichtbefolgen einer polizeilichen Weisung zu koppeln.

An dieser Stelle bin ich mit meinem kleinen historischen Rückblick dann auch schon wieder im Hier und Jetzt und beim aktuellen Gesetzentwurf der Rot-grünen Landesregierung zur, sagen wir es doch so deutlich wie es ist, weiteren Verschärfung des niedersächsischen Polizeigesetzes.

Da war also, um noch einmal einen Blick in die Historie zu werfen, eine erste rot-grüne Landesregierung in Niedersachsen schon vor mehr als zwanzig Jahren zum ersten Mal angetreten, über die Novellierung eines aus der CDU-Ära stammenden Polizeigesetzes eine betont grundrechtsorientierte und bürgerfreundlich arbeitende Polizei zu entwickeln, konnte aber dem Grundsatz einer im Ergebnis "offen, transparent, berechen- und kontrollierbar gestalteten Polizeiarbeit im Gesetz nicht hinreichend Rechnung tragen" (so Rolf Gössner, der für die Grünen seinerzeit an der Neugestaltung mitgewirkt hatte, im Februar 1993 zum letztlichen Ergebnis der Novellierung des Niedersächsischen Polizeigesetzes).

Dann hatte eine CDU geführte Landesregierung dieses Polizeirecht deutlich weiter verschärft, um diverse verdeckte und proaktive Möglichkeiten der Datenerhebung erweitert und mit dem Ordnungsbegriff gleich auch noch den Bezugsrahmen polizeilicher Gefahrenabwehr ausgedehnt und nun kommt es entgegen dem erklärten politischen Willen der heutigen rot-grünen Landesregierung zu neuen Verschärfungen. Durchgängiger kann man wohl im Stärken von Bürgerrechten nicht scheitern.

Bußgelder gegen Proteste

Aber zurück zur Einführung der Bußgeldtatbestände: In einem ersten Schritt (Referentenentwurf des Innenministeriums) sollte es der Platzverweis der Polizei sein, der bei Nichtbefolgen nicht mehr nur durch Wegtragen bis hin zur Ingewahrsamnahme durchgesetzt werden kann. Künftig soll die Polizei kreativen Protestformen wie Sitzblockaden auch unter generalpräventiven Aspekten wieder einen Riegel vorschieben dürfen, indem sie im Nachgang Bußgelder für das Nichtbefolgen ihres Platzverweises verhängt und damit über den Weg an den Geldbeutel bis hin zur Ersatzhaft dem Protest möglichst nachhaltig das Wasser abgräbt.

Das ist natürlich zuerst für die betreffenden Protestformen und einen immer wieder offensichtlich notwendigen zivilen Ungehorsam ein schlechtes Zeichen. Es ist aber auch ein schlechtes Zeichen für die Art und Weise, wie die Polizei als Organisation tickt. Tatsächlich finden wir immer mehr eine Polizei vor, die sich in proklamierten Leitbildern gern als "Bürgerpolizei" versteht, aber in der Praxis allenthalben über "Respektlosigkeit" klagt, nur weil emanzipierte Bürger den Autoritätsanspruch von Polizisten kritisch hinterfragen. Ihr ständiges Klagen über angeblich zunehmende Gewalt gegen Polizisten und eine ständig behauptete Überforderung, obgleich sich die Polizei mit ihrem Alarmismus die Lagen, die sie dann mit immer größeren Kräfteansätzen meint bewältigen zu müssen, zu guten Teilen selbst konstruiert, ist doch nur noch so zu werten, dass die Bürger unserer Polizei zu großen Teilen nicht mehr zuzumuten sind.

Da wundert es nicht, dass die Initiative zur Umgestaltung des Polizeirechts in ein Tatbestandsrecht zum Abstrafen von Bürgern hier ganz eindeutig aus der Polizeiadministration kommt. Es muss uns aber bedenklich stimmen, wenn die Polizei aus Gründen von Arbeitserleichterung oder um gegenüber kreativen Protestformen "besser" auszusehen, in dieser Weise Einfluss auf die Protestkultur nimmt. Und auch hier ist das Ende der Fahnenstange noch längst nicht erreicht, denn Verstöße gegen Meldeauflagen der Polizei sollen schon nach dem bestehenden Entwurf des neuen Polizeigesetzes ebenso bußgeldbewährt sein - und denkbar sind in der Zukunft natürlich auch Bußgelder für jede andere Form denkbare Form des Nichtbefolgens polizeilicher Weisungen. So dürfen sich Bürger im Ergebnis rot-grüner Politik in Niedersachsen einmal mehr nicht in ihren Rechten gestärkt sehen, sondern sollten sich vielmehr im Kontakt mit der Polizei in Zukunft mal besser besonders warm anziehen.

Der Verfasser des Beitrags ist Polizeibeamter in Niedersachsen.