"Der Putsch in der Ukraine hat die Büchse der Pandora geöffnet"

Andrej Hunko in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, deren Mitglied er ist. Bild: Catherine Monfils/Council of Europe

Andrej Hunko, europapolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag, über die Krisen in Europa dar, er fordert eine Entspannungspolitik gegenüber Russland

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Die EU steckt in einer tiefen Krise, in der Ukraine herrscht seit drei Jahren Krieg und die Beziehungen zu Russland sind auf einem Tiefpunkt. Lösungen scheinen in weiter Ferne. Andrej Hunko, europapolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag, im Interview mit Andrej Mantschuk.

Wie sehen Sie die Zukunft der Europäischen Union, in der viele vor allem ein Instrument für die Durchsetzung deutscher Wirtschaftsinteressen sehen? Wären eine Demokratisierung der EU und die Bildung eines wirklich einheitlichen und gleichberechtigten Europas möglich? Oder muss sich die EU auf eine Stagnation und möglichen Zerfall gefasst machen?

Andrej Hunko: Die EU befindet sich heute in einer historischen Krise, die sie in ihrer Existenz gefährdet. Durch den Brexit scheidet mit Großbritannien erstmals ein Land aus der EU aus und in vielen weiteren Ländern wächst die Skepsis gegenüber der EU. Diese Stimmung wird in den meisten Fällen von der Rechten eingefangen. Im Wesentlichen beobachten wir heute das Ergebnis einer äußerst neoliberal geprägten Form der europäischen Integration, die DIE LINKE immer kritisiert hat.

Wir streiten für eine Integration der Länder Europas unter anderen Vorzeichen: basierend auf solidarischer Kooperation und Entwicklung. Die EU hingegen war von Beginn an von Interessen der großen Wirtschaftsunternehmen und Banken geprägt und insbesondere seit dem Vertrag von Maastricht 1992 steht der Wettbewerb im Vordergrund. Im Vertrag von Lissabon, der 2009 in Kraft trat, wurde dieses Prinzip weiter fortgeführt. Er ist heute die vertragliche Grundlage der EU.

Natürlich wäre eine Demokratisierung der EU möglich. Auch könnte der Euro durchaus so gestaltet werden, dass er als Währungsunion funktioniert und nicht, wie aktuell, die Mitgliedsstaaten auseinander reißt. Aber die dafür notwendigen Kräfteverhältnisse sind nicht gegeben. Das macht ein Auseinanderbrechen durchaus möglich und man muss sich auf dieses Szenario vorbereiten.

Was ist von der bevorstehenden Wahl in Deutschland zu erwarten? Welche Veränderungen wären möglich?

Andrej Hunko: Natürlich hoffen wir auf ein gutes Ergebnis für DIE LINKE. Unser Ziel ist es, zweistellig zu werden und unsere Position als drittstärkste Kraft im Parlament auszubauen. Das wäre ein wichtiges Signal für ein sozialeres Land und eine solidarische Europapolitik. In jedem Fall deutet aber alles darauf hin, dass Kanzlerin Merkel im Amt bestätigt werden wird. Egal ob sie dann in einer Koalition mit der SPD oder mit der FDP regiert, es wäre ein schlechtes Zeichen für Deutschland und die EU, die bekanntlich stark von der Bundesregierung und den Interessen des deutschen Kapitals dominiert wird.

Die neue Mauer ist nicht mehr physisch, sondern sozioökonomisch

Wie schätzen Sie die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Folgen der Wiedervereinigung Deutschlands ein? Was wurde dadurch erreicht und was wurde verloren?

Andrej Hunko: Im Prozess der deutschen Wiedervereinigung wurden viele Chancen für einen wirklichen Neuanfang verpasst. Genau genommen wurde die DDR an die BRD angeschlossen, was Ausdruck der Siegermentalität Westdeutschlands war. Das öffentliche Eigentum der DDR wurde durch die Treuhand verramscht, westdeutsche Unternehmen kauften den Osten auf bzw. wickelten die staatlichen Unternehmen ab.

Dieser Prozess hat eine neue Mauer gebaut, die heute nicht mehr physisch, sondern sozioökonomisch ist. Auch ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Mauer sind Renten und Löhne im Osten geringer, viele Regionen leiden unter dem Wegzug der Menschen und es gibt wenige Entwicklungsperspektiven. Und das, obwohl große Summen aus den öffentlichen Haushalten für den "Aufbau Ost" verwendet wurden.

Ich denke, dass sich Ähnliches im Verhältnis West- und Osteuropas abgespielt hat, nachdem die Sowjetunion zusammengebrochen war. Der Prozess glich eher einem Raubzug mächtiger Unternehmen als dem Versuch, Osteuropa eine solidarische Entwicklung zu ermöglichen. Die historische Chance, die mit dem Ende der Blockkonfrontation Anfang der 1990er Jahre bestand, wurde leider vergeben. Das Ergebnis können wir heute betrachten: Die Ostpolitik der EU ist ein Scherbenhaufen, die Ukraine wurde in einen Krieg getrieben und das Verhältnis zu Russland ist auf einem historischen Tiefpunkt.

Die langjährige imperialistische Politik gegenüber den Nahost- und afrikanischen Ländern - militärische Invasionen, Unterstützung von politischen reaktionären Kräften, Ausbeutung von Bodenschätzen und Arbeitsressourcen der Dritten Welt - das alles führte zur Insolvenz dieser riesigen Region und provoziert weiterhin den Flüchtlingsansturm in Europa. Das fördert den Fremdenhass in der europäischen Gesellschaft und führt zum Aufschwung der Einflusskraft der Ultrarechten. Wie sehen Sie den Ausweg aus dieser Situation?

Andrej Hunko: Leider verkommt die Rede von der Bekämpfung der Fluchtursachen in diesem Zusammenhang häufig zu einer Floskel. Nichtsdestotrotz ist dies der Kern der Problematik. Ich sehe hier zwei wesentliche Bereiche die sich grundlegend ändern müssten.

Einerseits müssen wir zu einer friedlichen Außenpolitik gelangen, anstatt immer neue Kriege zu führen. Leider beobachten wir aber derzeit das genaue Gegenteil. Es wird immer mehr aufgerüstet und unter dem Deckmantel der "globalen Verantwortung" und der Menschenrechte werden die nächsten militärischen Interventionen vorbereitet. Diese Politik hat bereits einen großen Teil des Nahen Ostens zerstört und auch in vielen afrikanischen Staaten steigt die militärische Präsenz der Länder des "globalen Norden". Der Krieg ist die Fluchtursache Nummer eins und die Länder, die heute Wunschziel vieler Menschen auf der Flucht sind, sind mitverantwortlich.

Andererseits führt der globale Kapitalismus dazu, dass die Lebensbedingungen in immer mehr Ländern unerträglich werden und die Menschen ein besseres Leben in Europa suchen. Diese Entwicklung wird durch eine ungerechte Handelspolitik forciert, die die EU und ihre Mitgliedsstaaten maßgeblich mit vorantreiben. Migrantenorganisationen in Europa nutzen oft den Slogan "Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört". Das bringt es - leider - auf den Punkt. Eine gerechte Handelspolitik gegenüber den Ländern des globalen Südens wäre einer der wichtigsten Schritte zur Bekämpfung von Fluchtursachen.