Lots Leute

Tilo Beckers über den Islam und die Homosexualität

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Tilo Beckers ist Akademischer Rat für Soziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Als Ergänzung zu seiner Dissertation (die im Herbst 2012 als aktualisierte Fassung im Lit-Verlag erscheint) beschäftigte er sich mit dem Thema Islam und Homosexualität. Seine Ergebnisse dazu fasste er in einem Aufsatz zusammen.1

Herr Dr. Beckers - welches ist das derzeit schwulenfeindlichste Land der Erde? Und welches das toleranteste?

Tilo Beckers: Folgt man den Daten des World Values Survey 2005-2007, so sind unter den dort erfassten und von mir ausgewerteten 43 Ländern Jordanien und Indonesien diejenigen Länder, deren Bevölkerungen Homosexualität durchschnittlich am stärksten ablehnen mit Mittelwerten unter 1,5 auf einer Skala, die von 1 (starke Ablehnung) bis 10 (starke Toleranz) reicht. Auch im Iran, Äthiopien und Ruanda ist die Ablehnung sehr stark (ca. 1,5). Das toleranteste Land war Schweden (8,3) noch vor der Schweiz und den Niederlanden (>7). Deutschland liegt etwa bei 6,5. Neuere Daten aus dem letzten und diesem Jahr sind noch nicht veröffentlicht worden.

Wie wurden die Einstellungen genau ermittelt?

Tilo Beckers: Der World Values Survey wird von einem internationalen Konsortium von Sozialforschern koordiniert und in den jeweiligen Ländern von Partnern an Universitäten zusammen mit Meinungsforschungsinstituten als bevölkerungsrepräsentative Befragung durchgeführt. Den Befragten werden in einer Mehrthemenbefragung auch Fragen zu moralisch umstrittenen Sachverhalten vorgelegt, darunter "Homosexualität". Dann werden die Befragten aufgefordert, auf eine Skala von 1 bis 10 anzugeben, ob Sie finden, dass man den Sachverhalt (moralisch) nie oder immer "rechtfertigen" kann oder etwas dazwischen. Es handelt sich also um eine kurze Abfrage, die nicht ins Detail geht, wie das bei solchen sozialwissenschaftlichen Meinungsumfragen mit vielen Themen oft üblich ist.

Zu berücksichtigen ist jedoch, dass repräsentative Befragungen keine endgültige Antwort auf die Frage nach den tatsächlichen sozialen Verhältnissen vor Ort sind. So spielt ja auch die Rechtslage eine Rolle, also etwa die Todesstrafe, wie sie für einige Länder immer noch von der ILGA, der International Gay and Lesbian Association, dokumentiert wird.

Und welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen?

Tilo Beckers: Akzeptiert man die Ergebnisse als Indikator für reale tatsächliche Einstellungen der Menschen, und stellt etwa eine Rangordnung der Länder nach Akzeptanzwerten auf, so erkennt man, dass das arithmetische Mittel der Zustimmung in Ländern mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit am niedrigsten ist. Das galt sowohl 1999-2003 als auch 2005-2007.

Aber auch christlich-orthodoxe und die durch ostasiatische Religionen geprägten Staaten weisen sehr niedrige Akzeptanzwerte aus (<3). Dies wirft gerade seit der Betonung der Religionen im Diskurs um einen "Kampf" (beziehungsweise besser Zusammenprall) der Kulturen natürlich Fragen auf.

Für mich war dabei zentral, nicht allein die Religion als Einflussfaktor zu prüfen, sondern von einer allgemeinen Theorie gesellschaftlicher Entwicklung, der Theorie der Humanentwicklung2 auszugehen, die die Bedeutung des sozioökonomischen Entwicklungsstands und der Demokratienentwicklung als zentrale Einflussfaktoren berücksichtigt. Dann ergibt sich ein anderes, differenziertes Bild, das zeigt, dass die Religion, zum Beispiel der Islam, nur bei Nichtkontrolle dieser Einflussfaktoren am ablehnendsten dasteht.

Tatsächlich erweist sich der Einfluss der wirtschaftlichen Entwicklung, aber auch der Lebenserwartung und Bildung nach Angaben der Vereinten Nationen sowie das Niveau "gelebter" responsiver Demokratie in statistischen Kontextanalysen als wichtiger. Zudem, und dies ist von nicht minder großer Brisanz, begünstigt auch eine starke Geschlechtergleichstellung in einer Gesellschaft und auch in der Wirtschaft die Akzeptanz der Homosexualität beziehungsweise gleichgeschlechtlicher Sexualkontakte durch die Bürger eines Landes.

Wie wird Homosexualität in reichen islamischen Ländern wie Saudi-Arabien, Kuwait oder den Vereinigten Arabischen Emiraten gesehen?

Tilo Beckers: Leider sind diese Staaten in der Länderauswahl, die der World Values Survey umfasst, nicht vertreten. Daher kann man über die Akzeptanzwerte in diesen Ländern keine ebenbürtigen Aussagen treffen. Allerdings möchte ich betonen, dass das statistische Analyseverfahren (also die Mehrebenenanalyse) gerade diesen möglichen Bewertungsnachteil für muslimisch geprägte Staaten berücksichtigt.

Sollte allerdings die Akzeptanz in diesen Ländern ebenfalls sehr niedrig sein, was nicht unwahrscheinlich ist, so spielen hierbei vermutlich die fehlende Geschlechtergleichstellung, das niedrige Demokratieniveau als auch eine starke soziale Ungleichheit in der Verteilung des (ölbedingten) Reichtums eine erhebliche Rolle. Zweifelsohne bleibt auch ein normativer Einfluss der Religion bestehen, aber dieser Faktor ist (anders als die Mehrheit in westlichen Staaten denkt) weniger eindeutig und historisch uneinheitlicher, als zu erwarten wäre.

Gibt es Beispiele für islamische Länder, in denen sich Gesetzgebung, Geschlechtergleichstellung, Bildung und wirtschaftliche Entwicklung nachweisbar oder wahrscheinlich positiv auf die Toleranz gleichgeschlechtlicher Sexualkontakte auswirkten?

Tilo Beckers: Ganz konkret gibt es in der Türkei als bestem Beispiel für ein in ökonomischer (und eingeschränkt) demokratischer Hinsicht aufstrebendes Land seit der Jahrtausendwende Indizien für leichte Akzeptanzgewinne, allerdings auf weiter sehr niedrigem Niveau (<2). Aber bevor man nun die Theorie verwirft, sollte man verschiedene Aspekte berücksichtigen. Erstens, auch in westeuropäischen, sozioökonomischen Boomländern wie Westdeutschland wurde zum Beispiel erst 1969 der §175 in Teilen abgeschafft (endgültig sogar erst 1994). Eine Voraussetzung hierfür war ein sozialmoralischer Wandel, der etwa die Abschaffung des Kuppeleiparagrafen ebenso umfasste wie die Frauenbewegung. Demokratie und Wohlstand prägen Werte, aber häufig werde diese erst zeitversetzt auch in anderen Bereichen wie der Sexualmoral wirksam. Immerhin war die Sexualwelt der 1950er Jahre noch weitestgehend repressiv in den Denkansätzen.

Zweitens: Die soziale Ablehnung der Homosexualität ist in allen drei abrahamitischen Weltreligionen dokumentiert und in deren normativen Vorgaben identifizierbar. Am nachdrücklichsten war die soziale und auch rechtliche Verurteilung homosexueller Handlungen (als Akte wider die Natur) in historischer Perspektive aber eher im christlichen Abendland als in der muslimischen Welt. Trotz der Verbote dort wurden gleichgeschlechtliche Handlungen in stärker geschlechtergetrennten sozialen Arrangements toleriert, solange sie nicht öffentlich gemacht wurden und den Bestand der Familie und ihrer Besitztümer nicht infrage stellten, gewissermaßen ein vormodernes "don't ask, don't tell".

Und zudem handelt es sich bei der heutigen Ablehnung der Homosexualität in muslimischen Ländern implizit oftmals um genau die Ablehnung gleichgeschlechtlicher Kontakte als lebenslanges Identitäts- und Paarbeziehungsmodell, das sich nicht gänzlich verbergen lässt. Der private Bereich ebenso wie der Bereich beiläufiger homosexueller Gelegenheitskontakte existiert in diesen Ländern genauso wie überall sonst auf der Welt.

Allerdings soll das hier keine Verteidigungsrede für den Okzident mit seinem heutigen egalitären Identitäts- und Sexualkonzept oder für den Orient mit seiner etwas liberaleren Vergangenheit sein. Die rechtliche und soziale Verachtung Homosexueller in muslimischen Ländern ist eine schwer wiegende Menschenrechtsverletzung. Es geht mir allein darum, eine vereinfachende Lesart zu vermeiden und die differenzierten normativen Sichtweisen gleichgeschlechtlicher Sexualkontakte aufzudecken. Ob "wider die Natur" oder "gegen die Familie", es gab und gibt immer Gründe gegen die Homosexualität, die moralisch mehrheitsfähig sein können, wenn die Rahmenbedingungen nicht stimmen, u.a. Wohlstand und Demokratie nicht allen zugänglich sind.

Wie wird eine Ablehnung von Homosexualität in islamischen Ländern begründet? Mit Koransuren und Hadithen oder eher mit anderen Traditionen?

Tilo Beckers: Beide religiösen Quellenbegründungen sind vorfindbar und werden ebenso wie der etwa auch in den USA oder unter strengen Protestanten vorfindbare Diskurs, dass Homosexualität widernatürlich sei, auch in muslimischen Ländern von religiösen Vertretern angeführt. Die Primärquelle des Islams, der Koran, ist sehr explizit in der Verurteilung der Homosexualität. Dort wird das Thema unter Bezugnahme auf die Geschichte von Lot aus der Thora bzw. den fünf Büchern Moses’ aufgegriffen, weswegen in der islamischen Terminologie Homosexuelle "qaum Lut", die Leute Lots, oder kurz "Luti" und homosexuelle Handlungen "luttiya" beziehungsweise "liwat" genannt werden - ein Begriff, der dem lateinischen "sodomia" entspricht.

Die Geschichte von Lot beziehungsweise Sodom wird fünfmal im Koran erwähnt. Ergänzend finden sich in einigen Deutungen Verbote des Analverkehrs, der zu Verschmutzungen führt, die auch durch alle guten Taten vor Gott nicht ausgeglichen würden. Der Geschlechtsverkehr wird in den relevanten Koranpassagen höchstens angedeutet. Ähnlich wie bei der Bibelexegese ergeben sich also auch im Koran Interpretationsspielräume.

Auch die moralische Vorrangstellung der heterosexuellen Familie ist ebenso im Islam (wie in vielen Religionen) ein wichtiger Grund: Die Ehe wird nach einem berühmten Diktum des Propheten als die Hälfte der Religion angesehen. Homosexualität wird als Verletzung der Ehe und Akt wider die Natur und den Glauben in der Scharia, dem traditionellen Recht, das sich im frühen Islam unter dem Einfluss der jüdischen Halacha entwickelt hat, verurteilt, sofern eine klare Evidenz vorliegt, die sich im Wesentlichen durch die Öffentlichkeit homosexuellen Verhaltens auszeichnet.

Andererseits sieht die ganze Sache in der Praxis oft weniger schwerwiegend aus: Interpreten und Lehrer der Scharia betrachten Homosexualität zwar nicht bloß als Sünde, sondern als Verbrechen, was zur Verurteilung im islamischen Recht aber vier Augenzeugen der Tat, also auch eines homosexuellen Vergehens erfordert. Die Strafe ist zudem nicht genau spezifiziert, fällt also nicht unter die Kategorie der "hadd", sondern die der flexibler handhabbaren "ta’zir".

Die Scharia empfiehlt allerdings einem Angeklagten, die Tat zu bereuen, aber nicht zu gestehen: „Und diejenigen, die es von euch [Männern] begehen, strafet beide. Und so sie bereuen und sich bessern, so lasset ab von ihnen. Siehe, Allah ist vergebend und barmherzig“ (4,16). Allerdings ist die Deutung dieser Koranverse bezogen auf Homosexualität stark umstritten. Wegen dieser Praxis gibt es in historischen Quellen keine Belege und auch keine literarischen Indizien für Bestrafungen, Anklagen und Untersuchungen.

Einen deutlich schärferen Umgang mit der Homosexualität entwickelt der Islam erst Jahrhunderte nach dem Koran durch die Hadithen, erst später niedergeschriebene Überlieferungen über Worte und Taten des Propheten Mohammed, die allerdings nicht zweifelsfrei auf ihn zurückgehen. Einer Anzahl nachkoranischer Überlieferungen zu Folge hat Mohammed all jene verdammt, „die das tun, was das Volk Lots getan hat“ und die Tötung und Steinigung der "Lutis", also der Sodomiten gefordert.

Viele Gelehrte des Islam bezweifeln aber die Echtheit der Überlieferungen. Neben diesen religiös begründeten Bereich tritt die Welt sozialmoralischer Normenbildung im Alltag, die zum Beispiel durch die Wahrnehmung der westlichen Homosexualität als sexuell enthemmt und sehr öffentlich die Akzeptanz entsprechender Lebensweisen in muslimischen Ländern meines Erachtens nach eher erschwert, selbst wenn die Motive westlicher Schwulenbewegungen andere sein mögen.

Hatten die Befragten alle die gleiche Vorstellung davon, was Homosexualität ist? Zählten sie zum Beispiel den Vergewaltiger eines Mannes als Homosexuellen oder nicht? Und schließt die Ablehnung traditionelle kulturgebundene Formen der Homosexualität wie die pakistanischen Kujras oder die indonesischen Bissus mit ein?

Tilo Beckers: Zur Beantwortung dieser Fragen reichen die Umfragedaten nicht aus. Hier sind Anthropologen gefragt. Deren Forschung zeigt aber, dass von mir zusammengefasst verschiedene Formen, ja vielleicht sogar historisch logisch aufeinander folgende Stufen der Bewertung und sozialen Einordnung von Menschen mit gleichgeschlechtlicher sexueller Präferenz zu unterschieden sind.

Die Betrachtung der Typen gleichgeschlechtlicher Sexualität im Kulturvergleich wirft die Frage auf, ob man von „einer“ Homosexualität oder doch eher von „Homosexualitäten“ sprechen muss. Die verschiedenen Typen gleichgeschlechtlicher Sexualkontakte zeigen, dass es im anthropologischen Vergleich (erstens) altersstrukturierte wie häufig im Islam, aber auch immer noch bei uns (siehe die Skandale in Betreuungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche), (zweitens) geschlechterstrukturierte „Homosexualität“ (dafür typisch sind die Rollen des "activo" und "passivo" in Lateinamerika) sowie drittens soziale Rollen in gleichgeschlechtlichen Beziehungen in Gesellschaftsnischen gibt. Zudem bildet sich im Gefolge der (viertens) medizinisch-wissenschaftlichen Pathologisierung der Homosexualität in westlichen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts (fünftens) der Typus der, ab der Mitte des 20. Jahrhundert hervortretenden egalitären homosexuellen Beziehung heraus, die wir heute neben den anderen Typen bei uns vorfinden.

Die Ablehnung Homosexueller im Islam durch die Befragten des World Values Survey schließt nicht unbedingt die erwähnten Sonderformen (etwa Bissus in Indonesien als überwiegend männliche und meist homosexuelle Transvestiten) ein. Um die Bezüge der Bewertungen durch die Befragten genau zu erfahren, wären letztendlich narrative Interviews notwendig, die aber wegen des Aufwands und auch der Intimität des Befragungsgegenstands nicht in repräsentativer Form durchgeführt werden können.

Zudem gilt der Vergewaltiger vermutlich ebenso wenig wie der "passivo" in Südamerika als "schwul". Die anale Penetration ist schließlich gerade keine genuin und ausschließlich homosexuelle Verhaltensweise. Sie ist allen sexualwissenschaftlichen Studien in der westlichen Welt zufolge auch in rein heterosexuellen Beziehungen wesentlich verbreiteter, als dies gemeinhin angenommen wird. Und das galt nicht nur bei Kinseys Studie in den USA in den 1950er Jahren.

In der männlichen Ablehnung des Penetriertwerdens im Verbund mit dem Vorwurf der sozialen Effeminierung liegt vermutlich auch ein psychoanalytischer Kern der Ablehnung des Homosexuellen. In bestimmten Gesellschaften werden dezidiert soziale Nischen geschaffen für diese Gruppen, prominent heute vor allem auch in Asien wie eben bereits erwähnt. Bei uns wurden andere Trennlinien geschaffen. So ist „Homosexualität“ erst ab dem 19. Jahrhundert als Begriff und Kategorie durch Medizin und Recht eingeführt worden..

Solche sozialen Kategorisierungen gehen an der sexuellen Realität vieler Menschen und ihrer Wünsche und Begehren oftmals vorbei. Nur, dass es schwierig ist, solchen sozialen Festlegungen auszuweichen. Und genau dies ist vermutlich auch ein Teil des Unbehagens, dass Muslime bei der Betrachtung westlicher Gesellschaften und ihrer Geschlechter- und Sexualordnungen haben. Unsere Normen und Ordnungsmuster sind schlicht und ergreifend anders und wirken dann auch fremd. Und dieses Gefühl werden sehr viele teilen, die umgekehrt auf muslimische Kulturen blicken.

Liest man Missionszeitschriften aus dem 19. Jahrhundert, dann stellt man fest, dass Europäer die koloniale Expansion mit strengeren Sitten im Sexualbereich rechtfertigen und den Islam unter anderem wegen der erlaubten Polygamie als dekadent und verlottert ansahen. Heute scheint die Sichtweise eher umgekehrt. Hat sich da nur bei den europäischen Sitten etwas verändert – oder auch im Orient?

Tilo Beckers: In der Tat ist zwischen einem endogenen, also gesellschaftsintern bedingten, und einem exogenen, also durch äußere Einflüsse bedingten Wandel der Sexualmoral in muslimisch geprägten Gesellschaften zu unterscheiden. Der europäische Anteil an der Bildung der Vorurteile und Ablehnungstendenzen ist historisch teilweise, sicher nicht abschließend rekonstruierbar. Er stellt auch keine Entschuldigung für heutige schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen gegen Schwule, etwa im Iran oder auch verschiedenen Staaten Arabiens und Afrikas dar.

Es ist eine Paradoxie der Geschichte, dass in der Tat heute deutsche Frauen im Minirock und mit Ausschnitt von einzelnen orthodoxen Muslimen moralisch mit Verachtung (vielleicht aber auch mit lustvollen Blicken) bedacht werden, während früher etwa beim Anblick eines Harems westliche Kolonialherren große Augen bekommen haben und dennoch alles schnellstens verurteilen mussten.

Der Wandel ist zweifelsohne auf beiden Seiten anzutreffen. Es ist entscheidend, dass man die Vorstellung verwirft, Geschlechter- und Sexualordnungen seien (jenseits der alleinigen Schwangerschaft von Frauen) in ihren Ausprägungen irgendwie naturgegeben und unveränderlich, geschweige denn moralisch richtig. Ein Blick nur zwei bis drei Generationen zurück in unserer eigenen Gesellschaft genügt, um dies zu erkennen.

Ebenso wie die Demokratie ist auch die Geschlechtergleichstellung nichts Selbstverständliches, die soziale Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Lebensweisen als Beziehungsmodelle vermutlich noch viel weniger. Menschen schaffen und definieren Sexualnormen und diese führen zu Sexualordnungen. Und historisch wie interkulturell können diese höchst unterschiedlich ausfallen. Spätestens, wenn man auf die Vielfalt sexueller Verhaltensweisen unter Volljährigen blickt, wird deutlich, dass es auch um ein Spiel der Geschlechter geht.

Manchen Missionaren leuchtet der soziale und kulturelle Mehrwert der Sexualität nicht ein. Und die Rigidität der Ablehnung der Polygamie im Westen zeigt, dass es in allen Gesellschaften einen unhintergehbar erscheinenden Konsens gibt. Ich bin mit Prognosen vorsichtig: Die Akzeptanz der Homosexualität ist auch im Westen in Zukunft nicht selbstverständlich, sondern muss offen alltäglich gelebt und vielleicht einfach als ein Teil oder eine kleine Nebensächlichkeit der Identität integriert werden.

Für das Beispiel der Niederlande zeigen detaillierte Studien, dass der persönliche Kontakt zu Homosexuellen im sozialen Umfeld eines Befragten die Vorbehalte erheblich reduziert. Interessant wird für die Zukunft sein, zu untersuchen, wie gläubige Muslime in westlichen Gesellschaften damit umgehen und ob in muslimisch geprägten Gesellschaften über die Geschlechtergleichstellung auch die Akzeptanz homosexueller Beziehungen zunehmen kann. Dies wird ein weiter Weg sein - und hoffentlich keiner, der bis dahin den Westen wieder weniger liberal macht.

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