Afrin: Erdogans Werk und Putins Beitrag

Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan. Bild: Kreml/CC BY-4.0

Wie die Kurden Nordsyriens in einem geopolitischen Machtpoker zum Abschuss freigegeben wurden

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"Allah uh akbar" - mit diesem in Dschihadistenkreisen üblichen Schlachtruf starteten gestern Nacht erste Kampfverbände den Angriffskrieg der Türkei gegen das kurdische Kanton Afrin. Diese erste Angriffswelle besteht hauptsächlich aus islamistischen Rebellengruppen, die aus anderen Regionen Syriens von Ankara eiligst verlegt wurden - und die als Kanonenfutter in die Schlacht geschickt werden. Erst danach sollen türkische Bodentruppen in das belagerte kurdische Selbstverwaltungsgebiet einrücken, das der türkische Staatspräsident zu "erwürgen" geschworen hat.

Dieser Feldzug, der nichts weniger als die Vernichtung der kurdischen Selbstverwaltung in Syrien zum Ziel hat (hiernach will Erdogan Manbij angreifen und "bis zur irakischen Grenze vorrücken"), wäre ohne die Freigabe des Luftraums über Afrin für türkische Kampfflugzeuge in dieser Intensität nicht möglich. Bereits am ersten Tag der Bombardements griffen türkische Flugzeuge in einer offensichtlichen Terrortaktik zivile Ziele direkt in Afrin an.

Den Luftraum über Afrin kontrolliert aber de facto Russland. Syrien ist längst aufgeteilt, filetiert in Einflusssphären, wobei Russland und der Iran westlich, die USA östlich des Euphrat ihre Claims abgesteckt haben. Rojava, die kurdische Selbstverwaltungsregion in Nordsyrien befindet sich somit sowohl in der amerikanischen, wie in der russischen Einflusssphäre. Afrin, wo vor kurzen noch russische Militäreinheiten stationiert waren, liegt im Einflussbereich Russlands.

Angehörige der Selbstverwaltung in Afrin haben sich bewaffnet und heute eine Generalmobilmachung erlassen, um sich gegen die Türken zu verteidigen. Bild: Maddison Herbert

Bislang haben es die Kurden Syriens verstanden, unter Ausnutzung der geopolitischen Widersprüche in der Region ihr Projekt einer basisdemokratischen Selbstverwaltung in Nordostsyrien zu forcieren - bislang. Russland hat sich offensichtlich entschlossen, die Kurden Afrins an Erdogan zu verkaufen. Vor dem Überfall auf Afrin haben hochrangige türkische Militärs und Geheimdienstler Moskau besucht, um sich die Erlaubnis für ihren Eroberungsfeldzug abzuholen. Offensichtlich haben sie diese Erlaubnis erhalten.

Kurdische Medien und Organisationen sprechen nun offen davon, dass Russland sich "auf die Seite der Türkei" gestellt habe. Kurdische Aktivisten in der Region erklärten inzwischen öffentlich, dass russische Stellen sie unumwunden auffordern, zu kapitulieren und Afrin dem Assad-Regime zu übergeben, um eine Invasion der Türkei zu verhindern. In einer offiziellen Stellungnahme der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG heiß es, dass der Krieg ohne Moskaus Einverständnis unmöglich wäre:

Wir wissen, dass ohne die Zustimmung der globalen Mächte und insbesondere Russlands, dessen Truppen in Afrin stationiert waren, die Türkei den Luftraum über Afrin nicht nutzen könnte, .... Deswegen ist Russland als Komplize genauso verantwortlich wie die Türkei, die Zivilisten in der Region massakriert.

YPG

Herauslösung der Türkei aus dem westlichen Bündnissystem durch Moskau

Moskau hat somit laut YPG de facto die Kurden in Afrin zum Abschuss durch die türkische Luftwaffe freigegeben (Moskau lässt die Kurden in Afrin fallen). Ohne massive Luftunterstützung wäre der Feldzug Erdogans in der sich nun entfaltenden Intensität nicht möglich. Bereits kurz nach Beginn der Luftschläge sind 153 Ziele angegriffen worden. Putin lässt somit Erdogan seinen herbeigesehnten Krieg gegen die Kurden Syriens führen - und der Kreml könnte diesem mörderischen Militärabenteuer Erdogans jederzeit den Wind aus den Segeln nehmen, indem er einfach den Luftraum über Afrin sperrt.

Es stellt sich natürlich hierbei die Frage, wieso Putin es Erdogan gestattet, in seiner Einflusssphäre in Syrien ein potenziell massenmörderisches Militärabenteuer zu beginnen. Die Antwort ist einfach: Weil es seinem geopolitischen Machtkalkül entspricht. Es ist für den Kreml einfach zu verführerisch, all die Optionen zu nutzen, die sich aus diesem moralisch verkommenen, aber machtpolitisch nur zu folgerichtigen Schachzug ergeben.

Russland kann Erdogans Soldateska westlich des Euphrat etwas zum Fraß vorwerfen, was die USA östlich des Euphrat - noch? - nicht können: das kurdische Selbstverwaltungsprojekt Nordsyriens, das der türkische Islamo-Faschismus schlicht vernichten will, weil er panische Angst vor der Ausstrahlungskraft dieses radikaldemokratischen Experiments hat.

Damit wird die Herauslösung der Türkei aus dem westlichen Bündnissystem durch Moskau weiter forciert, die Spannungen zwischen Washington und Ankara werden so angeheizt. Die Herauslösung der geopolitisch ungemein wichtigen Türkei (Bosporus!) aus der NATO ist ein strategisches Ziel Russlands in der Region. Eine ethnische Säuberung als Basis künftiger russisch-türkischer Annäherung - es ist ein blutiger Bilderbuchimperialismus, wie er Karikaturen des 19. Jahrhunderts entsprungen sein könnte, der gerade von Moskau und Ankara in Afrin praktiziert wird.

Nicht nur strategisch und langfristig, auch kurzfristig und taktisch bringt die türkische Intervention dem Kreml Vorteile. Erdogan ist nun, solange der Krieg gegen die Kurden dauert, hochgradig abhängig von Putin, er ist erpressbar, da Putin jederzeit die türkische Offensive durch eine Sperrung des Luftraums unterminieren kann.

Inzwischen zeichnet sich auch ab, welchen konkreten Preis Erdogan für seinen neuen Krieg in Moskau zahlen musste: Der Widerstand der islamistischen, von der Türkei unterstützten Rebellen in der Provinz Idlib ist weitestgehend zum Erliegen gekommen, die syrischen Regimetruppen Assads sind auf dem Vormarsch, da große Kontingente der Islamisten zum Angriff auf Afrin verlegt wurden. Idlib gegen Afrin - das ist das übliche imperialistische Geschacher, wie es der Kreml gerne jahrzehntelang - völlig zu Recht, etwa im Fall des Kosovo - dem Westen vorwarf.

Auch die USA gaben den Türken freie Hand

Zugleich bringt Moskau seinen großen imperialen Konkurrenten, die USA, in eine taktische Zwickmühle in Syrien. Washington muss sich zwischen zwei schlechten Optionen entscheiden: Entweder die USA unterstützen die Kurden und riskieren den endgültigen Bruch mit der geopolitisch wertvollen Türkei (Bosporus!), oder sie lassen Erdogan gewähren, was ihren Einfluss in der gesamten Region noch weiter schwinden lässt. Die USA sind offensichtlich nicht in der Lage, ihre Verbündeten in der Region zu schützen - wer wird noch künftig mit Washington kooperieren wollen?

Und selbstverständlich haben sich die USA bereits vor Beginn der Angriffe gegen die Kurden und für Erdogan (Bosporus!) entschieden: Ein Sprecher des Pentagon machte gegenüber einer türkischen Nachrichtenagentur am 17. Januar klar, dass Afrin nicht Teil der US-Koalition gegen ISIS sei und man mit diesen Kräften "überhaupt nichts zu tun" habe.

Damit gab auch Washington, aller offiziellen Rhetorik zum Trotz, der türkischen Armee freie Hand. Auch hier entschied bei der geopolitischen "Verlustminimierung" letztendlich das imperiale Kalkül gegen die Kurden, die man im Kampf gegen ISIS benutzte, um eigenen Verluste zu vermeiden - und die nun möglichst schnell unter Kontrolle gebracht werden sollen.

Hierbei ist die Vernichtung Afrins für Washington von Vorteil, da hierdurch den Kurden jegliches Verhandlungsgewicht genommen wird: Bislang konnten sie Washington gegenüber damit argumentieren, zur Not mit Moskau und dem Assad-Regime einen Ausgleich zu finden, um die USA zu Konzessionen östlich des Euphrat zu nötigen. Dies ist jetzt vorbei.

Und auch Deutschlands Haltung ist eindeutig: Kurz vor Beginn des türkischen Eroberungsfeldzuges einigten sich Berlin und Ankara auf einen weiteren Rüstungsdeal, bei dem türkische Panzer von Rheinmetall modernisiert werden sollen. Neben der Funktion als Absatzmarkt deutscher Waffen ist die Türkei für Berlin als "Partner" bei der Flüchtlingsabwehr von Interesse. Wobei es eben die Interventionen und Kriegsabenteuer dieses Regimes um Erdogan sind, die maßgeblich die Flüchtlingswelle der letzten Jahre beförderten.

Das islamistische Regime in der Türkei übt sich hingegen in einem Balanceakt, bei dem die geopolitischen Differenzen zwischen den USA und Russland ausgenutzt werden, um den imperialen Fiebertraum einer Wiedererrichtung des Osmanischen Reiches zu realisieren. Das eigene geopolitische Gewicht (Bosporus!) wird von Erdogan beim Lavieren zwischen Washington und Moskau eingesetzt, um von beiden Seiten Zugeständnisse zu erpressen.

Dieses Spielchen kann Ankara freilich nur so lange treiben, bis es Moskau und Washington dämmert, dass das türkische Hegemonialstreben in der Region eine größere Gefahr darstellt als ihre regionalen Differenzen. Ankaras brandgefährliche imperialistische Abenteuer könnten somit nur bei einer zeitweiligen taktischen Übereinkunft zwischen den imperial absteigenden USA einerseits und einem zum regionalen Machtdoktor aufsteigenden Russland wirksam unterbunden werden.

Der Hass auf Rojava eint die autoritären Regime der Region

Zudem kann Ankara bei der Intervention gegen die Kurden auf das Stillhalten des großen regionalen Konkurrenten, des Iran, verlassen. Teheran sieht die Kurden, die in etlichen Grenzregionen im Westen des Landes die Bevölkerungsmehrheit stellen, ebenfalls als eine Gefahr an. Letztendlich teilen alle autoritären Staaten in der Region das Bemühen, kurdische Emanzipationsbemühungen zu unterdrücken. Mögen auch Teheran und Ankara sonst verbissen um die Dominanz in Mittelost Kämpfen - bei der Unterdrückung der kurdischen Minderheiten kann sehr schnell ein gemeinsamer Nenner gefunden werden.

Der Hass auf Rojava eint die autoritären Regime der Region aber auch auf einer politischen Ebene. Es ist die Angst dieser unheiligen autoritären Allianz davor, dass dieses Experiment gelingen könnte, dass es auch auf ihre Länder ausstrahlen würde (Unheilige Allianz). Es ist die Angst davor, dass auch die Araber in etwa in Rakka Gefallen daran finden, ihre Angelegenheiten basisdemokratisch selbst zu regeln, ohne ein korruptes Regime wie die Assad-Clique durchfüttern zu müssen. Insofern ist Moskau und Damaskus eine türkische Okkupation Afrins lieber als ein demokratisches, föderales Syrien, dass die Kurden anstreben.

Und auch der Islamische Staat ist inzwischen wieder bemüht, als ein antikurdischer Machtfaktor in Erscheinung zu treten. Zeitgleich mit der türkischen Offensive startete der IS verstärkt Angriffe gegen die Syrischen Demokratischen Streitkräfte (SDF) im Süden Syriens. Rund 20 Kämpferinnen und Kämpfer der SDF sollen bei den Angriffen in der Region Deir Ezzor getötet worden sein.

Die Kurden, das größte Volk der Welt ohne eigenen Staat, sind schlicht das schwächste Glied der Machtkette in der Region, auf dessen Kosten nun der große Verlierer des Bürgerkrieges in Syrien, die Türkei, entschädigt werden soll. Damit wird eine unsägliche imperialistische Tradition fortgesetzt, bei der Interventionsmächte immer wieder die Kurden als Machtobjekt benutzten, um sie hiernach fallen zu lassen. Dies war auch 1991 im Gefolge des Golfkrieges unter dem US-Präsidenten George Bush (Senior) der Fall, als die USA zuerst den Aufstand gegen Saddam Hussein schürten, um hiernach die Kurden im Stich zu lassen.

Russland, das Ambitionen hat, die abgetakelten USA als regionale "Ordnungsmacht" in Mittelost zu beerben, praktiziert somit eine ähnlich rücksichtslose, ordinär imperialistische Politik. Dies Vorgehen Moskaus wirft auch einen Ausblick auf die alte neue Weltordnung nach dem Zerfall der US-Hegemonie: Die Akteure wechseln, die massenmörderische Praxis bleibt bestehen - solange das diesem ewigen Machtkrieg zugrunde liegende Gesellschaftssystem bestehen bleibt (Alte neue Weltordnung).