Mehr Migranten aus Tunesien

Kerkenna, Tunesien. Bild: Elcèd77 / CC BY-SA 3.0

Von der neuen Regierung in Italien kommen harte Vorwürfe gegen das nordafrikanische Land, dessen Kontrollen zu lax seien

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Tunesien sei ein demokratisches und freies Land, das gegenwärtig aber "keine Gentlemen exportiert, "sondern oft und bereitwillig Zuchthäusler", sagte Matteo Salvini. Im Orginal lautet der Ausdruck für die Zuchthäusler "galeotti". Das ist ein harter Begriff, der in der soften Form an die Panzerknacker denken lässt und auf jeden Fall an verurteilte Verbrecher

Die tunesische Regierung ist verärgert. Das Außenministerium in Tunis bestellte den italienischen Botschafter zum Gespräch ein. Der Öffentlichkeit teilte man das Erstaunen darüber mit, dass die Zusammenarbeit der beiden Länder bei der Migrantenpolitik nicht gespiegelt würde und sich hier eine "unvollständige Kenntnis der vielschichtigen Zusammenarbeit zwischen den tunesischen und italienischen Diensten" zeige.

Salvini: Die Pflicht, zu provozieren

Salvini wollte mit seiner Äußerung auch auf anderes hinaus. Er hat die Pflicht zu provozieren, um allen zu zeigen, dass es mit ihm anders ist. Der neue Innenminister legt Wert darauf, sich von den bisher gepflegten Sprachregelungen, den politischen Konventionen und Gewohnheiten, die beim Thema Migration dominieren, zu unterscheiden.

Er will weg von der Konsens-Diplomatie à la Merkel oder Macron, mit ihren auf Vertröstungen ausgerichteten dünnen Zusagen, weg von dem "Gerede", das aus seiner Sicht, die er zur italienischen Sicht erklärt, zu nichts geführt hat. Salvini verschärft den Ton und teilt mit, dass Orban ein guter Freund ist, mit dem er die EU verändern will. Das fängt mit der Deutungshoheit bei den Fragen zur Migration an.

Tunesien hat die Kontrolle verloren, heißt der andere Teil der Salvini-Botschaft. Und die Schwierigkeit für diejenigen, die sich politisch einen ganz anderen Kurs als den von Salvini und der rechten Lega wünschen, besteht darin, anzuerkennen, dass er mit seinen Provokationen einen neuralgischen Punkt trifft.

Die Tragödie und eine Tendenz

Dass sich Salvini am Wochenende bei seinem Besuch auf Sizilien zu Tunesiens Migranten äußerte, hatte mit einer Unglücksmeldung zu tun. Über 100 Menschen ertranken am Samstag bei dem Versuch, von der tunesischen Kerkenna-Inselgruppe nach Lampedusa zu gelangen. Das machte internationale Schlagzeilen.

Le Monde rückte, die Tragöde in den Zusammenhang einer Tendenz, die seit einigen Monaten beobachtet werde: Dass immer mehr Migranten aus Tunesien nach Italien wollen. Mit dem Nahen des Sommers werde sich dies verstärken, wird ein Bewohner der Kerkenna-Inseln zitiert. Dort sei die Zahl der Abreisewilligen Migranten so groß, dass sie, anders als zuvor, mittlerweile das Bild mitprägen.

Die absoluten Zahlen sind allerdings nicht überwältigend, wenn man die Hunderttausende zum Maßstab nimmt, die von den "Migrationskritikern" stets menetekelhaft erwähnt werden, wenn es um die Gänsehaut-Erzählung vom "großen Austausch", Afrika und Italien geht. Aber es zeigt sich ein Trend.

2017, berichtet Le Monde, kamen 6.150 Tunesier auf illegale Weise nach Italien - "7,5 Mal so viel wie im Vorjahr". Die meisten, nämlich 5 900, seien Tunesier, die aus Tunesien abreisen; der Rest legte von der libyschen Küste ab und weniger als 10 Prozent würden aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara kommen.

Wenn man 3.178 Migranten hinzuzählt, die im Meer von der tunesischen Küstenwache aufgegriffen wurden, dann ergeben sich für das Jahr 2017 insgesamt 9.078 erfolgreiche oder gescheiterte Versuch aus Tunesien abzureisen. Dieser Trend ist ohne Vorläufer - seit der Welle der Abreisen im Frühling 2011. Da waren es 30.000. Der damalige außergewöhnliche Exodus wurde die durch die große Sicherheitslücke ermöglicht, die dem Fall des Regimes von Ben Ali folgte.

Le Monde

Soziale Not und Arbeitslosigkeit im Hinterland Tunesiens

Von diesen Zahlen, die zum Bootsunglück am Wochenende als Kontext hervorgeholt wurden, berichtete Le Monde schon im April. Die Rede vom Trend der steigenden Migrationszahlen aus Tunesien war da schon Thema. Erklärt wurde der Trend mit sozialer Not und Arbeitslosigkeit im Hinterland Tunesiens.

Geschildert wird die aussichtslose Situation in Redeyef an der Grenze zu Algerien, woher ein großer Teil der tunesischen Migranten stamme. Die Zeitung erwähnt den gängigen arabischen Begriff für die Migration "haraga", was mit "verbrennen" übersetzt wird. Umgerechnet 930 Euro koste die Überfahrt. Die Ausweispapiere würden oft verbrannt, um die Rückführung zu erschweren.

Daraus ergeben sich große Schwierigkeiten, mit der die Aufnahmeländer zu tun haben, die das Asylgesuch nicht anerkennen und nun wie Deutschland, Frankreich und Italien verstärkt auf Rückführungen drängen. Hier hängt vieles davon ab, wie gut tunesische und europäische Behörden zusammenarbeiten. Aussagen wie die von Matteo Salvini machen dummen Krach für die Galerie, stellen für praktische Lösungen aber Prestigehindernisse auf.

Wie der Fall des IS-Terroristen Anis Amri, der aus Tunesien über Italien nach Deutschland kam, vor Augen führte, ist die Zusammenarbeit bei Rückführungen ohnehin schwierig - wobei, wie der deutsche Entwicklungsminister Müller Anfang Januar 2017 aus seiner praktischen Erfahrung heraus deutlich zu berichten wusste, "die Maghreb-Staaten mehr Kooperationsbereitschaft zeigen, als dies die Berichterstattung nahelegt".