"Wir werden wahrscheinlich eine neue Führung in Madrid brauchen"

Jordi Solé i Ferrando. Bild: Sinn Féin. Lizenz: CC BY 2.0

Der katalanische EU-Abgeordnete Jordi Solé i Ferrando hält den spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy für zu schwach, um einen Ausweg aus dem Katalonienkonflikt zu finden, fürchtet aber einen Neuwahlerfolg der Ciudadanos

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Jordi Solé i Ferrando sitzt seit Januar 2017 für die Esquerra Republicana de Catalunya (ERC) im Europaparlament und in den Ausschüssen für Auswärtige Angelegenheiten und den Haushalt. Seine Partei ist Mitglied der EFA-Fraktion, der Europäischen Freien Allianz, die am letzten Wochenende in Landshut ihre Generalversammlung abhielt (vgl. "Katalonien ist eine europäische Angelegenheit").

Herr Solé i Ferrando, Sie sitzen für die ERC im Europaparlament, die aktuell nicht Teil von Carles Puigdemonts Wahlplattform ist. Können sie uns etwas über die Unterschiede der verschiedenen Parteien in Katalonien erzählen?

Jordi Solé i Ferrando: Es stimmt, wir sind nicht Teil derselben Liste, aber wir waren zusammen in der letzten Regierung. Derjenigen, die von der spanischen Regierung abgesetzt wurde. Illegalerweise, aus unserer Sicht. Die Esquerra Republicana de Catalunya ist die älteste Partei in Katalonien, sie wurde 1931 als fortschrittliche Plattform gegründet. Wir sind eine der wenigen linken Parteien in Europa, die keinen marxistischen oder kommunistischen Ursprung haben. Wir haben keine solchen Wurzeln, die bei anderen linken Parteien üblich sind.

Wir waren immer eine Plattform für fortschrittlicher Bürger unterschiedlicher Herkunft, die für Fortschritt, Offenheit, soziale Gerechtigkeit und die Selbstbestimmung Kataloniens kämpften. Deshalb platzieren wir uns im politischen Spektrum Kataloniens mitte-links, während Herrn Puigdemonts Liste mitte-rechts ist. Es gibt also Unterschiede in den Ideologien, aber auch Unterschiede in der Entstehung: Herrn Puigedemonts Liste ist neu, sie entstand aus der Convergència Democràtica, die jetzt Partit Demòcrata Europeu heißt. Wir sind eine alte Organisation.

War die ERC während der Franco-Zeit verboten?

Jordi Solé i Ferrando: Selbstverständlich. Traurigerweise ist unsere Geschichte von Repression geprägt. Viele unserer Mitglieder gingen nach dem Bürgerkrieg ins Exil. Viele wurden getötet. Sowohl während des Krieges als auch nach dem Krieg. Und jetzt, 2018, leiden wir wieder. Der Präsident unserer Partei, Herr Junqueras, sitzt jetzt seit fünf Monaten im Gefängnis und der Generalsekretär ist im Exil in der Schweiz. Es ist eine Schande, dass heute der Vorsitzende einer Partei mit tiefen demokratischen Überzeugungen im Gefängnis sitzt.

Carles Puigdemont sagte nach seiner Haftentlassung, dass eine Unabhängigkeit Kataloniens nicht die einzige Lösung ist, dass er einen Dialog will. Wie ist ihre Position dazu?

Jordi Solé i Ferrando: Wir fordern so einen Dialog bereits seit langer Zeit. Wir haben die spanische Regierung inzwischen 18 Mal zu Gesprächen aufgefordert. Wir waren immer offen für einen Dialog und wir sind es immer noch, obwohl unsere Führer im Gefängnis und im Exil sind. Aber die spanische Regierung weist unsere Dialogangebote systematisch zurück, obwohl wir keine Vorbedingungen stellen.

Die Selbstbestimmung ist unser Vorschlag. Wir wollen die Mittel der Demokratie nutzen, um über unsere politische Zukunft zu entscheiden. Unser Projekt ist eine katalanische Republik, die zu Europa gehört. Was Herr Rajoy und die spanischen Parteien mit Katalonien vorhaben, wissen wir nicht - abgesehen von dem, was wir jetzt gerade erleben: Ein antidemokratischer Weg, Repression, "Nein" zu allem, eine Verweigerung von Gesprächen mit Parteien, die eine Unabhängigkeit wollen.

Dialog ist aber die Basis für die Lösung jedes politischen Konflikts. Auch dieser Konflikt kann nur politisch gelöst werden. Nicht mit Richtern, nicht mit Repression.

Separatisten, Autonomisten, Regionalisten (18 Bilder)

Alle Fotos: Claus Jahnel

"Von den Sozialdemokraten sind wir sehr enttäuscht"

Ist eine Lösung mit Rajoy möglich? Oder muss es dazu eine andere Zentralregierung in Madrid geben?

Jordi Solé i Ferrando: Wissen Sie, Rajoy ist jetzt in einer sehr geschwächten Position. Seine Volkspartei muss viele Gerichtsprozesse führen. Seine Regierung hat es nicht einmal geschafft, den Haushalt für dieses Jahr durch das Parlament zu bringen. Und jeden Tag kommen neue Probleme und neue Skandale dazu. Politisch und intellektuell gesehen war Rajoy immer ein schwacher Führer. Nun ist auch sein Rückhalt schwach. In Umfragen gehen die Werte für die Volkspartei zurück. Aufgrund dieser Schwäche sehe ich Rajoy nicht als den Mann, mit dem sich eine Lösung, ein Ausweg, finden lässt. Dazu werden wir wahrscheinlich eine neue Führung in Madrid brauchen.

Also könnte eine Neuwahl des spanischen Zentralparlaments eine Lösung sein, die die Fronten öffnet?

Jordi Solé i Ferrando: Das wäre schön, aber ich bin da nicht so optimistisch, weil die Partei, deren Umfragewerte gerade stark zunehmen und die solche Wahlen gewinnen könnte, die Ciudadanos, sehr spanisch-nationalistisch ist. In mancherlei Hinsicht sogar mehr als Rajoy und seine Volkspartei. Wenn bei Neuwahlen eine Koalition der Ciudadanos mit der Volkspartei herauskommt, mit den Ciudadanos als stärkerer Kraft, dann glaube ich nicht, dass sich die Situation zum Guten wenden wird. Denn die Verfassungsänderungen die dann drohen, würden Spanien noch mehr zu einem Zentralstaat machen.

Von den Sozialdemokraten sind wir sehr enttäuscht. Sie unterstützen Rajoy in der Katalonienfrage zu hundert Prozent. Wenn sie sich nicht grundlegend ändern, sehe ich nicht, wie sie zu einer Lösung des Konflikts beitragen könnten.

"Junckers Kommission war bisher eine große Enttäuschung"

Was könnte die EU, was könnte Brüssel unternehmen, um zu helfen, den Konflikt zu lösen?

Jordi Solé i Ferrando: Es ist ja ein europäischer Konflikt, kein spanischer. Das war er nie. Das wird jetzt wahrscheinlich klarer, da jetzt verschiedene Justizsysteme in verschiedenen Ländern involviert sind. Inzwischen interessiert sich auch die Öffentlichkeit in anderen Ländern stärker für das, was in Katalonien passiert. Es ist eine europäische Angelegenheit und eine politische Angelegenheit. Deshalb sollte die EU vermitteln. Besonders die EU-Kommission. Sie sollte die beiden Parteien an einen Tisch bringen.

Aber Junckers Kommission war bisher eine große Enttäuschung. Sie sah nur weg, als unsere Leute von spanischen Polizisten geschlagen wurden. Als man unsere Politiker ins Gefängnis stecke. Obwohl hier Grundrechte auf dem Spiel stehen. Ob Katalonien unabhängig wird, ist unsere Sache. Aber der Schutz dieser Grundrechte, dieser grundlegenden europäischen Werte, ist eine europäische Angelegenheit. Deshalb brauchen wir eine Reaktion aus Europa, aus der EU.

Letzte Frage: Steht die gelbe Schleife, die sie und viele andere Teilnehmer der EFA-Generalversammlung tragen, für die Unabhängigkeit Kataloniens?

Jordi Solé i Ferrando: Nicht wirklich. Die gelbe Schleife tragen wir aus Solidarität mit unseren Politikern im Gefängnis und im Exil. Und aus Solidarität mit ihren Familien.