Eritrea: Nordkorea Afrikas oder alles halb so schlimm?

Asmara, die Hauptstadt Eritreas. Bild: David Stanley/CC BY-2.0

Nicole Hirt über die Fluchtgründe Armut und institutionelle Zwangsarbeit und die Menschenrechtslage, die EU-Diplomaten schönreden

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Viele Menschen, die von Afrika nach Europa geflüchtet sind, stammen aus Eritrea. Laut Bundespolizei reisten im November 677 Personen aus Eritrea unerlaubt in Deutschland ein, 480 aus Afghanistan und je 340 aus Syrien und dem Irak. In Italien landeten im vergangenen Jahr nach Angaben der EU-Grenzschutzagentur Frontex 20.000 Eritreer. Unter den insgesamt 170.000 Flüchtlingen war das die zweitgrößte Gruppe nach den Nigerianern (36.000).

Das als "Nordkorea Afrikas" bekannte ostafrikanische Land gilt als repressiv, Flüchtlinge werden deshalb zu mehr als 90 Prozent als asylberechtigt anerkannt. Doch jetzt äußern EU-Diplomaten Zweifel, ob die Lage in Eritrea wirklich so schlimm ist, dass die Menschen reihenweise fliehen. In einem Papier, über das die FAZ berichtet, bezweifeln vier Diplomaten aus EU-Ländern, darunter der deutsche Botschafter, den 2016 erschienen UN-Menschenrechtsbericht zu Eritrea als wenig glaubwürdig.

Die UN berufe sich ausschließlich auf Flüchtlinge, die natürlich ein Interesse daran hätten, die Verhältnisse als besonders schlecht darzustellen, so die Kritik. Die Diplomaten bezweifeln zwar nicht, dass es in Eritrea zum Beispiel keine Meinungsfreiheit gibt. Aber dass Menschenrechtsverletzungen ein solches Ausmaß haben, dass sie größere Fluchtbewegungen rechtfertigen, das bezweifeln die Diplomaten, die ja selbst vor Ort sind.

In Eritrea gelebt hat auch Nicole Hirt, Mitarbeiterin des Giga-Instituts Hamburg. Sie hat von 2001 bis 2003 an der Universität der Hauptstadt Asmara in Eritrea gelehrt und kennt die Verhältnisse vor Ort.

"Zwangsarbeit im Rahmen des National Service ist eine moderne Form der Sklaverei"

Frau Hirt, wie würden Sie die Verhältnisse in Eritrea beschreiben, warum fliehen so viele Menschen?

Nicole Hirt: Die Hauptfluchtursache ist der staatliche National Service, der 2002 von der Regierung eingeführt wurde. Praktisch alle ab 18 Jahren müssen Militärdienst ableisten und danach für einen unbekannten Zeitraum für die Regierung, das Militär oder die Regierungspartei arbeiten. Sie werden dafür extrem schlecht bezahlt und bekommen praktisch nur ein Taschengeld. Sie sind gar nicht in der Lage, eine Familie zu gründen und zu ernähren.

Sie haben selbst in Eritrea gelebt. Warum waren Sie dort und wie haben Sie das Land wahrgenommen?

Nicole Hirt: Ich habe zwischen 1995 und 2010 insgesamt fünf Jahre dort gelebt. Das heißt, ich habe den Niedergang des Landes beobachten können. Zuerst war ich 1995 da, dann 1997 für meine Doktorarbeit bis kurz vor Ausbruch des Grenzkrieges mit Äthiopien. Damals habe ich die da noch vorhandenen Entwicklungsbemühungen erforscht. Von 2001 bis 2003 war ich an der Universität Asmara, das war die Zeit, als das Land einen totalitären Weg einschlug und interne Kritiker des Präsidenten verhaftet und die Pressefreiheit abgeschafft wurde.

EU-Diplomaten behaupten nun, dass der Bericht des UN-Hochkommissars für Menschenrechte zu Eritrea übertrieben ist. Teilen Sie diese Kritik?

Nicole Hirt: Das ist nicht das erste Mal, dass derartiges kommt. Die in Eritrea ansässigen Diplomaten haben schon 2015 gegenüber einer dänischen Untersuchungsdelegation ein relativ beschönigendes Bild des Landes gezeichnet. Dazu muss man sagen, dass es seit 2006 ein Reiseverbot für alle Ausländer im Land gibt, einschließlich Diplomaten. Sie dürfen die Hauptstadt Asmara gar nicht verlassen ohne Regierungserlaubnis, und wenn, dann müssen sie ihr Reiseziel angeben. Keiner dieser Diplomaten kann unbegleitet reisen und sich ein wahres Bild von den Zuständen im Hinterland machen.

Die EU-Botschafter kritisieren ja auch, dass die UN nur Eritreer im Ausland interviewt hat. Flüchtlinge neigen dazu, die Zustände zu dramatisieren, so die Kritik.

Nicole Hirt: Eritrea hatte sich ja geweigert, die UN-Kommission ins Land zu lassen, deshalb hat diese Kommission eben Flüchtlinge interviewt. Es ist in Eritrea gar nicht möglich, offen seine Meinung zu sagen und die Regierung zu kritisieren. Da würde man verhaftet. Insofern ist diese Kritik ziemlich merkwürdig.

Menschenrechtsverletzungen und Armut gibt es auch woanders, ohne dass Menschen massenhaft fliehen.

Nicole Hirt: Die UN-Kommission hat festgestellt, dass die Zwangsarbeit im Rahmen des National Service eine moderne Form der Sklaverei ist und damit ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese Form der Zwangsarbeit sehen EU-Diplomaten in Asmara auch, nur dass die Menschen dort eher als Lehrer arbeiten, aber sie sehen keine Menschen in ganz schlimmer Lage.

Klar, Menschenrechtsverletzungen gibt es auch woanders. Aber in Eritrea finden praktisch keine Gerichtsverfahren mehr statt. Wenn jemand verhaftet wird, dann kommt er ins Gefängnis, ohne dass ein Verfahren stattfindet. Wenn er Glück hat, ist er nach acht Monaten wieder draußen. Das habe ich sehr oft erlebt und das ignorieren die Botschafter komplett.

In Eritrea leben sechs Millionen Menschen, im benachbarten Äthiopien dagegen 100 Millionen. Deswegen vermuten manche, dass die Auswanderung in Wirklichkeit aus Äthiopien kommt. Könnte es sein, dass die Flüchtlinge in Wirklichkeit Äthiopier sind, die über Eritrea nach Europa fliehen?

Nicole Hirt: Nein, zwischen Eritrea und Äthiopien herrscht eine Art Kalter Krieg, die Grenze ist absolut dicht. Kein Äthiopier kommt jemals nach Eritrea rein. Es ist anders: Die Eritreer fliehen nach Äthiopien oder in den Sudan und versuchen, von da aus nach Europa zu kommen.

Europäische Asylentscheider könnten nur schwer den Unterschied zwischen Menschen aus Äthiopien und Eritrea feststellen, schrieb die FAZ auch. Sind sich Äthiopier und Eritreer so ähnlich?

Nicole Hirt: In Eritrea werden neun verschiedene Sprachen gesprochen, in Äthiopien 80. Nur in der äthiopischen Region Tigray wird Tigrinya gesprochen, die einzige Sprache, die beide Länder gemeinsam haben. Aus Tigray kommt die Tigray Peoples Liberation Front (TPLF), die die Regierungskoalition in Äthiopien beherrscht. Also haben die Menschen von dort am wenigsten Grund, Äthiopien aus politischen Gründen zu verlassen. Wenn sie als Arbeitsmigranten gehen wollen, steht ihnen das frei, die Grenzen sind offen. Aber die gehen dann auf die arabische Halbinsel, der Weg nach Europa ist zu gefährlich.

Aber selbst wenn, per Sprachtest lassen sich Eritreer und Äthiopier leicht unterscheiden. Selbst die Tigrinya-Sprecher in Eritrea sprechen anders als die in Äthiopien. Eritrea war ja lange italienische Kolonie, italienische Einflüsse in der Sprache gibt es nur dort.

Warum behauptet die eritreische Regierung, die Flüchtlinge seien nicht aus ihrem Land?

Nicole Hirt: Es ist natürlich nicht gut für das eigene Image, wenn die Menschen scharenweise fliehen. Und dann will man natürlich auch gegenüber Äthiopien gut dastehen.

Die EU-Diplomaten fordern auch, keine Sanktionen gegen Eritrea zu verhängen, weil diese das Land in die Arme von China treiben würden. Welche Rolle spielt denn China in Eritrea?

Nicole Hirt: Die Sanktionen sind ja schon 2009 verhängt worden und wurden 2011 verschärft. Sie bestehen aber eigentlich nur aus einem Waffenembargo. Andere Teile der Sanktionen wurden nicht umgesetzt. 2016 wurden sie verlängert, die EU-Staaten waren dafür.

Es gibt zwei Forderungen: Eritrea muss endlich mit Dschibuti einen Friedensvertrag abschließen nach dem Konflikt von 2008. Und Eritrea muss aufhören, die Region am Horn von Ostafrika zu destabilisieren. Also keine Guerillagruppen unterstützen; dabei geht es nicht nur um Al Shabab im Somalia, die die eritreische Regierung nicht mehr unterstützt, sondern auch um äthiopische Oppositionsgruppen, die teils von Eritrea aus operieren. Solange diese beiden Bedingungen nicht erfüllt sind, werden laut Sanktionsbeschluss der UN die Sanktionen auch nicht aufgehoben.

Was China angeht: Es gibt in Eritrea ein extrem geringes Investitionspotenzial, weil die Wirtschaft praktisch eine staatliche Kommandoökonomie ist. Da gibt es für China wenig zu holen.