Der Traum von schrankenloser Videoüberwachung

Ein von der CDU initiiertes Berliner Volksbegehren für mehr Videoüberwachung will eine Pauschalerlaubnis für das technisch Machbare durchsetzen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Seit dem 13. September 2017 sammelt eine Berliner Initiative Unterschriften für die Ausweitung der Videoüberwachung in der Stadt. Das "Aktionsbündnis für mehr Videoaufklärung und Datenschutz wurde gegründet von Ex-Justizsenator Thomas Heilmann (CDU) und wird unterstützt von den beiden Polizeigewerkschaften.

Das Bündnis hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der durch ein Volksbegehren bzw. eine Volksabstimmung in geltendes Recht umgesetzt werden soll. Für die erste Stufe des Volksbegehrens hat das Aktionsbündnis bis Februar 2018 Zeit, um 20.000 Unterschriften zu sammeln. Bei Erfolg sind im zweiten Schritt 170.000 Unterschriften nötig, um eine Volksabstimmung zu ermöglichen. Bis Anfang Januar 2018 habe man laut Heilmann bereits über 17.000 Unterschriften sammeln können.

Im Zentrum des Entwurfes steht eine pauschale Erlaubnis für die Polizei, alles technisch Machbare nutzen zu dürfen. Die mit technischen Neuentwicklungen verbundenen tieferen Grundrechtseingriffe nimmt der Entwurf billigend in Kauf. Konkrete Vorkehrungen gegen mögliche Eingriffe künftiger Überwachungstechnologien gibt es nicht. Insgesamt fehlt es an Datenschutzbestimmungen, was den Titel des Gesetzes "Artikel-Gesetz für mehr Sicherheit und Datenschutz in Berlin" Lügen straft.

Ziel des Artikels ist es daher, die vom Gesetzentwurf ausgehende Gefahr für die Bürgerrechte deutlich zu machen. Der Artikel kritisiert die Fixierung auf das technisch Machbare, die auch in der bundesweiten Überwachungsdebatte eine große Rolle spielt. Die Kritik erfolgt aus der Sicht des juristischen Laien.

Was will der Gesetzentwurf?

Der Gesetzentwurf ist zweiteilig. Der erste Teil schlägt Änderungen des Berliner Polizeigesetzes "Allgemeines Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Berlin" (ASOG) vor. Die Änderungen sollen den breiten Einsatz von intelligenter Videoüberwachung legalisieren. Der zweite Teil des Entwurfes schlägt die Einrichtung eines "Berliner Instituts für Kriminalprävention" (BIK" vor, das unter anderem an neuen Überwachungstechniken forschen soll. Auf das Institut soll hier nicht näher eingegangen werden.

Zunächst soll hier ein Überblick über die wesentlichen Änderungen des ASOG gegeben werden. Schon dieser Überblick lässt die Probleme des fehlenden Grundrechtsschutzes erahnen. Die Zitate beziehen sich auf den Gesetzentwurf.

Geändert werden soll der §24a des ASOG. Der bisherige §24a regelt die Zulässigkeit von Videoüberwachung an "gefährdeten Objekten". Die vom Aktionsbündnis vorgeschlagene Neufassung beinhaltet folgende Änderungen:

  1. Laut Entwurf soll die Polizei "möglichst intelligente Videotechnik" einsetzen. Die automatisierte Auswertung der Daten mittels Software wird damit als Regelfall vorgeschrieben. Dazu soll die Polizei stets den "neuesten Stand der Technik" auswählen. Dieser Passus wird nicht näher konkretisiert.
  2. Zusätzlich sollen künftig auch Tonaufnahmen zulässig sein. Bisher waren nur Bildaufnahmen erlaubt. Im Entwurf wird die Art dieser Tonaufnahmen nicht näher bestimmt. Es fehlen auch Angaben dazu, wie mit den Tonaufnahmen umgegangen werden soll. Mit dieser Bestimmung ist die Speicherung und die softwaregestützte Auswertung der Tonaufnahmen legal.
  3. Die angestrebte Neufassung des Paragrafen 24a erlaubt Bild- und Tonaufnahmen an allen Orten, an denen auch bislang Videoüberwachung legal war. Zusätzlich sollen aber auch "gefährliche Orte" videoüberwacht werden dürfen. Die Berliner Polizeipraxis kennt auch jetzt schon "gefährliche Orte", im Polizeijargon "kriminalitätsbelastete Orte (kbO)" genannt. Das sind Orte, an denen die Polizei nach §21 verdachtsunabhängige Personenkontrollen vornehmen darf. Voraussetzung dafür ist derzeit die begründete Annahme der Wahrscheinlichkeit von Straftaten von erheblicher Bedeutung. Im Gesetzentwurf kommen die neu eingeführten "gefährlichen Orte" ohne die Einschränkung der Erheblichkeit aus. Die Hürde für den Einsatz von Videoüberwachung ist damit geringer als die für die Kontrolle von Personalausweisen.
  4. Die Speicherfrist für die erhobenen Daten wird auf einen Monat verlängert. Derzeit gelten unterschiedliche Fristen, aber meist müssen Videodaten recht zeitnah gelöscht werden.
  5. Die Bestimmung zur Kenntlichmachung der Videoüberwachung wird aufgeweicht. Bislang müssen Schilder zwingend auf die Überwachung hinweisen und die überwachende Behörde benennen. Im Gesetzentwurf wird diese Regelung umgewandelt in eine weniger verbindliche Soll-Vorschrift. Konsequenz: Zwar ist die Kenntlichmachung der Regelfall, könne aber entfallen, "wenn wichtige Gründe im Einzelfall dagegen sprechen" (Fußnote 10). Das öffnet Schlupflöcher, wie auch die Erläuterung im Fußnotenteil des Gesetzentwurfes zeigt: "Die Formulierung macht zudem deutlich, dass eine im Einzelfall (z.B. wegen Vandalismus) fehlende Kennzeichnung nicht die Rechtmäßigkeit der Datensammlung, -speicherung und -verarbeitung hindert.

Mittlerweile liegt ein von der Linksfraktion beauftragtes Gutachten vor, dass diese Regelung als verfassungswidrig einstuft. Gutachter Fredrik Roggan, Professor für Strafrecht an der Fachhochschule der Polizei des Landes Brandenburg, kritisierte, der Entwurf ermögliche eine verdeckte Videoüberwachung. Das Land Berlin habe jedoch nicht die gesetzgeberische Kompetenz, um eine derartige Regelung erlassen zu können. Diese liege beim Bund.

Neben dem §24a soll auch der §19a "Videoüberwachung zur Eigensicherung" geändert werden. Auch hier soll neben der Bildaufnahme künftig zusätzlich eine Tonaufnahme erlaubt sein. Die ursprüngliche Beschränkung auf Aufnahmen nur "in Fahrzeugen der Polizei" wird gestrichen. Laut Aktionsbündnis sollen auch außerhalb der Fahrzeuge Body-Cams getragen werden können. Erlaubt wird zudem das "Pre-Recording", also die Aufzeichnung des Geschehens in Situationen, in denen Polizisten angegriffen werden. Laut Aktionsbündnis soll so die "Entstehung der Situation" dokumentiert werden können. Die Speicherfrist für die so erfassten Daten soll von einem Tag auf vier Tage angehoben werden.

Das Hauptproblem des Vorhabens besteht in einer allzu offenen Erlaubnis für alle künftigen überwachungstechnischen Entwicklungen. Immer tiefere Grundrechtseingriffe durch neue Überwachungstechnologien werden damit pauschal als zulässig erklärt. In den folgenden Abschnitten wird gezeigt, welche Gefahren damit verbunden sind. Die weiteren Änderungen des Gesetzes sollen in dem Artikel nicht aufgegriffen werden.

Pauschalerlaubnis für das technisch Machbare

Das Aktionsbündnis verspricht auf seiner Homepage einen "gestärkten Schutz der gewonnenen Daten": "Dafür müssen wir die Regeln für die Behandlung von allen aufgezeichneten Bewegt- und Standbildern präzisieren und verbessern."

Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Der Datenschutz wird geschwächt durch unpräzise Regelungen im Gesetzentwurf. Besonders deutlich wird das an der Stelle, die die computergestützte Videoüberwachung erlaubt:

Die Polizei soll stets den neuesten Stand der Technik für ihre Einsätze wählen, um möglichst intelligente Videoaufklärung durchführen zu können.

Gesetzentwurf, Neufassung §24a, Absatz 1, Nr. 3

Übersetzen lässt sich das als Generalerlaubnis, alles technisch Machbare auch nutzen zu dürfen. Die Formulierungen "neueste Technik" und "möglichst intelligente Videoaufklärung" sind äußerst vage. Es ist unklar, was jeweils konkret darunter zu verstehen ist. Dennoch gibt es im Gesetzentwurf keine weiteren Konkretisierungen oder Begriffsbestimmungen. Es wird auch nicht unterschieden zwischen erlaubten und verbotenen Anwendungen.

Allenfalls in den Fußnoten äußert das Aktionsbündnis eine Vorstellung der Überwachungstechnik ihrer Wahl. Aber als Fußnotentext sind diese Darstellungen nicht Teil des Gesetzentwurfs und daher auch vollkommen unverbindlich. Schließlich sieht der Entwurf keine zeitliche Befristung vor für die Erlaubnis. Die Erlaubnis zur intelligenten Videoüberwachung würde daher für alle künftigen Entwicklungen der Überwachungstechnologie gelten.

In dieser Form ist der Gesetzentwurf grundrechtsfeindlich und gefährlich. Weil genauere Begriffsbestimmungen wie auch Datenschutzvorbehalte fehlen, schließt dieser Entwurf schon jetzt Grundrechtseingriffe kaum aus. Er macht sie im Gegenteil sogar wahrscheinlicher, weil der Entwurf alle künftigen Überwachungstechnologien ohne Vorbehalte einfach legalisiert. Die künftige technologische Entwicklung dürfte aber immer ausgefeiltere Überwachungsinstrumente hervorbringen. Diese greifen entsprechend auch immer tiefer in die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger ein.

Tiefere Grundrechtseingriffe durch neue Instrumente

Technologische Neuentwicklungen können auch zu tieferen Grundrechtseingriffen führen. Das zeigt ein kurzer Vergleich zwischen Videoüberwachung als bloße Bildaufzeichnung und als biometrische Gesichtserkennung. Die folgende Differenzierung greift die Argumente von Kritikern der Gesichtserkennung auf (siehe die Stellungnahmen zur biometrischen Gesichtserkennung vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages, von der Konferenz der unabhängigen Datenschutzbehörden des Bundes und der Länder und vom Deutschen Anwaltsverein).

Die technologische Entwicklung kann in zwei Richtungen verlaufen. Einerseits kann sie die vorhandenen Instrumente stetig verbessern, ohne sie grundlegend zu verändern. Andererseits kann sie neue Instrumente mit neuen Eigenschaften schaffen. Die Videoüberwachung der Zukunft kann einen deutlich anderen Charakter haben als Videoüberwachung heute. "Videoüberwachung" ist also nicht gleich "Videoüberwachung". Die Verwendung des gleichen Etiketts kann über die Unterschiede zwischen den verschiedenen Instrumenten hinwegtäuschen.

Neu ist ein Instrument im Bereich der Videoüberwachung dann, wenn:

  • mit dem Bildmaterial andere technische Vorgänge verbunden werden,
  • diese Vorgänge mehr und andersartige Informationen als vorher generieren
  • und diese zusätzlichen Informationen einen tieferen Grundrechtseingriff zur Folge haben.

Die Nutzung eines derart neuen Instrumentes böte dem Staat also die Möglichkeit, mehr und anderes über die Bürger zu wissen als bisher. Das ist bei der biometrischen Gesichtserkennung der Fall. Diese kann erheblich mehr Informationen generieren als die bloße Aufzeichnung von Bilddaten.

Die biometrische Gesichtserkennung ist nach diesen Kriterien ein neues, anderes Instrument als die bloße Bildaufzeichnung durch Kameras. Setzt man Gesichtserkennung auf allen deutschen Bahnhöfen ein, ist es möglich, sekundenschnell Bewegungsprofile für eine große Zahl von Menschen zu erstellen. Es mag zwar sein, dass man aktuell keine Bewegungsprofile plant. Gesetze und Wünsche können sich aber ändern. Daher müssen alle Möglichkeiten durchdacht werden, die Staat hat, sobald er erst einmal im Besitz einer solchen Überwachungsinfrastruktur ist.

Solange der Staat "nur" aufzeichnet, aber keine Software einsetzt, wären Bewegungsprofile nahezu unmöglich. Um die Wege einer Person nachzuvollziehen, müsste das gesamte Videomaterial aller Bahnhöfe gesichtet werden. Der Aufwand an Zeit und Personal wäre zu hoch. Folglich erzeugt die bloße Aufzeichnung "lediglich" das Bild einer bestimmten Person an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Dieses Bild ist mit keinen weiteren Informationen verknüpft. Die Identität der Person muss erst noch ermittelt werden.

Mit der biometrischen Gesichtserkennung ändert sich das deutlich. Sie erfasst genau wie die Aufzeichnung das Bild einer Person inklusive Zeit- und Ortsangabe. Aber sie identifiziert sie auch namentlich durch den Abgleich des Bildes mit einer Datenbank. Schon dadurch erzeugt Gesichtserkennung zusätzliche Informationen. Jetzt weiß man, dass eine bestimmte Person X sich zur Zeit Y an Ort Z aufgehalten hat. Durch rechnergestützte Verknüpfung der Informationen aller Kameras auf allen deutschen Bahnhöfen entsteht zudem in Sekundenschnelle das Bewegungsprofil: Man weiß ohne großen Aufwand, welche Strecken diese Person wann zurückgelegt hat. Das kann man gleichzeitig für eine große Zahl von Personen machen.

Die automatisierte Auswertung der Videobilder mit Hilfe von Software sorgt also dafür, dass mehr Informationen über die Überwachten möglich werden und der Aufwand zur Gewinnung dieser Informationen sinkt. Werden diese Möglichkeiten ausgeschöpft, ist auch der Grundrechtseingriff tiefer. Für den Deutschen Anwaltsverein (DAV) steht deshalb fest:

dass insbesondere die Möglichkeit, die im öffentlichen Raum videografierten Personen automatisch anhand ihrer Biometrie zu identifizieren, erhebliche Grundrechtsrelevanz hat, weil für die Bürgerinnen und Bürger das Risiko besteht, sich nicht mehr anonym in der Öffentlichkeit bewegen zu können.

Deutscher Anwaltsverein

Die bloße Aufzeichnung erlaubt mir weiterhin Anonymität. Der Staat weiß nicht, wo ich mich aufhalte. Mit der Gesichtserkennung kann diese Anonymität aufgehoben werden. Der Staat kann nun alle meine alltäglichen Wege kennen. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung billigt dem Einzelnen zu, dass er prinzipiell selbst entscheidet, wann und wie viel er von seinem Leben preis gibt. Bewegungsprofile hebeln dieses Recht aus, da der Staat sich diese Informationen ungefragt holt.

Die Pauschalerlaubnis ist grundrechtsfeindlich

Tiefere Grundrechtseingriffe durch neuartige Instrumente müssen in der Gesetzgebung berücksichtigt werden. Grundrechtspolitisch heißt das: Sie können nicht pauschal legalisiert werden. Der mögliche Missbrauch der Überwachungsinfrastruktur muss verhindert werden durch klare und eindeutige Vorschriften. Jedes Gesetz, dass dem Staat solche Mittel in die Hand gibt, muss gewissermaßen verfassungsfest geschrieben sein.

Verfassungsfest heißt (aus meiner Sicht des juristischen Laien): Gesetze dürfen nicht so formuliert sein, dass sie einen grundrechtswidrigen Einsatz von Überwachung zulassen. Es müssen also die verfassungsrechtlichen Grenzen der Überwachung im jeweiligen Gesetz klar benannt sein. Auch muss abgewogen werden, wie hoch der Grundrechtseingriff ist und wie weit dieser welcher konkreten Personengruppe unter welchen Bedingungen zumutbar ist. Die Frage der Verhältnismäßigkeit muss explizit in den Gesetzen angesprochen sein. Es darf gar nicht dazu kommen, dass erst der Gang zum Bundesverfassungsgericht das Recht des Überwachten sicherstellt (dazu siehe auch: Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 23. Februar 2007).

Der Gesetzentwurf des Berliner Aktionsbündnisses wird diesen Anforderungen nicht gerecht. Formulierungen wie "der neueste Stand der Technik" und "möglichst intelligente Videoaufklärung" sind blind gegenüber den Unterschieden zwischen den Überwachungsinstrumenten. Der Entwurf blendet die Möglichkeit neuartiger Instrumente mit größerer Eingriffstiefe grundsätzlich aus. Das geschieht schon rhetorisch, indem alles gleichermaßen "Videotechnik" oder "Videoaufklärung" genannt wird. Es gibt folglich auch keine Vorgaben, die etwaige Grundrechtseingriffe künftiger Technologien in irgendeiner Art beschränken.

Die Pauschalerlaubnis ist undemokratisch

Die geforderte Abschätzung der Grundrechtsfolgen und der Verhältnismäßigkeit kann nur gelingen, wenn man die Überwachungstechnologie kennt. Nur dann kann man die Auswirkungen des Gesetzes auch konkret beschreiben. Und nur dann kann die Frage der Verhältnismäßigkeit überhaupt erst sinnvoll, nämlich anhand von konkreten Fällen und Fakten, diskutiert werden. All das ist aber die Voraussetzung für die Formulierung von grundrechtskonformen Regelungen.

Dabei mag der Gesetzgeber die Freiheit haben, Gesetze so offen zu formulieren, dass sie auch für bislang noch unvorhersehbare technische Entwicklungen gelten können. In diesem Fall aber sollte er dennoch klar bestimmen, welche technischen Fähigkeiten erlaubt und welche unzulässig sind. Er muss sicherstellen, dass Bürger und Politik nicht durch neue Instrumente und ihre Grundrechtseingriffe unangenehm überrascht werden. Politisch ist es also geboten, dass im Falle von technologischen Neuentwicklungen der Gesetzgeber auch erneut entscheiden muss. Richtig (vielleicht nicht juristisch, aber politisch) wäre es also, die Gesetzgebung immer auf die bekannten Überwachungstechnologien zu beschränken.

Der Entwurf des Berliner Aktionsbündnisses kümmert sich nicht um derartige Bedenken. Er erlaubt den Einsatz aller Überwachungssysteme, die künftig entwickelt werden. Keiner kann jedoch heute schon absehen, wohin sich die Überwachungstechnologie entwickeln wird. Daher weiß jetzt auch niemand, welche Leistungsfähigkeit künftige Technologien haben und welche Grundrechtseingriffe daraus folgen werden. Der Gesetzentwurf nimmt diese Folgen billigend in Kauf, ohne sie kennen und beurteilen zu können. Der Entwurf schließt etwaige negative Auswirkungen auf die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger mit keinem Wort aus.

Die Grundrechtseingriffe durch neuere Systeme würden den Bürger unvorbereitet treffen. Welche Instrumente genutzt werden, soll nach Wunsch des Aktionsbündnisses allein die Polizei entscheiden

Mit Inkrafttreten des Gesetzes soll die Polizei die jeweils beste verfügbare Technik einsetzen. Unter anderem über das in Artikel 2 geregelte Forschungsinstitut wird gewährleistet, dass der Polizei stets der neuste Stand der Technik für die Aufklärung bereitsteht. Welche Technik zum Einsatz kommt, ist von der Polizei nach polizeilichen Kriterien selbst zu entscheiden.

Gesetzentwurf, Fußnote 9

Eine demokratische Mitsprache wird ausgeschlossen. Der Gesetzgeber soll und muss entsprechend nicht erneut befragt werden, wenn ein neues Instrument von der Polizei eingeführt wird. Es gäbe dazu weder in der Öffentlichkeit noch im Parlament eine Debatte.

Die Pauschalerlaubnis des technisch Machbaren schließt die Notwendigkeit aus, das Gesetz an den neuesten technologischen Stand anzupassen. Also könnte die Polizei unbemerkt von der Öffentlichkeit neue Instrumente einführen. Die Bürgerinnen und Bürger können so nicht wissen, auf welchem Stand die Überwachungstechnik ist und worauf die neuere Technik fokussiert. Sie wissen daher nie genau, unter welchen Umständen sie in das Fadenkreuz polizeilicher Ermittlungen geraten würden. Das dürfte ein diffuses Gefühl des Überwachtwerdens verstärken. Grundlegende Freiheiten werden dann nicht mehr unbefangen wahrgenommen.

Videoüberwachung in Wohngebieten

Neben der Pauschalerlaubnis für das technisch Machbare gibt es ein weiteres Problem, das am Gesetzentwurf des Aktionsbündnisses auffällt. Der Entwurf ist intransparent hinsichtlich der Konsequenzen der ausgeweiteten Überwachungsbefugnisse. In einer späteren Volksabstimmung sollen die Bürger über dieses Gesetz entscheiden. Sie können die Folgen dieses Gesetzes aber nicht ausreichend erkennen. Gezeigt werden soll diese Intransparenz am Beispiel der Überwachung von Wohngebieten. Diese ist laut Entwurf möglich. Diese Möglichkeit und ihre Folgen für die Grundrechte werden jedoch mit keinem Wort erwähnt.

Der Gesetzentwurf des Aktionsbündnisses erlaubt intelligente Video- und Tonüberwachung an so genannten "gefährlichen Orten". Die Definition der "gefährlichen Orte" ist vage. Prinzipiell könnten auch Wohngebiete zu den "gefährlichen Orten" gehören und daher auch Objekt der Überwachung werden. Das erhöht die Gefahr, dass Unbeteiligte ins Visier der Polizei geraten.

Die Definition "gefährlicher Orte" wird in dem selben Paragrafen vorgenommen, der die Überwachung ermöglichen soll:

1. § 24a ASOG wird neu gefasst wie folgt:

§ 24 a Datenerhebung an gefährdeten Objekten und gefährlichen Orten

(1) Die Polizei kann personenbezogene Daten durch die Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen erheben:

[...]

2. an gefährlichen Orten, soweit tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass dort Straftaten verabredet, vorbereitet oder verübt werden [...]

Gesetzentwurf, Neufassung §24a, Absatz 1, Nr. 2

In Berlin gibt es auch nach derzeit geltendem Polizeigesetz (ASOG) einen "gefährlichen Ort", der zugleich ein Wohngebiet ist: die Rigaer Str., in der es eine Reihe von besetzten Häusern gibt und in der es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kommt. Die Rigaer Straße gehört zu einer Reihe von Gebieten, die von der Presse als "gefährliche Orte" und von der Polizei als "kriminalitätsbelastete Orte (kbO) bezeichnet werden. Die Definition eines "kbO" leitet sich aus dem ASOG ab:

Die Definition eines kbO (Abkürzung für einen kriminalitätsbelasteten Ort) ergibt sich aus dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz - ASOG Berlin. Danach setzt ein kbO voraus, dass dort Straftaten von erheblicher Bedeutung begangen werden, also zum Beispiel Raubtaten, Brandstiftungen, gefährliche Körperverletzungen, gewerblicher/bandenmäßiger Taschendiebstahl, Drogen-Handel usw.

Offizieller Webauftritt der Stadt Berlin

Die Gefährlichkeit eines Ortes wird durch den Paragrafen des ASOG bestimmt, der die Befugnis zur Identitätsfeststellung regelt, also die Berechtigung zu verdachtsunabhängigen Personenkontrollen durch die Polizei:

(2) Die Polizei kann ferner die Identität einer Person feststellen,

1. wenn die Person sich an einem Ort aufhält,

a) von dem Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass

aa) dort Personen Straftaten von erheblicher Bedeutung verabreden, vorbereiten oder verüben.

§ 21a, ASOG

In diesem Absatz findet sich die Formulierung wieder, dass an diesen Orten "Straftaten von erheblicher Bedeutung" begangen werden. Die im Gesetzentwurf vorgenommene Definition "gefährlicher Orte" lehnt sich an diesen Paragrafen aktuellen ASOG an. Darauf verweist die Fußnote 5 im Gesetzentwurf. Auffällig ist zudem, dass der Entwurf die Hürde für den Grundrechtseingriff senkt. Die verdachtsunabhängigen Kontrollen dürfen nur bei "Straftaten von erheblicher Bedeutung" erfolgen. Diese Einschränkung der Erheblichkeit soll gestrichen werden. Videoüberwachung könnte laut Entwurf auch bei weniger schwerwiegenden Straftaten zum Einsatz kommen.

Die bereits jetzt als "kbO" eingestuften Orte Berlins dürften auch laut Gesetzentwurf die Orte sein, an denen die Polizei künftig "möglichst intelligente Videoüberwachung" durchführen darf. Die meisten bisherigen "gefährlichen Orte" sind zwar öffentliche Orte wie Plätze oder Parks. Mit der Rigaer Straße steht aber auch ein reines Wohngebiet in der Liste.

Wohngebiete unterscheiden sich jedoch von öffentlichen Orten. Öffentliche Orte kann man meiden - und damit meidet man auch die Kameras. Dagegen müssen Anwohner ihr Wohngebiet betreten. Sie können sich der Überwachung nicht entziehen. Der Einsatz intelligenter Videoüberwachung in Wohngebieten ist ein starker Grundrechtseingriff, weil sie Unbeteiligte betrifft. Die Eingriffstiefe nimmt zu, je ausgereifter die Überwachungstechnik ist. Das Auflösevermögen von Kameras und die Sensibilität von Mikrofonen werden immer besser werden. Entsprechend ist es denkbar, dass frei schwenkende Kameras Menschen auch durch die Fenster ihrer Wohnungen filmen können. Ebenso denkbar ist die Aufzeichnung von Kneipengesprächen in akkurater Qualität.

Gezielte Intransparenz und falsche Datenschutzversprechen

Der Gesetzentwurf erwähnt die Möglichkeit der Wohngebietsüberwachung mit keinem Wort. Er geht der Kritik an der Überwachung von Wohngebieten aus dem Wege. Allerdings zeigt sich in einem anderen Zusammenhang, dem der Überwachung von Fahrradabstellplätzen, dass das Aktionsbündnis die Grundrechtsproblematik von Wohngebietsüberwachungen kennt. Diese Kenntnis wird jedoch durch argumentative Winkelzüge verschleiert.

Der Gesetzentwurf fordert eine dauerhafte Überwachung von "gefährlichen Orten", wenn es sich um belebte Orte oder um große Fahrradabstellplätze handelt (Gesetzentwurf, Neufassung §24a, Absatz 1, Nr. 3).

Die Überwachung der Fahrradabstellplätze wird in einer Fußnote näher erläutert. Hier räumt das Aktionsbündnis ein, dass die Überwachung eines Ortes, dessen Betreten nicht vermieden werden kann, ein Grundrechtseingriff sei. Allerdings geschieht das nur, um zu zeigen, dass dieser Eingriff bei den Fahrradabstellplätzen gerade nicht vorliege:

Die Überwachung von großen Fahrradabstellplätzen (gemeint sind insbesondere Anlagen für 100 und mehr Fahrräder) dient der Bekämpfung von Diebstählen. Der Eingriff in die Grundrechte der Nutzer ist gering, weil das Betreten der gekennzeichneten Abstellplätze leicht vermieden werden kann, indem man sein Fahrrad außerhalb des bewachten Abstellplatzes abstellt.

Gesetzentwurf, Fußnote 7

Das dient allein der Rechtfertigung der Überwachung an diesen Plätzen als unproblematisch. Das Argument provoziert jedoch eine Frage: Sollen andere Orte, die man nicht meiden kann, ebenfalls überwacht werden? Wie sieht es dann mit dem Grundrechtseingriff aus? Dem hält das Bündnis entgegen:

Bereiche, deren Betreten nicht vermieden werden können, sollen nicht zum Zwecke des Diebstahlschutzes überwacht werden.

:Gesetzentwurf, Fußnote 7

Was oberflächlich beruhigen mag, ist bei genauerem Hinsehen eine Form des überspezifischen Dementis. Denn man sagt nicht, dass diese Bereiche generell von der Überwachung ausgenommen sein sollen. Nur der Zweck des Diebstahlschutzes entfällt als Überwachungsanlass. Das heißt aber, dass alle anderen Straftaten weiterhin Grund für eine Überwachung eines solchen Bereiches sein können.

Der Gesetzentwurf schließt die Überwachung derartiger Gebieten nicht explizit aus. Die Überwachung von Wohngebieten bleibt folglich möglich, auch wenn das Aktionsbündnis weiß, dass dessen Einwohner sich der Überwachung hier nicht entziehen können. Folgerichtig wäre es gewesen, dieses Problem offen und direkt in den Erläuterungen des Entwurfes anzusprechen. Das unterbleibt. Angesichts des vom Bündnis eingeräumten Wissens um den Grundrechtseingriff wirkt das wie Absicht. Offenbar soll das Problem der Überwachung von Wohngebieten durch Verschweigen, argumentative Umwege und durch vorgeschobene Dementis verdunkelt werden. Die angestrebten erweiterten Überwachungsbefugnisse und ihre Konsequenzen werden jedenfalls für den Leser des Entwurfs nicht vollständig erkennbar.

Diese Intransparenz ist gepaart mit populistischen Datenschutzversprechungen. Ein solches Versprechen findet sich in der Fußnote 1, in der das Gesetzesvorhaben allgemein erläutert wird:

Noch entscheidender ist jedoch, dass das Gesetz die Entwicklung neuer intelligenter Auswertungen erlaubt, die wie ein automatischer Filter die relevanten Daten identifizieren können und eine Zuführung ausschließlich dieser Daten für eine weitere Bearbeitung ermöglicht. Über Forschung und Entwicklung lassen sich die bereits technisch möglichen Ansätze deutlich verbessern. Auf diese Weise werden weitere Möglichkeiten geschaffen, Daten von unbeteiligten Passanten zwar technisch zu erheben, sie aber auszublenden, so dass keine natürliche Person sie zu sehen bekommt. Moderne Technik, zu deren Erforschung eigens ein Institut gegründet wird, kann ermöglichen, dass die Daten keiner Person zugeordnet werden, so dass hinterher niemand weiß, dass sich diese unbeteiligten Passanten an dem betreffenden Ort aufgehalten haben. Auf diese Weise stärkt das Gesetz sowohl die Sicherheit als auch den Datenschutz in Berlin.

Gesetzentwurf, Fußnote 1

Diese Aussagen sind trügerisch. Der Gesetzentwurf erlaubt eine solche Entwicklung, aber er schreibt sie nicht vor. Die Verpixelung Unbeteiligter ist im Wortlaut des Entwurfs nicht enthalten. Sie ist also nicht zwingend vorgegeben. Die Unkenntlichmachung Unbeteiligter wird lediglich in den Fußnoten erwähnt. Die Fußnote ist jedoch kein Teil des Gesetzestextes, mithin vollkommen unverbindlich. Es fehlt also jede Garantie, dass die unbeteiligten Personen auch wirklich "ausgeblendet" werden. Die vermeintliche Stärkung des Datenschutzes ist folglich eine Täuschung. Nur eins ist wirklich sicher mit diesem Entwurf: Er öffnet Tür und Tor für immer tiefere Eingriffe in die Bürgerrechte.