Zufriedenheitsstudie in Italien - Friede, Freude, Eierkuchen

Castelluccio di Norcia. Bild: Alessia Ravanelli

In Wirklichkeit reicht das Gehalt kaum bis ans Monatsende

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Das Nationale Institut für Statistik ISTAT hat kurz vor dem Verfassungsreferendum eine wahrlich lachhafte Statistik zum Zufriedenheitsgrad der italienischen Familien an ihrem Wohnort veröffentlicht. Demnach belaufen sich die Probleme der Familien auf Kriminalität, Smog und Verkehr, gefolgt vom Schmutz auf den Straßen, den schlechten Verbindungen der öffentlichen Verkehrsmitteln und dem Lärm.

Diese Auswertung beschreibt eine heile Welt, die keineswegs der Wahrheit entspricht, denn anscheinend sorgen sich die italienischen Familien mehr um Umweltverschmutzung und Stau, als um die prekäre wirtschaftliche Lage, die hohe Arbeitslosenquote und die freudlose politische Situation.

Immer öfter könnte man in Italien den Eindruck gewinnen, die Medien und öffentlichen Informationsträger speisen den Bürger mit Halbwahrheiten und ablenkendem Geplapper ab. Sicher, die Erhebung statistischer Informationen muss sein und dieses Amt kommt, mit all den mehr oder weniger fragwürdigen Methoden, auch nur seiner Aufgabe nach, doch diese Statistik beleidigt die Durchschnittsfamilie, die sich beim Lesen empören wird, denn die Italiener sind mit ihrem Leben zur Zeit wahrlich nicht glücklich. Zu viele Aspekte des Alltags entsprechen einfach nicht den Vorstellungen eines soliden und würdigen Lebensablaufes, der die Menschen die Gegenwart genießen und zuversichtlich in die Zukunft blicken lässt.

Die größte Besorgnis der italienischen Familien in Bezug auf ihre Wohngegend soll, laut ISTAT, die Kriminalität sein (38,9%), dicht gefolgt von der Angst vor Luftverschmutzung (38%), den Staus (37,9%) und den mangelnden Parkgelegenheiten (37,2%). Weitere Anliegen scheinen der Schmutz auf den Straßen (33%), die schlecht verbundenen öffentlichen Verkehrsmittel (32,9%) und die Lärmbelästigung (31,5%) zu sein.

"Sehr vorsichtig sein"

Angeblich sind die Italiener außerdem auch misstrauisch. Acht von zehn sollen dem Nächsten nicht trauen. 78,1% der Menschen denken, dass man "sehr vorsichtig sein muss", wobei es bei diesem Punkt sehr große territoriale Schwankungen gibt, trotzdem der Prozentsatz in den letzten zwei Jahren gleich geblieben sei. Während im Süden nur 16,5% der Bevölkerung glaube, dass die meisten Menschen vertrauenswürdig sind, glaubten das 21,7% im Norden - und 20,8% in Zentralitalien. Die Frauen sind mit 79,4% generell vorsichtiger als die Männer.

Das Misstrauen steigt bei den über 75-Jährigen (80%) und den 25-34-Jährigen (77,8%). Im Vergleich zum Vorjahr hat sich das Vertrauen in die Ehrlichkeit der Polizei von 81,2% auf 82,4% und auch gegenüber Fremden von 11,1% auf 12,1% erhöht. Das Urteil über die Nachbarn sei gleich geblieben.

Und hier kommt der Clou:

Die Zufriedenheit über das eigene Leben und die Lebensbedingungen soll erstmals nach fünf Jahren wieder angestiegen sein. Der Anteil der Menschen im Alter von über 14 Jahren, die im Allgemeinen eine hohe Zufriedenheit mit ihrem Leben zum Ausdruck bringen, soll von 35% auf 41% angestiegen sein. Im Vergleich zum Jahr 2015 sollen Familien und Einzelpersonen auch über die die wirtschaftliche Lage zufriedener ein. Die Genugtuung über die Beziehung mit Familie und Freunden, Gesundheit und Freizeit sei leicht angestiegen, ebenso wie die über die Verhältnisse in der Arbeitswelt.

Heißt das etwa die Arbeitnehmer sind mit ihrem Gehalt zufrieden? Wie kommt es, dass jede dritte Familie angibt, das Geld reiche nicht bis ans Monatsende. In Italien leben laut ISTAT 1 Million und 582.000 Familien in Armut - also insgesamt fast 4,6 Millionen Menschen. Das ist mithin die höchste Quote seit dem Jahr 2005.

Niedrigere Löhne, aber höhere Kosten

Es handelt sich dabei um absolute Armut, also die schwerste Form, bei der den Betroffenen der Zugang zum minimalen Warenkorb und den Dienstleistungen, die für ein menschenwürdiges Leben unentbehrlich sind, verwehrt bleibt. Süditalien ist am schwersten betroffen: besonders Familien mit zwei oder mehr minderjährigen Kindern, ausländische Familien, Familien, deren Ernährer entweder arbeitslos ist oder der Arbeiterklasse angehört und vor allem Jugendliche, die unter der anhaltenden Beschäftigungskrise am meisten zu leiden haben.

Die Lebenshaltungskosten sind in Italien außerdem extrem hoch. Italienische Löhne liegen um 20% unter dem EU-Durchschnitt, was im Monat einen Unterschied von bis zu 500 € ausmacht. Die täglichen Ausgaben liegen allerdings bei 64% des Gesamteinkommens, sprich 7% über dem EU-Durchschnitt. Die hohe Steuerbelastung und die größere Belastung des Einkommens verhindern de facto die Bewältigung der Wirtschaftskrise. Die Nebenkosten einer Wohnung sind 18,7% höher als durchschnittlich in der EU und die privaten Verkehrsmittel scheinen fast ein Luxus zu sein. Volltanken kostet in Italien nämlich 11,5% mehr als in anderen EU-Ländern.

Es sei noch bemerkt, dass, besonders in Großstädten, es an öffentlichen Kindergärten- und Altersheimplätzen mangelt, wobei die Qualität der öffentlichen Dienstleistungen, im Schnitt, sehr zu wünschen lässt.

Wie kann unter solchen Umständen 41% der italienischen Familien mit der Gesamtlage für zufrieden erklärt werden? Italien ist zwar immer noch ein klassischer Sozialstaat (alle Italiener sind z.B. automatisch und kostenlos krankenversichert), doch gibt es weder eine Grundsicherung für Arbeitslose, noch Sozialhilfe in deutschem Sinne. Die Familie (oder die Mafia) bleibt das einzig existente soziale Auffangnetz.

Dem ist hinzuzufügen, dass die Mittelschicht in der italienischen Gesellschaft sich konstant schmälert und die Schere zwischen Arm und Reich, zwischen einer verschwindend kleinen Elite und einer immer größer werdenden Masse sozial Abgestiegener, immer weiter auseinanderklafft.

Arme und Senioren suchen in Müllcontainern nach etwas Essbarem und müssen im Winter frieren, während andere die Vorzüge der Überschussgesellschaft genießen dürfen. Wie soll das nicht in soziale Unmut ausarten? Das Ergebnis des Verfassungsreferendums an diesem Wochenende wird möglicherweise ein anderer Zufriedenheitsindikator sein, der die Statistik widerlegen könnte.