Frankreich im Wahljahr: Die Chancen links von der Mitte

Hauptportal des Palais de l'Elysée. Foto: Eric Pouhier / CC BY-SA 2.5

Nicht nur Le Pen profitiert von den Turbulenzen, in welche der konservative Fillon aufgrund seiner marktradikalen und antisozialen Bestrebungen geraten ist

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Im Allgemeinen sollte man mit Prognosen vorsichtig sein, denn oft tritt etwas Anderes als, als erwartet wurde. Im Hinblick auf das bevorstehende Jahr häufen sich die Vorhersagen und Erwartungen mit Bezug auf Frankreich, da 2017 dort einige entscheidende Weichenstellungen bereithält.

Nach der Präsidentschaftswahl am 23. April und 05. Mai des Jahres wird dann im Juni auch die nächste Nationalversammlung gewählt. Noch vor wenigen Wochen sah es sehr danach aus, als werde das im Vorfeld der Wahlen aufstrebende konservative Lager bei seinem Aufstieg sowohl den rechtsextremen Front National als auch das - infolge seiner Regierungsjahre stark diskreditierte - sozialdemokratische Lager abhängen und weit hinter sich lassen.

Fillon entzaubert

Marine Le Pen ging in den Umfragen leicht zurück. Durch die Vorwahlen, bei denen am 27. November der Präsidentschaftskandidat der bürgerlichen Rechtsopposition nominiert wurde, war die konservative Basis in hohem Maße mobilisiert wurden; rund 4,3 Millionen Franzosen beteiligten sich, und der designierte Kandidat François Fillon schnellte in den Umfragen nach oben. Doch dies war nur von kurzer Dauer.

Schon am 18. Dezember erklärten bei einer Umfrage für die Sonntagszeitung JDD nur noch 28 Prozent der befragten Französinnen und Franzosen, sie "wünschten" einen Wahlerfolg Fillons. Voraus ging die Diskussion um Fillons weitreichende Pläne zur Privatisierung oder Zerschlagung der gesetzlichen Krankenversicherung, die manche von dessen Beratern zur taktischen Verzweiflung trieb.

Dabei profitiert aber nicht nur Le Pen - auf die in Deutschland viele Augen gerichtet bleiben - von den Turbulenzen, in welche Fillon aufgrund seiner marktradikalen und antisozialen Bestrebungen nun geraten ist. In der rechten Mitte profitiert etwa François Hollandes früherer Wirtschaftsminister Emmanuel Macron direkt von den Rückschlägen Fillons, welche sich in jüngerer Zeit häufen.

Weiter die Imperative des Kapitals erfüllen?

Deswegen sei an dieser Stelle einmal der Blick auf das sozialdemokratische und linksliberale Lager gerichtet, das bislang eher vernachlässigt wurde, was seine eventuellen Wahlchancen für 2017 betrifft, schien seine Niederlage doch von vornherein festzustehen.

Die französische Sozialdemokratie wird nun am 22. und 29. Januar dieses Jahres über ihre Präsidentschaftskandidatur abstimmen. Die eine Option für ihren Kurs besteht darin, den bisher eingeschlagenen Kurs der erklärten Erfüllung aller Imperative des nationalen und internationalen Kapitals, der zur fast völligen Diskreditierung der französischen Regierungssozialdemokratie in den letzten Jahren beitrug, fortzusetzen und noch zu verschärfen.

Dafür, dass ein solcher Kurs fortgeführt wird, steht insbesondere Manuel Valls: Hollandes bis vor kurzem amtierender Premierminister seit April 2014, zuvor Innenminister.

Valls: der Einpeitscher

Sofern Manuel Valls überhaupt als Sozialdemokrat einzustufen ist, dann als einer vom Schlage eines Gustav Noske. Er selbst kürte den Regierungschef zur Zeit des Ersten Weltkriegs, Georges Clemenceau, zu seinem erklärten historischen Vorbild, während Sozialdemokrat/inn/en in Frankreich sonst in Sonntagsreden auf den Urvater Jean Jaurès schwören - den Valls flugs zum naiven "Idealisten" erklärte.

Clemenceau ließ mindestens zwei Mal, 1906 als Innen- und 1909 dann als Premierminister, auf streikende Arbeiter schießen. Solches konnte Manuel Valls zwar in seinen bisherigen Ämtern nicht anordnen, doch sein Umgang mit den Protesten gegen das von ihm maßgeblich entworfene und durchgeprügelte "Arbeitsgesetz" - es ist seit dem 08.08.2016 in Kraft - spricht in jedem Falle Bände.

Als fast frischgebackener Premierminister machte Valls unterdessen im Hochsommer 2014 seinen Einstand beim Arbeitgeberverband MEDEF mit dem berühmt gewordenen Satz: J’aime l’entreprise, seiner Liebeserklärung an die Unternehmer.

Um sich als etwas weniger "sperrig" fürs sozialdemokratische Fußvolk zu präsentieren, machte Valls in den letzten Wochen einige verbale Zugeständnisse. So stellte der Bewerber in Aussicht, falls er die Ur- und danach die Präsidentschaftswahl gewinne, werde er den Artikel 49-3 der französischen Verfassung teilweise abschaffen; konkret: er werde ihn nur noch zur Verabschiedung von Haushaltsgesetzen bestehen lassen.

Die autoritäre Verfahrensregelung des Artikels 49-3 erlaubt es einer französischen Regierung, die Parlamentsdebatte zu einem Gesetzentwurf auszusetzen und ihn am Parlament vorbei verabschieden zu lassen. Von diesem Mechanismus kann sie für einen Gesetzentwurf pro Jahr Gebrauch machen, ihn dann allerdings bei jeder Lesung zu diesem Text einsetzen.

Es war gerade Manuel Valls, der diese Möglichkeit exzessiv ausgeschöpft hat: Er machte vom Artikel 49-3 insgesamt sechs mal Gebrauch und benutzte ihn, um die sozialpolitisch besonders umstrittenen Gesetzestexte Loi Macron (2015) und das Arbeitsgesetz (2016) ohne parlamentarische Aussprache durchzudrücken.

Dass ausgerechnet Valls nun die Abschaffung dieses antidemokratischen Verfassungsartikels in Aussicht stellt, darf man zwar getrost als Wahlpropaganda für Dumme bezeichnen. Aber vielleicht geht die Rechnung auf, die darauf hinauslaufen soll, ihm ein weniger hartes Image zu verpassen.

Das "Phänomen Macron": Die Sonnenseite der Globalisierung

Auf menschlich etwas angenehmere Weise, verglichen mit dem oft autoritär auftretenden Einpeitscher Valls, vertritt Emmanuel Macron eine im Kern ähnliche Wirtschafts- und Sozialpolitik. Er kandidiert ohne jegliche strukturierte Partei im Rücken, aber mit viel Unterstützung durch die wirtschaftlichen Führungseliten.

Aber auch durch die Regenbogenpresse, welche auch immer wieder sein Eheleben mit der zwanzig Jahre älteren Brigitte Macron zum Thema der Klatschspalten und Fotostorys erhebt. Konservativ-reaktionäre Kräfte nehmen dies zum Anlass, um zu munkeln, die Ehe solle nur eine angebliche kaschierte Homosexualität verschleiern.

Der erst 38jährige ehemalige Investmentbänker Emmanuel Macron, der schon vor Jahren Millionär wurde, wird als idealer Schwiegersohn durch die Medienlandschaft gereicht. Er hat zwar im Kern ähnlich wirtschaftsliberale Vorstellungen wie etwa François Fillon und kommt direkt aus dem Großbürgertum, hat jedoch genügend strategische Intelligenz, die Notwendigkeit eines Werbens um einen Teil der bisherigen Hollande-Wählerschaft zu erkennen.

Seit etwa zwei Monaten gibt er überraschend sozialdemokratisch klingende Töne von sich, lobt etwa die - ohnehin nur noch theoretisch existierende - 35-Stunden-Woche, nachdem er sie noch 2014 in den Orkus der Geschichte wünschte, und schmiert sogar den zuvor als Ballast dargestellten Staatsangestellten nun mehr Honig um den Mund.

Kurz vor der Weihnachtspause ergab eine Umfrage plötzlich, 55 Prozent hielten Macron angeblich für einen "besseren Präsidenten als François Fillon". Dergestalt scheint sich ein Teil des Wahlvolkes um das Versprechen einer weitgehend partei- und "ideologiefreien" künftigen Präsidentschaft zu scharen.

Emmanuel Macrons weitgehend nur aus Mausklick-Anhängern im Internet bestehende Miniaturpartei En marche! ("In Bewegung") wird dabei als neue Alternative zu Politikverdrossenhei und FN-Wahl gehandelt. Ihr Profil besteht darin, die so genannten Sonnenseiten der Globalisierung aufzuzeigen und wirtschaftsliberale Vorstellungen mit dem Versprechen gesellschaftlicher Liberalität und Toleranz zu verbinden.

Dabei ist Macron weniger reaktionär und moralinsauer als Fillon und dessen Umfeld. Er ist offener für Diversity und weniger stark auf einen intolerant-autoritären und (vor allem gegenüber Muslimen) ausgrenzenden Staatslaizismus eingeschworen als der rechtssozialdemokratische mögliche Präsidentschaftskandidat Manuel Valls. Und natürlich weniger rassistisch als Le Pen.

Vielleicht wird er der nächste Präsident, was allerdings insofern eine krisenhafte Regierungszeit einleiten könnte, als er eben über keine gefestigte politische Struktur hinter sich verfügt.