Wahrheitsliebe in Zeiten der Cholera: Jemen-Berichterstattung mangelhaft

Nach einem saudischen Luftangriff 2015 auf Sanaa. Bild: VOA/gemeinfrei

Die New York Times schreibt London und Washington den Jemen-Krieg schön, die ARD ebenfalls

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Amnesty International hat die Bombe, die vor einem Monat in Jemens Hauptstadt 33 Opfer forderte, jetzt als US-Fabrikat identifiziert. 16 Zivilisten wurden getötet, 17 verletzt, darunter die fünfjährige Buthaina, deren Foto um die Welt ging. Laut Guardian fordern Menschenrechtsgruppen, den Export von Rüstungsgütern aus den USA, Großbritannien und Frankreich nach Saudi Arabien zu stoppen. Deutsche Medien stehen der humanitären Katastrophe, die nach Ansicht kompetenter Beobachter das Leiden Syriens längst übersteigt, oft immer noch mit Desinteresse gegenüber.

Der Jemen steht mit bislang schon einer halben Million Kranken für den schlimmsten Cholera-Ausbruch und die derzeit schärfste humanitäre Krise (siehe Jemen versinkt weiter in Not). Lange wurde der Jemen-Krieg von den meisten westlichen Medien ignoriert, man war mit Syrien und der Ukraine beschäftigt. Jetzt ist das eigentlich nicht mehr möglich.

Verschwiegene Hintergründe der Not

Doch scheinbar nur mühsam kommen unseren Qualitätsjournalisten Fakten über die militärischen Hintergründe der Katastrophe über die Lippen. Von einem Bürgerkrieg ist die Rede und von einer ominösen von Saudi-Arabien geführten Allianz, die dort militärisch eingreife, und von Iran, das man als Drahtzieher verdächtige. Die Verwicklungen der USA und Großbritanniens werden weniger erwähnt, wenn überhaupt unter "ferner liefen".

Am 1.September brachte die New York Times International (als Freitagsbeilage der Süddeutschen) den Artikel "Little Hope in Yemen as War and Cholera kill", der über zehn Spalten das Leid der Jemeniten beklagt. Erst in Spalte zehn, drei Seiten weiter hinten, fand sich der auf humanitäre Spenden bezogene Satz:

Die USA sind ebenfalls ein großer Geldgeber wie auch ein primärer Lieferant von Waffen zur Saudi-geführten Koalition. Obwohl die USA nicht direkt in den Konflikt verwickelt sind, haben sie die Saudi-geführte Koalition doch militärisch unterstützt ... (Übersetzung des Autors; Orginal: "The United States is also a major donor, as well as a primary supplier of arms to the members of the Saudi-led coalition. Althoug the United States is not directly involved in the conflict, it has provided military support to the Saudi-led coalition ...")

NYT int., Sept.1, p.4

Auf die Idee, den eher mickrigen Spenden für den kriegsverwüsteten Jemen die gewaltigen Kriegskosten entgegen zu halten, kam die New York Times (NYT) anders als Telepolis leider nicht. Eine Woche zuvor, am 25.Augst 2017, war die NYT in ihrem Artikel "The Slaughter of Children in Yemen" noch eine Spur konkreter geworden, wenn auch wieder erst im letzten Absatz:

Aber der Krieg befindet sich in einer Pattsituation und die Saudi-Koalition - und ihre amerikanischen Unterstützer, die Militärgerät, Luftbetankung und Zielerfassung beisteuern - können die fortgesetzten Tötungen von Zivilisten und Zerstörungen des wenigen, Was dem Jemen noch bleibt, einfach nicht erlauben. (Übersetzung des Autors. Original: "But the war is at a stalemate, and the Saudi coalition — and its American enablers, who provide military equipment, aerial refueling and targeting — simply cannot be allowed to continue killing civilians and destroying what little is left of Yemen.")

NYT 25.Aug.2017

Auffällig ist: Die tragende Rolle Großbritanniens wird verschwiegen, die Rolle der USA abwiegelnd dargestellt. Doch ohne logistische Federführung großer Militärmächte wie den USA und Großbritannien ist die gewaltige Zahl von 90.000 Luftangriffen auf das ärmste Land der Region kaum vorstellbar.

Die Unterstützung der USA für den Jemen-Kriegszug der Saudis ist laut Guardian schon seit März 2015 bekannt. Völkerrechtswidrige Angriffskriege und Menschenrechtsverletzungen (der eigenen Regierungen) werden in westlichen Medien nur zögerlich berichtet, beklagen immer wieder Kritiker. Der Nahost-Experte Michael Lüders, der es aufgrund seiner Prominenz immerhin ab und zu in öffentlich-rechtliche Sendungen schafft, schrieb zum Jemen:

Washington hat den Jemenkrieg offenkundig an London delegiert. Britische Offiziere sitzen in der Leitzentrale der saudischen Luftwaffe und koordinieren mit den Saudis die Angriffe im Jemen mit Hilfe amerikanischer Aufklärung.

Michael Lüders, "Die den Sturm ernten"

Die Saudis, so deutet Lüders an, hätten das durch eine rapide Steigerung ihrer Waffenkäufe bei britischen Rüstungsfirmen honoriert. Beim Einsatz dieser Waffen nehme Riad "bewusst und vorsätzlich" zivile Ziele ins Visier, was "ohne Wissen und Billigung der USA und Großbritanniens kaum möglich wäre", so Lüders; Ziel der Dauer-Bombardierung: Die zivile Infrastruktur, darunter Schulen, Krankenhäuser und "alles, was mit Landwirtschaft, Lebensmittel- und Wasserversorgung zu tun hat (…) sogar einzelne Kühe und Ziegen ... ".1

Die Absicht liegt laut Lüders auf der Hand: eine Hungersnot zu provozieren, weshalb die saudi-arabische Marine Jemens Häfen blockiere und den Luftverkehr stillgelegt hätte. Ähnliches bilanzierte schon 2016 der Schweizer Historiker Daniele Ganser in seinem Buch "Illegale Kriege: Wie die NATO-Länder die UNO sabotieren":2

Saudi-Arabien errichtete eine umfassende Seeblockade, was im stark von Importen abhängigen Jemen umgehend zu Nahrungsmittelknappheit und Treibstoffmangel führte. Auch mit Treibstoff betriebene Pumpen fielen aus, Not und Krankheiten breiteten sich aus. Die von Saudi-Arabien angeführte Militärkoalition bombardierte im Jemen auch zivile Objekte wie Krankenhäuser, Schulen, Universitäten, Lufthäfen, Moscheen, Fahrzeuge für den Nahrungsmitteltransport, Fabriken, Tankstellen, Telefonnetze und Elektrizitätswerke. Dadurch verstieß Saudi-Arabien klar gegen das Humanitäre Völkerrecht, welches Angriffe auf Zivilisten und zivile Infrastruktur verbietet

Daniele Ganser, "Illegale Kriege"

Keine US-Militäreinsätze im Jemen?

Soweit also die oft verschwiegenen Hintergründe der heutigen Not im Jemen. Inwieweit sind also die USA, wie die NYT schreibt, wirklich "not directly involved"? Sind sie nicht direkt involviert, weil sie, was die NYT wohlweislich verschweigt, diesen Krieg an die Briten delegiert haben?

Deren Zugehörigkeit zur Kriegskoalition, geschweige denn ihre federführende Rolle, wird nicht erwähnt. Man nennt lieber andere Golfstaaten, die Riad militärisch unterstützen, vor allem die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Die von der NYT vorgegebene Sprachregelung scheint sich, nebenbei bemerkt, auch durch viele deutsche Leitmedien zu ziehen.

Ein paar direkte Verwicklungen der US-Streitkräfte hätte jedoch auch die NYT bemerken bzw. in ihren Artikeln zur Not des Jemens erwähnen können: Im Mai 2016 sprach Pentagon-Sprecher Jeff Davies von einer "kleinen Zahl" von US-Soldaten im Jemen. Im April 2016 hätten diese US-Truppen der von Saudi-Arabien geführten Allianz und dem jemenitischen Militär bei der Einnahme der Hafenstadt Mukalla geholfen, die vom al-Qaida-Ableger AQAP kontrolliert wurde.

Vor der Küste hatte die US-Navy zu diesem Zeitpunkt das amphibische Angriffsschiff Boxer mit 4.500 Mann, das den Truppen der saudischen Allianz aber nur medizinische Hilfe geleistet haben soll. Doch schon im März 2015 wurde die Anwesenheit von US-Spezialeinheiten im Jemen belegt, als das Pentagon inmitten des Bürgerkriegs nach der Schließung der Botschaft 125 Soldaten überstürzt evakuieren musste.

Im Oktober 2016 wurden Raketen gegen den US-Zerstörer USS Mason vor der Küste Jemens vom Land aus abgefeuert, ohne diesen zu treffen. Als Vergeltung feuerte der US-Zerstörer USS Nitze gegen drei Radarstationen an der Küste Marschflugkörper. Die Stationen wurden von Huthi-Rebellen sowie den mit ihnen verbündeten Teilen der jemenitischen Streitkräfte kontrolliert. Im Januar 2017 wurde der erste im Jemen gefallene US-Soldat unter dem frisch angetretenen Präsidenten Trump von Telepolis-Autor Emran Feroz gemeldet.

Im Februar wurde bekannt, dass US-Spezialeinheiten im Jemen bis zu fünfzehn Frauen und Kinder getötet hätten. US-Soldaten hätten zusammen mit Soldaten der Vereinigten Arabischen Emirate nach schweren Kämpfen angeblich 14 al-Qaida-Kämpfer getötet. Deren Lager sei gut gesichert gewesen, die Kämpfer seien gut bewaffnet. Ein Kampfhubschrauber stürzte ab und wurde von einem Flugzeug durch eine Rakete zerstört, damit er nicht in die Hände der Gegner fällt. Im Juni erfuhren wir, dass US-Militärs Gefangene in Geheimgefängnissen im Jemen verhören.