Anti-Aufklärung? Kriegstechnologie?

Anmerkungen zu blinden Flecken im Narrativ der Kybernetik

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Solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird.

Martin Walser

"Das Menschenbild des Silicon Valley ist das der Kybernetik, nicht das der Aufklärung", äußerte der Philosoph Richard David Precht am 16.12.2017 in einem Interview des Magazins Focus anlässlich einer Buchveröffentlichung. Auf die Rückfrage des Interviewers, was das denn bedeute, erläuterte er, dass "die Aufklärung … den Menschen als Individuum" betrachte, sie seinen Wunsch des Gebrauchs der Freiheit respektiere und ihn auffordere, "die eigene Urteilskraft zu schärfen, damit er als mündiger Bürger zur Entwicklung der Gesellschaft beitragen" könne. Allerdings, so führte Precht weiter aus, müsse "dieser Bürger natürlich auch eine Struktur in der Gesellschaft vorfinden, die es ihm ermöglicht, sich mit seinen individuellen Vorstellungen an ihr zu beteiligen."

Grundlegend anders sei hingegen das Menschenbild der Kybernetik. Es gehe laut Precht davon aus, "dass sich der Mensch seiner Umwelt anpasst":

Was Lust auslöst, das findet der Mensch gut, und was Unlust auslöst, findet er schlecht. Wenn ich also das Verhalten der Menschen verändern will, dann muss ich - wie bei Tierversuchen im Labor - einfach ihre Umweltbedingungen verändern, indem gezielt andere Lust- bzw. Erfolgsreize gesetzt werden, gewinne ich Einfluss auf das Verhalten der Leute, ohne Rücksicht auf Vorstellungen von individueller Freiheit, Urteilskraft oder Mündigkeit zu nehmen.

Richard David Precht

Der Physiker und Kybernetiker Heinz von Foerster, damals Leiter eines führenden Kybernetik-Instituts, des Biological Computer Lab (BCL) an der University of Illinois, Urbana-Champaign, äußerte sich in seinem Grundsatzreferat "Die Verantwortung des Experten"1 auf der Herbsttagung der American Society for Cybernetics am 19.12.1971 wie folgt:

Der Großteil unserer institutionalisierten Erziehungsbemühungen hat zum Ziel, unsere Kinder zu trivialisieren. … Da unser Erziehungssystem daraufhin angelegt ist, berechenbare Staatsbürger zu erzeugen, besteht sein Zweck darin, alle jene ärgerlichen inneren Zustände auszuschalten, die Unberechenbarkeit und Kreativität ermöglichen. Dies zeigt sich am deutlichsten in unserer Methode des Prüfens, die nur Fragen zulässt, auf die die Antworten bereits bekannt (oder definiert) sind, und die folglich vom Schüler auswendig gelernt werden müssen. Ich möchte diese Fragen als "illegitime Fragen" bezeichnen.

Heinz von Foerster

Schon beim bloßen Überfliegen der beiden Aussagen fällt auf, dass hier etwas ganz und gar nicht passen will. Der Philosoph deutet Kybernetik als Anpassung und projiziert sie sogleich als Menschenbild auf das Silicon Valley, der Kybernetiker hingegen spricht sich für Unberechenbarkeit und Kreativität aus, mehr noch, später entwickelt er im Nachgang zum kategorischen Imperativ des Aufklärers Kant einen (kybern-)ethischen Imperativ: "Handle stets so, dass die Zahl der Wahlmöglichkeiten größer wird."

Zudem steht von Foersters Imperativ in krassem Gegensatz zu algorithmischen Praktiken des Silicon Valley, die uns Nutzer vor Entscheidungen und damit Wahlmöglichkeiten "schützen" wollen. Die Tatsache, dass Facebook einerseits zu verhindern sucht, dass wir Nippel zu sehen bekommen, und uns andererseits über Manipulationen der Timelines und Newsfeeds Kommunikations- und Informationsoptionen vorenthält und uns Klick-Entscheidungen abnehmen will, ist hierfür nur ein besonders griffiges Beispiel. Die Enthüllungen um Cambridge Analytica gehören in denselben Kontext.

Die Kybernetik, Ideologie des Valley und Kampfbegriff in der Debatte um Digitalisierung und Bildung

Precht allerdings steht mit seiner Interpretation der Kybernetik als Silicon Valley-Ideologie nicht allein. In den letzten Jahren wurde der Term "Kybernetik", der einen längst totgeglaubten transdisziplinären Wissenschaftsansatz in den 1940er bis 1970er-Jahren bezeichnet, als ideologischer Kampfbegriff aufgeladen und hielt sogar Einzug in die politischen Debatten. Das zwar nicht an vorderster Front, jedoch immerhin in Anhörungen in deutschen Landesparlamenten, insbesondere im Kontext Digitalisierung und Schule sowie in mehreren einschlägigen Buchpublikationen.

Der Bildungswissenschaftler Matthias Burchardt (Universität zu Köln) und der Mediengestalter und -theoretiker Ralf Lankau (Hochschule Offenburg) sind gefragte Experten in solchen Anhörungen. Gleichzeitig sind sie Gründungsmitglieder des Bündnisses für humane Bildung, das in den Kontexten frühkindliche Bildung, Schule und Hochschule den Digitalisierungsbemühungen gegenüber aus einer Haltung der Sorge heraus sehr kritische und teilweise durchaus bedenkenswerte Positionen vertritt, sofern man von den Interpretationen zur Kybernetik einmal absieht. Die negativen Konnotationen des Begriffs werden meist im Begründungsteil der eigenen Positionen genutzt.

So äußerte sich Burchardt in einer Anhörung des Landtages von NRW am 04.05.2016: "Das Schlagwort Digitalisierung fasst eigentlich viel von dem zusammen, was im Grunde ein ganz alter Hut ist. Spätestens seit den 1940er Jahren und den Macy-Konferenzen in den USA versucht man die Kriegstechnologie der Kybernetik nutzbar zu machen zur Steuerung von offenen Gesellschaften."

Zur Kriegstechnologie wird hier, was andernorts als Zweig der Wissenschaften, als ein Ansatz zu einer neuen wissenschaftlichen Disziplin firmierte. Der Vollständigkeit halber muss angemerkt werden, dass die die zehn Konferenzen 1946 - 1953 finanzierende Josiah Macy-Foundation sich zur Förderung der Ausbildung in medizinischen Berufen einsetzt.

In der schriftlichen Stellungnahme Burchardts zur selben Anhörung liest sich seine Kritik wie folgt:

Das kybernetische Instrumentarium der Informationserhebung, Kontrolle und Steuerung von sozialen Systemen beflügelt schon seit Beginn die Allmachtsphantasien postdemokratischer Regierungskonzepte (Vgl. z.B. Wiener 1952 oder Tiqqun 2007). Das technokratische Regime der Steuerung unterwirft die soziale Eigenlogik der gesellschaftlichen Felder prozedural unter die Rationalität des informationellen Regelkreises und transformiert dadurch elementar-humane Lebensformen zu technomorphen Funktionsgebilden.

Matthias Burchardt

Burchardt bezieht sich hier neben dem Mitbegründer der Kybernetik und erwiesenen Pazifisten Norbert Wiener auf die 2007 veröffentlichte Schrift "Kybernetik und Revolte" [6] des anonymen französischen Autorenkollektivs Tiqqun, das eher als eine Art Manifest, als ideologisch aufgeladene polemische Kampfschrift gelesen werden kann denn als historisch-wissenschaftliche Aufarbeitung. Dies lässt sich auch unschwer daran ablesen, dass das Tiqqun-Pamphlet mit Ausnahme eines Zitats von Norbert Wiener nicht eine einzige kybernetische Primärquelle zitiert. Wie auch, denn diese Quellen sind alles andere als geeignet, die Tiqqun-Interpretation zu stützen.

Albert Müller, Historiker an der Universität Wien, profunder Kenner der Kybernetik und ihrer Geschichte sowie Betreuer von gleich drei wissenschaftlichen Nachlässen namhafter Kybernetiker, Heinz von Foerster, Gordon Pask und Ranulph Glanville, bezeichnet dieses Schriftstück als eine "paranoid anmutende Polemik. Immerhin" werde, so Müller, "hier - sinngemäß - geäußert, Kybernetik hätte sich des modernen Kapitalismus bemächtigt und würde nun die Welt regieren."2 Bezieht sich also ein Autor auf diese Quelle, so wie Burchardt im obigen Kontext, so deutet das eher auf eine geschmackliche Präferenz denn auf wissenschaftlich-historische Akkuratesse hin.

In einschlägigen Publikationen US-amerikanischer Kritiker des Silicon Valley, der kalifornischen Ideologie, hingegen gelingt es sehr erfolgreich, nicht fündig zu werden. Etwa in Franklin Foers "World without Mind", das u.a. die Ideengeschichte des Valley sehr kritisch reflektiert oder in "The Internet of Us - Knowing More & Understanding Less in the Age of Big Data" von Michael Patrick Lynch findet sich nicht ein einziges Mal der Begriff "cybernetics", dafür aber das Präfix "cyber-" in allen möglichen Kompositabildungen. Das wirft Fragen auf. Das "Menschenbild der Kybernetik", eine oder gar die Ideologie des Valley?

Wohlgemerkt, es gibt in den USA eine kleine wissenschaftliche Gesellschaft namens "American Society for Cybernetics" (ASC). Einmal umgekehrt gefragt: Wenn Cybernetics doch so einflussreich sein, den Kapitalismus und die neoliberale Ideologie des Valley prägen soll, warum sind US-Autoren dann so blind, dies nicht zu bemerken und zu benennen? Oder sind nur wir Europäer zu dieser tieferen Einsicht prädestiniert?

Folgen wir Ralf Lankau, dann "degradieren Kybernetiker den Menschen zu einer Fehlkonstruktion, der sich den Rechnern unterzuordnen habe, […] und für die Singularisten, Transhumanisten und Kybernetiker sind Maschinen ohnehin die "besseren Menschen", die den fehlerhaften "homo sapiens" besser früher als später ersetzen". 3

Wer hierzu Günther Anders' Satz "Der Mensch wird nebengeschichtlich" assoziiert, liegt nicht ganz falsch. Ein erstes Indiz für eine genuin europäische Spur der Interpretation.

In einer Stellungnahme für den hessischen Landtag zum Thema Digitalisierung und schulische Bildung schreibt Lankau, dass "Digitalisierung und Neue Lernkultur" ... "zwei Techniken der neoliberalen und marktradikalen Vereinzelung und Isolierung von Menschen" seien, "um sie einfacher gemäß der jeweiligen Interessen der Anbieter von (Lern-)Software manipulieren und steuern zu können". Dahinter steckten "die reaktivierten Theorien der Kybernetik und des Behaviorismus, realisiert mit Hilfe von Digitaltechnik und Netzwerken", so Lankau sinngemäß.

Noch drastischer drückt er es in einer Buchpublikation4 aus:

Bis heute setzt das kybernetische Denken Kommunikation als Signalübertragung (bzw. Nachrichtenübermittlung) gleich mit Mensch und Gesellschaft als steuerbaren Maschinen. Es findet sich in Kommunikationsmodellen der Nachrichtentechniker Shannon und Weaver ebenso wie bei den Behavioristen mit ihren Input-Output-Systemen (I-O-S) oder dem "programmierten Lernen", das unterstellt, man könne das Lernen von Menschen programmieren und steuern wie Maschinen.

Ralf Lankau

Die Kybernetik soll also ein deterministisches Menschenbild vertreten, mit dem Behaviorismus unter einer Decke stecken und das Ziel haben, ganze Gesellschaften zu steuern und zu manipulieren.

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