New York Times lesen in Magdeburg: Leib, Stadt und Medien

Head Canon: Medien im epikritischen Zeitalter. Teil 4

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Die Architektur der nächsten Gesellschaft ist nicht mehr nur die von Innen und Außen (die Höhle), Oben und Unten (der Palast), Erreichbar und Unerreichbar (der öffentliche und der private Raum), sondern die des Labyrinths. Optimiert wird die Redundanz des Redundanzverzichts. An jeder Ecke wird neu ausgehandelt, welche Überraschung an der nächsten Ecke zu erwarten ist.

Dirk Baecker

IV.1 Der Kanon der Ungewissheit

In den ersten Teilen meiner Essay-Reihe ging es darum, dass Narrative, die von Medien fortgeschrieben werden, heute nicht mehr einfach so akzeptiert würden. Etablierte Medien würden deutlich wie nie in Frage gestellt. Darüber hinaus wäre die westliche Gesellschaft von früher nicht gekannter Ungewissheit in allen Teilsystemen geprägt.

Das ist eine Beobachtung, die Mitte der 1990er Jahre in Soziologie und Philosophie aufkam und seitdem nicht mehr verschwunden ist. Man gewinnt den paradoxen Eindruck, dass es einen medialen Kanon der Ungewissheit gibt - ein Kanon, dessen Bestandteile1 zwar jeweils verschiedene Aspekte von Ungewissheit behandeln, der insgesamt aber festlegt, dass die einzige Gewissheit heute die Ungewissheit ist. Aber ist das wirklich so?

Einerseits: Handelt es sich vielleicht nur um die Ängste einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse (die Andreas Reckwitz als "neue akademische Mittelklasse2 bezeichnet), die in Beziehungen zu Medien und Politik die beobachtete Ungewissheit womöglich erst erzeugt, und gerade dadurch erst von anderen Klassen (mit Reckwitz der "alte Mittelstand" und die "Unterklasse"3) in Frage gestellt wird, und die sich im Angesicht des Infrage-gestellt-werdens bedroht sieht?

Und andererseits: Selbst wenn das westliche, globalisierte Gesellschaftsbild und das, was wir darüber für wahr und richtig halten, immer ungewisser wird, muss man sich dieser Verunsicherung hingeben? Verleiht nicht vielleicht eine zeitweise Rückbesinnung aufs Lokale (und zwar nicht auf alte Narrative wie die Nation, sondern auf die Dynamik des eigenen Wohnorts) jene Sicherheit, die von anderen Narrativen nicht mehr zu erwarten ist?

Ich bin mir bewusst, dass vielen Menschen heute gerade das Lokale als bedroht erscheint ("Man kann ja abends nicht mehr auf die Straße gehen") und dass mir aus dieser Sicht linksliberale Naivität vorgeworfen werden dürfte. Und aus linksliberaler Sicht könnte eine Rückbesinnung auf das Lokale suspekt erscheinen (wie eine Einladung an rechtes Denken). Daher ist mir die angedeutete Unterscheidung wichtig: Es geht mir nicht um ein statisches Lokales (das man zwanghaft bewahren, vor Fremdem "schützen" und bestenfalls zur Selbstdarstellung präsentieren will), sondern um ein dynamisches Lokales (das überrascht, einlädt und gerade dadurch stabilisierender Ankerpunkt individueller Erfahrung ist). Ein Widerspruch?

Von diesen Zweifeln ausgehend verlasse ich in diesem vierten und im folgenden fünften Teil der Essay-Reihe die bis jetzt eingenommene Perspektive. Ich verstehe den Beobachter jetzt nicht als System, das gesellschaftliche Teilsysteme (Medien, Politik) beobachtet, sondern als Subjekt, das in der Gesellschaft mit Medien und Politik individuelle Erfahrungen macht. Über solche Erfahrungen denkt man nicht nur bewusst nach, sondern kann im phänomenologischen Sinne davon auch leiblich betroffen sein. Sie zeigen sich dann als ganzheitliche Situationen, noch vor der intellektuellen Reflexion.

Ausgangspunkt ist das Beispiel aus der Einleitung dieser Reihe: dass in Medien reproduzierte radikale Aussagen "[zu einer Reaktion] bedrängen. Sie fokussieren auf sich und engen den Blick auf sich ein. Sie fragen: 'Auf welcher Seite stehst du?' und sie fordern: 'Du musst dich entscheiden'. Sie setzen unter Druck."4 Radikale Aussagen in diesem Sinne sind, ganz wertfrei, alle Aussagen, die einen vom Individuum als sicher angenommenen "Kanon" angreifen oder gefährden, egal ob es um wissenschaftliche Aussagen geht, Wissen um politische Konstellationen, gesellschaftliche Normen und Werte, angemessene Verhaltensweisen, religiöse Überzeugungen, fiktionale Welten, u.a. Ein solcher "Kanon" wird überindividuell ausgehandelt und medial fortgeschrieben. Je mehr sein Status wirklich kanonisch ist (statt bloß Tradition5), wird seine Gefährdung als Gefahr verstanden und möglicherweise auch verteidigt. Alle Beispiele aus dieser Essay-Reihe zeigten so etwas: Donald Trump, der unser Wissen um das US-amerikanische Präsidentenamt und um sich selbst mit jedem Tweet in Frage stellt; die AfD, die nicht nur das etablierte Parteiensystem in Deutschland gefährdet; die New York Times, die sich für ihre Irak-Berichterstattung entschuldigen musste; Printmedien wie Junge Freiheit, Tichy's Einblicke oder CATO, die etablierteren Printmedien heute prominent gegenüber stehen; die geänderte Rolle der Tagesschau, die nicht mehr als unhintergehbare Instanz angesehen wird.

Solche und ähnliche Fälle stehen für die Ablösung alter Gewissheiten. Stattdessen gibt es, je nach Standpunkt, Hoffnungen und Ängste. Beides wird wiederum medial verarbeitet und drängt zu Reaktionen. Auf Massenmedien bezogen betrifft das wenigstens die Entscheidung, ob und was man noch lesen und glauben soll.

Konzentriert man sich sehr auf solche Ungewissheiten, dann droht man zu vergessen, dass die konkret wahrnehmbare Welt um einen herum nach wie vor einem regelmäßigen Rhythmus folgt. Trotz neuer Ungewissheiten ist der eigene Lebensort weiterhin vorhanden. Was auch immer in Berlin, in Washington oder im Iran und in Nordkorea geschieht, man muss noch immer den Müll raus bringen und einkaufen gehen. Man trifft andere Menschen, liebt, lacht und spielt. Die Stadt bietet vielfältige Möglichkeiten der Zerstreuung, es gibt für die meisten Menschen keine praktische Notwendigkeit, sich mit Medien- oder Gesellschaftstheorie zu beschäftigen.

In einem Meinungsbeitrag zu einer scheinbar veränderten Zeitwahrnehmung seit Donald Trump kommt Alan Burdick in der New York Times zum Schluss, dass man den nächsten drei Jahren von Trumps Präsidentschaft einfach nicht so viel Aufmerksamkeit widmen sollte. Würde man sich der konkreten Arbeit vor einem zuwenden, anstatt die Tage zu zählen, dann verginge die Zeit schneller6 - Aushalten des großen Ungewissen durch Konzentration auf das eigene kleine Hier und Jetzt.

Nun ist der Rückzug ins Lokale zwar ein Narrativ, das in Bezug auf gesellschaftliche Ungewissheit öfter bemüht wird, aber wie oben erwähnt ist Rückzug hier nicht gemeint. Es geht mir nicht darum, der globalen Gesellschaft auszuweichen, indem man sich in ein statisch gedachtes Heimatgefühl zurückzieht, sondern um die Frage, ob ein dynamisches Lokales, insbesondere die lebendige Stadt7, stabilisierender Ausgangspunkt sein kann, um einen klareren Blick auf vorhandene oder eingebildete globale Ungewissheiten zu gewinnen. Kann die Stadt Kontext für die Rezeption von Medien sein, die Ungewissheiten sowohl verbreiten als auch selbst repräsentieren?

Um darüber nachzudenken, fasse ich in diesem Teil der Essay-Reihe zunächst einige (wenige) Grundideen der Neuen Phänomenologie zusammen. Diese erprobe ich anschließend an Beobachtungen von "Stadt" am Beispiel Magdeburg - einer Stadt, in der ich seit drei Jahren lebe und die zahlreiche Widersprüche vereint. Die Gedanken zur Leiblichkeit der Stadt verknüpfe ich am Ende mit Beobachtungen zur Rezeption von Massenmedien aus den vorigen Essay-Teilen. Das baue ich im nächsten Teil der Reihe aus, um dem Ideal eines dynamischen Lokalen nachzuspüren.