"Eine Guantanamoisierung der Sicherheitspolitik darf es nicht geben"

Dietmar Bartsch am 10. Juni auf dem Parteitag. Bild: Die Linke/CC BY-2.0

Linke-Fraktionschef Dietmar Bartsch über Behördenversagen, Wahlkampfgetöse und die Fragen nach Rot-Rot-Grün

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Herr Bartsch, hat die Linkspartei die Bedeutung des Themas Innere Sicherheit vor Beginn des Wahlkampfes unterschätzt?

Dietmar Bartsch: Nein, angesichts des Terrors und der anschließenden Debatten über Gesetzesverschärfungen seitens der Großen Koalition war uns allen klar, dass Sicherheit ein zentrales Thema sein wird.

Sie sagten zu Beginn des Jahres, auch die Linke werde sich diesem Thema noch mehr stellen...

Dietmar Bartsch: ...Was wir auch tun!

Wäre bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und im Saarland für die Linke mehr drin gewesen, wenn Ihre Parteikollegen vor Ort auf Sie gehört hätten?

Dietmar Bartsch: Darum geht es nicht. Die Linke hat den Stellenabbau bei der Polizei in allen Wahlkämpfen glaubwürdig thematisiert. Wir sagen seit Jahren, dass es auf diesem Feld einen enormen Nachholbedarf gibt. Die Verantwortung für den Ist-Zustand tragen nicht wir, sondern diejenigen Parteien, die in Bund und Ländern regieren. Und das sind Union, SPD und Grüne.

Die Union hat mit dem Thema Innere Sicherheit die Wahl in NRW gewonnen, auch im Bund werden ihr in diesem Feld hohe Kompetenzwerte zugeschrieben.

Dietmar Bartsch: Das ist ja der Widerspruch. Der Union werden Kompetenzen auf dem Feld zugeschrieben, gleichzeitig fühlen sich immer mehr Menschen abstrakt verunsichert. Sich sicher zu fühlen, ist ein Bedürfnis vieler Bürger, das man nicht kleinreden darf. Wir Politiker sollten solche Sorgen ernst nehmen und zugleich Lösungen anbieten, aber bitteschön verantwortungsvolle!

Soll heißen?

Dietmar Bartsch: Die Instrumentalisierung und Angstmache, die die Union betreibt, halte ich für höchstproblematisch. Der Ruf nach "schärferen Gesetzen" ist eine überschaubare Strategie, mit der man keine Probleme löst, sondern neue schafft. Ob Videoüberwachung, Bundeswehr im Inneren oder Vorratsdatenspeicherung - da werden von Unionspolitikern beinahe wöchentlich neue, teilweise abstruse Vorschläge ins Feld geführt. Dieses Wahlkampfgetrommel halten wir für verantwortungslos und abstoßend.

"Gerechtigkeit und Frieden haben mit Sicherheit zu tun"

Laut Umfragen trauen die Wähler Ihrer Partei beim Thema Innere Sicherheit nur wenig zu.

Dietmar Bartsch: Wir Linke vertreten in der Tat einen anderen Ansatz als CDU, SPD und Grüne. Ich gebe zu, dass wir eben jenen in den kommenden Monaten noch besser vermitteln müssen. Klar ist aber: Die Linke gewinnt Wahlen seit jeher mit den Themen soziale Gerechtigkeit und Frieden.

Sie meinen, mit Sicherheitsthemen können Sie bei Ihrer Wählerklientel nicht punkten?

Dietmar Bartsch: Falsch. Beides, Gerechtigkeit und Frieden, hat mit Sicherheit zu tun, mit öffentlicher Sicherheit. Eine Tatsache, die oft übersehen wird. Es geht darum, ob Gruppen sich von der Gesellschaft abgehängt fühlen, weil sie nicht mehr am demokratischen Leben teilnehmen können; ob das Ehrenamt funktioniert; ob der öffentliche Dienst sein Versorgungsprinzip noch wahrnehmen kann. All das sind Sicherheitsthemen! Darum kümmert sich derzeit allerdings nur eine Partei: die Linke.

Sie sagten eben, Ihre Partei fordere seit langem mehr Stellen für Polizisten in Bund und Ländern ...

Dietmar Bartsch: Ich habe im Haushaltsausschuss bereits vor Jahren vor weiteren Einsparungen gewarnt. Dass Wolfgang Schäuble mit seinem Kurs die Kürzungen bei der Polizei forciert hat, ist unverantwortlich. Die nächste Bundesregierung hat die klare Aufgabe, einen genauen Zeitplan vorzulegen: Wie viele Polizeistellen sollen bis wann geschaffen werden? Wie und wann wird die Ausrüstung verbessert?

Die SPD nennt im Entwurf ihres Wahlprogramms die Zahl 15.000 - ginge die Linke da mit?

Dietmar Bartsch:.Das klingt zwar gut, ist aber nicht realisierbar. Das wissen die Damen und Herren der SPD genau. Die 15 000 Polizisten stehen nicht Schlange und warten auf grünes Licht, nein, die müssen solide ausgebildet werden, was bekanntlich nicht von heute auf morgen geschieht. Daher würde ich auch diesen Punkt unter Wahlkampfgetöse abheften.

Warum nennt die Linkspartei keine Zahlen?

Dietmar Bartsch: Wir starten keinen Überbietungswettbewerb. Sollte ich allen Ernstes sagen: Dann fordern wir halt 16.000 Stellen? Nein, das ist lächerlich, derlei karikiert die Herausforderung, vor der wir stehen. Jeder Fachmann weiß, wie viele Polizisten ausgebildet werden können. Noch mal: Wenn die SPD diese Zahl nennt, müsste sie auch sagen, wie und wo sie neue Polizeischulen errichten will. Denn anders wäre das gar nicht machbar.

Die Forderung nach mehr Polizei tritt verstärkt im Wahlkampf auf; es gibt keine Partei im Bundestag, die das nicht fordert.

Dietmar Bartsch: Das ist doch ein Fortschritt! Ich bin froh, dass die Erkenntnis inzwischen bei allen gewachsen ist. Es ist doch ein Skandal, dass seit 1998 in der Bundesrepublik rund 17.000 Polizeistellen abgebaut worden sind.

Laut Statistischem Bundesamt wurde der Großteil der Stellen in der Verwaltung abgebaut.

Dietmar Bartsch: Richtig ist, dass etwa 10 000 der abgebauten Stellen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer betrafen. Da kann man davon ausgehen, dass die in der Verwaltung beschäftigt waren. Folge war allerdings, dass mehr Beamtinnen und Beamten aus dem Vollzugsdienst in die Verwaltung geschickt wurden. Gelitten hat also auch der normale Streifendienst.

Sie fordern sowohl eine Personalaufstockung als auch einen Bürokratieabbau. Wie passt das zusammen?

Dietmar Bartsch: Wir fordern, die Vollzugsbeamtinnen und -beamten wieder von Verwaltungstätigkeit zu entlasten. Sie sollen sich auf das konzentrieren, wofür sie ausgebildet wurden.