Giftgasangriff in Syrien: Täter sind noch unbekannt

"Stop Chemical Assad!" Aufruf des Chefs von Ahrar al-Sham für "auswärtige politische Beziehungen". Twitter

Die Beschuldigungen gegen Baschar al-Assad sind deutlich. Weniger dagegen, aus welchem Interesse heraus er eine solch' verheerende Wirkung riskiert haben soll

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Die Täter sind noch unbekannt. Niemand kann im Augenblick mit Gewissheit sagen, wer für die Giftgas-Opfer in Chan Schaichun verantwortlich ist. Auch die Institutionen nicht, deren Funktion und Glaubwürdigkeit stets als essentiell für ein nicht von Willkür geprägtes Miteinander herausgestrichen werden. Im Fall des Giftgas-Angriffs ist die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) eine erste wichtige Adresse.

Laut einem Briefing vor dem UN-Sicherheitsrat vom Mittwoch, den 05. April, das also noch am selben Tag des Angriffs abgehalten wurde, ist die OPCW erst dabei, "Informationen von allen zur Verfügung stehenden Quellen zu sammeln und zu analysieren". Man werde bei der ersten Gelegenheit ein Untersuchungsteam an Ort und Stelle schicken.

Vorsichtige Einschätzung der UN-Institutionen

Das Briefing übernahm Kim Won-Soo, Chef des UN-Büros für Abrüstungsfragen, der den Stand der Erkenntnisse beim OPCW übermittelte. Der lässt sich kurz so zusammenfassen: Was man weiß, weiß man hauptsächlich aus Medienberichten und Videos aus sozialen Netzwerken, die nahelegen, dass es sich um einen Giftgasangriff gehandelt hat. Kim Won-Soo zitiert den Generaldirektor des OPCW folgendermaßen:

Er sagte der Angriff wurde laut Berichten über einen Luftangriff auf ein Wohngebiet ausgeführt, aber über die Art der Freisetzung (des Giftgases oder des chemischen Kampfstoffes, Einf. d. A.) konnte nichts Verlässliches gesagt werden.

UN-Bericht

Im Original:

(…) the attack had reportedly been carried out through an air strike on a residential area. However, the means of delivery could not be confirmed.

UN-Bericht

Erwähnenswert ist, dass Kim Won-Soo in seinem Briefing ausdrücklich davon spricht, dass "viele Details des Angriffs nicht vollständig bekannt sind", dass er bei "Reports" auf Medienberichte Bezug nimmt und bei der Schilderung der Symptome der Opfer des Angriffes ausdrücklich die Videos anführt, die im Netz kursierten: "included respiratory problems, vomiting, fainting and foaming at the mouth, as well as miosis (pupillary constriction), as seen in videos on social media, said to have been taken at the scene".

Man beachte die vorsichtige Formulierung "said to have been taken at the scene". Eine Behauptung, die also erst noch geprüft werden muss. Das Gleiche macht er für die Frage geltend, ob die syrische Regierung noch chemische Kampfstoffe besitzt. Auch hier würden die Untersuchungen noch laufen. Abschließendes sei noch nicht zu übermitteln.

Journalisten wissen mehr

Im Gegensatz dazu wissen Journalisten offensichtlich besser Bescheid:

Der Gasangriff vom Dienstag war keine Abschiedsgabe Assads an Obama, sondern ein grässliches Begrüßungsgeschenk für Trump. In dem Massaker steckte eine Botschaft an den Neuen in Washington: Die Bomben fielen, nachdem Trumps Diplomaten offiziell erklärt hatten, dass Amerika Assad nicht von der Macht entfernen wird. Über Assads Schicksal sollten die Syrer selbst entscheiden. Der Diktator hörte das mit Freude - und machte sich umgehend daran, der Entscheidungsfindung mithilfe chemischer Kampfstoffe nachzuhelfen.:SZ

Das ist nur ein Beispiel dafür, dass sich bei vielen die Meinung (der SZ-Artikel ist ein Meinungsbeitrag) festgesetzt hat, Baschar al-Assad sei der Verantwortliche, der den Giftgas-Angriff absichtlich befohlen hat. Welche politischen und militärischen Interessen würde Assad damit verfolgen?

Das Chaos und Eskalationspotential des Krieges?

Es gibt auch andere Erklärungen, die dem syrischen Staatschef nicht unbedingt das Motiv "Ihr könnt mich mal, ich kann mir alles leisten" unterstellen und dennoch davon ausgehen, dass die Giftgas-Attacke auf sein Konto geht. Die Verderbtheit, das Eskalationspotential, das "Chaos des Krieges", führt zum Beispiel Aymenn J. al-Tamimi an:

Viele Akteure im syrischen Bürgerkrieg haben Dinge gemacht, die ihren Interessen klar schaden: Das Regime ist da keine Ausnahme.

Aymenn J. al-Tamimi

Wer kann mit Sicherheit dem widersprechen, dass möglicherweise etwas "aus dem Ruder lief"? Ausgeschlossen ist die Möglichkeit nicht, aber nicht sehr wahrscheinlich, da es sich laut zitierten Berichten wahrscheinlich um einen Luftangriff handelte, muss dafür ein Befehl gegeben werden.

Mal davon abgesehen, dass Zweifel daran geäußert wurden, dass syrische Flugzeuge des Typs, der beobachtet wurde, Behälter mit mutmaßlichen Sarin-Inhalt abwerfen können, dürfte jedem in der syrischen Befehlskette klar sein, welche Konsequenzen ein Giftgas-Angriff hat. Ein Raketenabschuss oder andere Bomben hätten nicht dieses Medienecho hervorgerufen und nicht ein solches Politikum ausgelöst. Sind Chemiewaffen die besseren Abschreckungswaffen gegen al-Qaida, die dieses Risiko lohnen?

Das Risiko Assads: Die Interessen der anderen Seite

Warum sollte Assad dieses Risiko eingehen? Er gilt als kühler Stratege. Immerhin hat er seinen Posten bis jetzt behalten trotz einer Vielzahl mächtiger Gegner, obwohl man ihm schon mehrmals das Ende seiner Herrschaft ankündigte. Wie Trumps Reaktion zeigt - "And I will tell you, it’s already happened that my attitude toward Syria and Assad has changed very much" - ist ein beträchtliches Risiko gegeben. Es wäre naiv anzunehmen, dass sich Assad über dieses Risiko nicht im Klaren ist.

Er kennt die Interessen der anderen Seite. Sonderbar, dass sie von den Journalisten bei Reuters, Le Monde, New York Times, SZ kaum oder am Rande oder überhaupt nicht erwähnt werden. Die andere Seite sind die USA, die Türkei, die sich in der Sache Giftgas-Angriff sehr mit Anklagen ins Zeug legt, ebenso der israelische Ministerpräsident Netanjahu, Saudi-Arabien und andere Golfstaaten. Ihnen geht es um Einflusssphären in Syrien, immer schon.

Einflusssphären und Sicherheitszonen

Eine derartige Anklage wie im Augenblick schwächt die Stellung Assads erheblich, wenn die internationale Gemeinschaft erneut das Thema "Sicherheitszonen" in Syrien auf den Tisch bringt. Schon bisher legitimierten sich völkerrechtswidrige Luftangriffe etwa der USA oder Frankreichs auf syrisches Terrain mit der Behauptung, dass Baschar al-Assad "de facto" keine Autorität mehr über diese Gebiete habe.

Diese Argumentationsrichtung, die nicht auf Recht und Gesetz gründet, sondern auf eine anders geartete Legitimation, lässt sich fortsetzen, indem man militärische Einsätze damit begründet, dass Assad als Verbrecher gegen sein Volk keine Legitimation mehr habe. Dass die USA mittlerweile Flugzeugbasen in den kurdischen Teilen Syriens einrichten, ist ein Indiz dafür, dass sich das Land auch unter Trump eine beständige Einflusszone als Macht im zentralen Nahen Osten aufbauen will.

Im an den Irak grenzenden syrischen Staatsgebiet kann man die Entstehung einer "sicheren Zone" beobachten, wie sie Washington im Auge hat. Gut möglich, dass dies letztlich auf eine Teilung von Syrien in Interessensgebiete mit jeweils einer Großmacht als Schutzmacht hinausläuft. Dass Russland bei vielen Vorwürfen in Zusammenhang mit dem Gasangriff als "mit verantwortlich" dargestellt wird, kann man auch unter dem Blickwinkel sehen, dass hier Verhandlungspolitik betrieben wird.

Die Interessen von Saudi-Arabien, Katar decken sich, was Syrien und Irak betrifft, hauptsächlich in einem Punkt mit dem Interesse Israels: Man will den Einfluss Irans und der schiitischen Milizen mit iranischen Verbindungen in Syrien und im Irak, in Syrien namentlich die Aktivität der Hizbollah, so stark wie möglich beschränken. Eine Schwächung Assads ist da von Vorteil. Eine militärische Präsenz der USA an der syrisch-irakischen Grenze ebenso.