Atomkraft: Ein paar Schreckensmeldungen vor der Schweizer Abstimmung über AKW-Laufzeiten

Gegner einer Altersbegrenzung für Schweizer AKW operieren mit fragwürdigen Zahlen über den deutschen Atomausstieg

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Jemand Interesse an einem AKW? Der Schweizer Energiekonzern Alpiq würde gerne seine beiden Atomkraftwerke in Gösgen und Leibstadt los werden. Der französische Atomkonzern EDF soll abgewunken haben, berichtet die Welt. Auch dem Schweizer Bund sei ein Franken für die beiden Meiler zu viel gewesen. Die Meiler sind derzeit offensichtlich ein schlechtes Geschäft. Insgesamt fahre die Schweizer Stromproduktion gegenwärtig zwei Milliarden Franken (1,86 Milliarden Euro) Verluste ein.

Das hält Alpiq aber nicht davon ab, in der am Sonntag anstehenden Volksabstimmung für ein Nein zum Atom-Ausstieg bis 2029 zu werben. Wie berichtet, sieht das vorgeschlagene Gesetz vor, dass Schweizer AKW künftig nach 45 Betriebsjahren abgeschaltet werden müssen. Die ersten drei kleineren Reaktoren, rund ein Drittel der Schweizer AKW-Leistung, wären dann bereits mit dem etwaigen Inkrafttreten des Gesetzes im nächsten Jahr fällig. Das letzte, Leibstadt, müsste 2029 den Betrieb einstellen.

Für ein Ja zur Ausstiegsinitiative werben neben den Grünen und Sozialdemokraten auch ein Teil der bürgerlichen Parteien und der Wirtschaft. Außerdem die Gewerkschaften, die Kleinbauernvereinigung und diverse Umweltverbände. Zu letzt lagen die Befürworter in Umfragen knapp vorn. Dagegen sind unter anderem die rechtsliberale FDP, die rechte, einwandererfeindliche SVP, die Auto-Partei und der Arbeitgeberverband.

Auch die konservative Neue Züricher Zeitung wirbt für ein Nein und bezeichnet Deutschlands Ausstieg als "überstürzt". Kürzlich behaupteten gar zwei Professoren für Entrepreneurial Risks der ETH Zürich, Spencer Wheatley und Didier Sornette, in einem Gastbeitrag, Deutschlands "frühzeitiger Ausstieg" aus der Atomkraft führe "europaweit zu geschätzt 2500 frühzeitigen Todesfällen – durch erhöhte Kohle-Emissionswerte".

Wegen Atomausstieg in Deutschland lief kein einziges Kohlekraftwerk länger

Das ist eine durchaus steile These, und leider lassen die Autoren offen, wie sie auf eine derartige Aussage kommen. Daran, dass vermehrt Kohlestrom nach Deutschland importiert werden müsste, kann es jedenfalls nicht liegen. Deutschland war zuletzt 2002 Nettoimporteur von Strom, also zu einer Zeit, als der Anteil der Atomkraft an der Nettostromerzeugung noch bei etwas über 30 Prozent lag. 2015 lag ihr Anteil nur noch bei 16 Prozent, während Deutschland netto rund neun Prozent seiner Nettoproduktion exportierte. (Nettoproduktion bedeutet, dass von der erzeugten Strommenge der nicht unerhebliche Eigenverbrauch der Atom- und Kohlekraftwerke abgezogen wird.)

In der Tat ist allerdings in Deutschland die Produktion der Kohlekraftwerke zunächst leicht angestiegen, doch einen Zusammenhang mit dem Atomausstieg gab es nicht. Die Stilllegungen der Jahre 2011 machten sich nicht in gesteigerten Laufzeiten der Kohlekraftwerke bemerkbar. Wie die Daten des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme zeigen wurde mit rund 230 Milliarden Kilowattstunden sowohl 2010 wie 2011 so gut wie die gleiche Menge von Kohlekraftwerken produziert, obwohl zeitweise im Frühjahr 2011 alle AKW stillstanden und im Sommer nur ein Teil wieder ans Netz ging.

Danach stieg der Beitrag der Kohle bis 2013 auf 256 Milliarden Kilowattstunden an und geht seit dem wieder zurück. Die Mehrproduktion von 26 Milliarden Kilowattstunden ging vollständig in den Export. 2013 betrug der deutsche Nettostromexport gut 32 Milliarden Kilowattstunden. Im vergangenen Jahr waren es übrigens bereits 48,27 Milliarden Kilowattstunden, was einen neuen Rekord darstellte.

Wie die beiden Autoren also auf ihre Opferzahlen kommen, ist vollkommen unerklärlich. Die Daten der deutschen Stromproduktion zeigen viel mehr, dass wegen der Stilllegung von Atomkraftwerken in Deutschland kein einziges Kohlekraftwerk auch nur eine Stunde länger gelaufen ist. Weder hierzulande noch anderswo.

Die Schweizer sind Nettoimporteure deutschen Stroms

Auch die Größenordnung der Todesopfer durch den vermeintlich zusätzlichen Betrieb von Kohlekraftwerken erscheint aus der Luft gegriffen. Eine 2013 im Auftrag von Greenpeace erarbeitete Studie war zu dem Ergebnis gekommen, dass Deutschlands Kohlekraftwerke zu jener Zeit – die Daten bezogen sich meist auf 2010 – statistisch gesehen jährlich für 3100 frühzeitige Todesfälle verantwortlich sind. Die Ursachen sind Asthma, Herzinfarkte und Lungenkrebs verursacht vor allem durch Feinstäube. Der Anstieg der Kohleverstromung um 26 Milliarden Kilowattstunden bis 2013, der, wie gesagt, nichts mit Atomausstieg zu tun hatte, wäre demnach im gleichen Jahr für 350 frühzeitige Todesfälle verantwortlich gewesen.

Am Sonntagabend werden wir wissen, ob sich die Schweizer Wähler von den Schreckensmeldungen haben beeindrucken lassen. So oder so müssen sich deutsche Verbraucher übrigens keine Sorgen machen: Für die hiesige Versorgung spielen die Schweizer AKW keine Rolle. Die Eidgenossen sind im Gegenteil Nettoimporteure deutschen Stroms, wie die oben verlinkten Fraunhofer-Daten zeigen. In diesem Jahr waren es bereits etwas mehr als 12 Milliarden Kilowattstunden, mehr als je zuvor in diesem Jahrzehnt.

Und auch die Schweizer AKW-Gefahren werden uns noch lange genug erhalten bleiben: Das AKW Leibstadt steht direkt an der Grenze und wird auf jeden Fall bis 2029 weiter laufen. Es sei denn, die grün-schwarze Landesregierung in Stuttgart investiert einen Franken, um es stillzulegen.