Ankerzentren

Bild: Pixaby/CC0

Eine Metapher täuscht Hoffnung für die Hoffnungslosen vor, verdeckt zugleich latenten Rassismus und gezielte Verelendung

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Hoffnung ist der Anker der Welt, wird den Bantu nachgesagt. Da könnte man meinen, liegt die Anker-Metapher nicht ganz falsch: Wer auf seiner Flucht, oft unter Einsatz seines Lebens über das Meer, in Deutschland anlangt, so möchte man interpretieren, soll hier eine Anlaufstelle finden, einen Hafen der Hoffnung.

Steht das "Schiff" (oder wohl besser: Boot) für Aufbruch, Horizont, Gefahr und künftige Lebensgestaltung, so findet sich im Bild vom Anker das Stadium von Heimkehr, Halt und Festigkeit. "Ankerzentrum", Produkt einer kruden Polit-Rhetorik, soll im Sprachraum wohl genau das vermitteln.

Sprachraum versus Handlungsraum

Doch in der Wirklichkeit dürfte sich die so unterhandelte Hoffnung als Falle erweisen. Was da sprachlich an die Symbolik des Volksmundes (an den "gesunden Menschenverstand") appelliert, ist bei näherem Hinsehen nur eine Ausgeburt jahrelangen politischen Hickhacks inklusive anhaltend toxischer Gedankenunterströmung - dies auch unter dem Druck und der Propaganda von rechts - aber leider nicht Ergebnis ausgewogener Politik. Der kleinliche Kompromiss beim Thema Familiennachzug für subsidiär geschützte Flüchtlinge markiert hier schon die Marschroute.

Das Thema wurde wie gewohnt rhetorisch munter offeriert - und ergibt doch nur eine staatsklug anlackierte Mogelpackung. Horst Seehofer erweist sich dabei einmal mehr als populistischer Abenteurer. Seine Ab- und Ausgrenzungspolitik, in Wort und Tat kaum verhohlen gegen Migranten resp. gegen "abweichende Lebensweisen" gerichtet ("Der Islam gehört nicht zu Deutschland"), gerät in der Anker-Metapher endgültig zu schönfärberischer Propaganda; in der Praxis geht der Innenminister ein gefährliches Spiel ein.

Massenunterkünfte, sozialer Stress, gezielte Verelendung

Die bewusst gewählte Metaphorik, wie gesagt - eine sprachliche Mogelei: Sie täuscht nach außen Hoffnung für die Hoffnungslosen vor, verdeckt zugleich latenten Rassismus und eine in Kauf genommene Verelendung der Betroffenen. Von gezielter "Verelendung" (sic) spricht etwa Werner Schiffauer, Vorsitzender des Rats für Migration, einem bundesweiten Zusammenschluss von Forschern. Vor seiner Emeritierung (2017) war Schiffauer Professor für Vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie in Frankfurt/Oder.

Im Interview prognostiziert er entsprechend sachlich und nüchtern für die Ankerzentren steigende Depressionen, diffuse Aggression unter den Flüchtlingen und im Endeffekt prekäre Formen von Solidarisierung (wie etwa jüngst in Ellwangen). "Hochgradigen Stress" würden solche Zentren mit einer angedachten Belegung von bis zu 1.500 Menschen ("Massenunterkünfte") erzeugen, das belegten unterschiedliche Studien am Lehrstuhl für Kulturanthropologie.

Die Idee zu Ankerzentren, so Schiffauer, sei denn auch in erster Linie geboren aus Sicherheitsdenken - was fehlt, ist seines Erachtens nach politischer Gestaltungswille.

Derzeit ist ein Großteil der Migrationspolitik im Innenministerium angesiedelt, und damit dominiert automatisch der Sicherheitsaspekt. Ein Integrationsministerium [würde sich] auch als Anwalt der Migranten sehen, und das wäre eine echte Chance für eine andere Politik …

Werner Schiffauer: "Es geht hier um Abschreckung", Interview in: Kölner Stadt-Anzeiger (KStA) vom 7. Juni 2018

Wie Politik zur Religion mutiert

Oder eine Chance überhaupt für Politik? Was Seehofers Ministerium gerade verabreicht, ist viel eher geistiger Fusel, der auf scheinbar angenehme Weise das öffentliche Bewusstsein betäubt. Hier wird also doppelt gelogen, zugleich der latente Rassismus, der mit der von der CSU geforderten Abweisung von Migranten an der Grenze noch offener wurde, samt Abschreckungsgebaren und systematisierter Verelendung übertüncht: "Hoffnung" für die einen als Falle, in der sozialer Super-Stress lauert und im Zweifel zum Schluss die Abschiebung wartet, für die andern als "süße, einschläfernde Tropfen" (Heinrich Heine), mit denen wir - als die besser gestellten Sklaven eines aus den Fugen geratenen Kapitals - unsere Gewissensbisse drosseln.

Der scharfzüngige Rheinländer (1797-1856) hilft bei der Aufklärung, wie so was funktioniert. Heine veröffentlichte eine Denkschrift für Ludwig Börne, in der er sarkastisch wird und jenes "geistige Opium" riecht, "Tropfen (von) Liebe, Hoffnung und Glauben". Die werden dem Volk a.D. 1840 zwar hauptsächlich von der Religion verabreicht, aber in unsrem Fall genauso passend von der Politik: dieselbe Taktik, derselbe (gefällige) Effekt. Söder macht es mit seinem Kreuzerlass unterdes vor, wie die Politik selbst zur Religion mutiert: Deren Symbolhandeln ist Teil derselben strukturell veranschlagten Gewalt, die in Bildern zugleich beschönigt und verschleiert.

"Children of Men" oder: Die Bedeutung der Wertedistanz

So erinnert die abgeschmackte Anker-Metapher (anstelle von humaner Politik) an Orwells "Ministerium der Liebe" (das eisern Gesetz und Ordnung aufrecht erhält) oder an Cuaróns apokalyptischen Science-Fiction-Streifen "Children of Men" (Premiere 2006), ein pessimistisches Zukunftsgemälde, in dem ausländische Flüchtlinge rigoros verfolgt, eingesperrt und in ghettoartige Aufnahmelager abgeschoben werden. Zugleich betreibt solch metaphorische Politik unter der Hand weiter die Diskriminierung derjenigen, die in der Realität von heute an Europas Türen klopfen - und sich unversehens in unmenschlichen Lagern wiederfinden.

Dazu passt ein Diskussionspapier des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), das gerade erschienen ist ("Ethnische Hierarchien in der Bewerberauswahl: Ein Feldexperiment zu den Ursachen von Arbeitsmarktdiskriminierung"). Es zeigt, wie es Flüchtlingen bei der Jobsuche ergeht: Bewerberinnen und Bewerber aus Afrika oder muslimischen Ländern erleben "erhebliche Nachteile" und erfahren "signifikante Diskriminierung", dabei spielt auch das phänotypische Erscheinungsbild (sprich: Bewerbungsfoto) eine Rolle. Arbeitgeber, so das Ergebnis der Studie, bevorzugen eine möglichst geringe "Wertedistanz", was heißt: Sie mögen die am liebsten, die ihnen am ähnlichsten sind.