Digitale Chartastimmung

Grafik: TP

Die Zeit spannt mal wieder besorgte Bürger vor ihren Karren - Ein Kommentar

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Ein von der Zeitung Zeit-Stiftung inthronisierter Tugendrat deutscher Intellektueller propagiert ungebeten eine Digitale Charta. Das geht trotz Schwangerschaft von angeblich 14 Monaten so episch daneben, dass man den Beteiligten wünschen möchte, der wortgewaltige Zeit-Kolumnist Thomas Fischer sei mit seiner Nebentätigkeit am BGH so arbeitsüberlastet, dass er den hanebüchenen Missgriff gnädig übersehen möge.

Wow! Da wollen also besorgte Bürger nichts weniger regulieren als die menschliche Kommunikation - eine der anspruchsvollsten Herausforderungen überhaupt, die auch nach 13 Jahren schulischer Ausbildung in deutscher Sprache nur den Wenigsten unfallfrei gelingt. Schon deshalb, weil Kommunikationspartner typischerweise ungleich sind und eigenen Äußerungen zumindest in Nuancen einen subjektiv anderen Gehalt beimessen, als sie vom Gegenüber wahrgenommen und ebenfalls subjektiv eingeordnet werden. Lebensbejahende Spaßvögel leben nun einmal in anderen Universen als mental anspruchsvolle Gemüter wie etwa ideologisch verbissene Fundamentalfeministen.

Digitale Dissonanzen

Hinzu kommt, dass ein "Gegenüber" dort unsichtbar ist, wo die Digitalchartologen bestimmen wollen: in Social Media. Man kann in textbasierten Systemen nicht erkennen, in welcher Verfassung ein Sender oder einer der vielen Empfänger ist, welche geistige Reife die Kommunikationspartner haben, ob eine Äußerung wörtlich, übertreibend oder gar ironisch intendiert ist, ob betrunken getwittert wird - oder ob sich der Unbekannte in ideologischen oder gar religiösen Glaubenssystemen bewegt, an denen er alles misst und Abweichungen als nicht tolerierbaren Affront identifiziert.

Mit anderen Worten: Kommunikation in Social Media ist ein denkbar riskantes Terrain, bei dem es spätestens dann zu Reibereien und Animositäten kommt, wenn man unterschiedlicher Meinung sein kann und das Sozialverhalten mindestens eines Kommunikationspartners zu wünschen übrig lässt. Realistisch gesehen also immer.

Und dann kommen solche von der Zeit gebauchtätschelte Weltverbesserer allen Ernstes daher, um altklug und autoritär ihre weltfremden Vorstellungen eines digitalen Kosmos zu dozieren? Sie erwarten Verständnis für abstrakte Regelwerke von Leuten, deren Lesekompetenz nicht selten schon bei 140 Zeichen versagt? Oder ist diese Charta eher eine an intellektuelle Zirkel gerichtete Geisterbeschwörung für Herrschaften, denen gerade der Diskussionsstoff ausgegangen ist?

Und diese Hohepriester abendländischen Intellekts sind dann auch noch damit überfordert, erst einmal den juristischen Ist-Zustand zu analysieren, nämlich das grundgesetzlich geschützte Konzept der Meinungsfreiheit? Während ideologisch begabtere Gemüter den Vorstoß treudoof feierten oder wenigstens bemäntelten, flippten die sonst gerne in Social Media zum Streiten aufgelegten Juristen am Mittwoch einhellig aus. Und womit? Mit Recht!

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